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Carl Amery, Joschka Fischer, Heiner Geißler, Wolfgang Kraushaar, Elisabeth Lenk, Patrik von zur Mühlen, Jens Reich und Michael Rohrwasser beschäftigen sich mit dem Verständnis von Intellektuellen zu Utopien, die in diesem Jahrhundert mit Macht und Terror mißbraucht worden sind. Sie diskutieren kontrovers drei Themenkreise, die seit dem Ende der sozialistischen Regime die öffentlichen Debatten beherrschen: den allgemeinen Verlust von Orientierungen, die Rolle der Intellektuellen in der Nähe der Macht und das von vielen vorschnell erklärte Ende der Utopien. Die Autoren attackieren festgefahrene…mehr

Produktbeschreibung
Carl Amery, Joschka Fischer, Heiner Geißler, Wolfgang Kraushaar, Elisabeth Lenk, Patrik von zur Mühlen, Jens Reich und Michael Rohrwasser beschäftigen sich mit dem Verständnis von Intellektuellen zu Utopien, die in diesem Jahrhundert mit Macht und Terror mißbraucht worden sind. Sie diskutieren kontrovers drei Themenkreise, die seit dem Ende der sozialistischen Regime die öffentlichen Debatten beherrschen: den allgemeinen Verlust von Orientierungen, die Rolle der Intellektuellen in der Nähe der Macht und das von vielen vorschnell erklärte Ende der Utopien. Die Autoren attackieren festgefahrene Denkgewohnheiten und stellen offene Fragen an alte Gewißheiten.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.08.1997

Parasiten der Macht
Über den Verrat von Intellektuellen im 20. Jahrhundert

Werner von Bergen, Walter H. Pehle (Herausgeber): Denken im Zwiespalt. Über den Verrat von Intellektuellen im 20. Jahrhundert. 3. Frankfurter Historik-Vorlesungen. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1996. 143 Seiten, 18,90 Mark.

"Ducunt fata volentem, nolentem trahunt", notiert der Elberfelder Redakteur Goebbels am 15. September 1924 in sein Tagebuch. Nach Jahren der Arbeits- und Ziellosigkeit hatte der in Heidelberg promovierte Gundolf-Schüler soeben einen "festen Pol" gefunden. "Wir sind Fackelträger einer neuen Idee." Dann setzt er trotzig hinzu, er werde "ein volens sein", einer, der was will. Denn, wie gesagt, "den Wollenden geleitet das Schicksal, die anderen läßt es im Stich". Wer weiter nichts vorhat, findet das Glück, versinkt im Pech, macht aber kein Schicksal durch. Dieses ist etwas Eigenes. Es paßt zu seinem Träger, trifft ihn nicht unzufällig, wächst gewollt oder blindlings aus seiner Natur. Auf den genauen Inhalt des fatalen Wollens kommt es Goebbels zufolge nicht an. Wem Ziele verliehen seien, der sorge sich nicht mehr darum, welche! Eine Kritik der eigenen Ziele fällt schon logisch äußerst schwer. "Das hat gar nichts mit Wissen oder gar mit Bildung zu tun", schreibt Goebbels in seinem Roman "Michael". "Weltanschauung ist: Ich stehe an einem festen Punkt und betrachte unter einem ganz bestimmten Blickwinkel das Leben und die Welt." Der Standpunkt selbst ist dabei unsichtbar. Die Welt und das Leben sind ebenfalls schlecht zu erkennen, denn sie sind eine Projektion der festen Optik. Infolgedessen ist die intellektuelle Wahrnehmung stark von Irrtum bedroht, der aber zumeist erst auffällt, wenn die eingebildete Welt untergegangen ist und die Lebensvorstellungen nicht mehr so weitergehen.

Überall Opfer

Zweimal in diesem Jahrhundert stand der europäische Intellektuelle vor dem Ruin seiner ideologischen Systeme, und der erste Akt der Selbstvergewisserung ist es, einen neuen Standpunkt zu gewinnen, der den Spuk sichtbar macht, durch den man geirrlichtert ist. Intellektuelle sind anders als der Polizist oder der Reichsbahner, der relativ bruchlos weiterfahren oder gehorchen kann. Sie vergeben einander schwerer, nicht richtig zu wissen, was sie tun. Schießbefehl ist Schießbefehl, Fahrplan ist Fahrplan, aber zehn Jahre "Völkischer Beobachter" oder Ost-PEN sind mit dem Schwamm darüber nicht wegzuwischen. Um die Flucht zu decken, werden noch Wortgefechte um die Vergleichbarkeit der zwei menschenverschlingenden Sozialutopien geschlagen. Das dient dazu, die schicksalhafte Kontinuität des Irrtums abzumildern. Es ist in Deutschland begreiflicherweise honoriger, als Ernst Bloch die stalinistischen Massaker verklärt zu haben, als wenn Carl Schmitt die Röhm-Morde feiert. An was sich anlehnen als Philosoph, wenn nicht an realitätstüchtige Teufel, um den hakengekreuzten Beelzebub zu erledigen. Etwas Klügeres ist der militärischen Anti-Hitler-Koalition schließlich auch nicht eingefallen. Allerdings haben weder Churchill noch Eisenhower den Fortschrittsgedanken an den GULag geknüpft. Sie wollten ihn auch nicht globalisieren. Die Mächte benutzen einander als Instrumente, nicht als Ideale. Die Idealisierung der Menschenvernichtung ist das Metier der Ideologen.

Damit befaßte sich 1993 ein Intellektuellensymposion in Frankfurt, dessen Manuskripte nun gedruckt vorliegen. Die Vortragenden gehen mit ihrer Schicht so schonungslos ins Gericht, wie man es von Juristen, Klerikern, Pädagogen ebenfalls wünschte. Dort herrscht eitel Sturheit. Die Gewissensnot ist fest verstaut hinter dem Begehr dieser Stände, ihren Berufsweg fortzusetzen. Wer etwa Recht gesprochen hat in Sälen, die das freie rechtliche Gehör nicht kannten, hat die Autorität zu richten im Grunde verspielt. So redet er sich ein, daß vom Standpunkt der sozialistischen Legalität der Rechtsbrecher alles verteidigen mochte, was zu verteidigen war. Das sieht der BGH zu Karlsruhe weitestgehend ähnlich. Vom Standpunkt der Rassenreinheit ist Ausrottung auch nicht unmenschlich, sondern hygienisch. Goebbels hat sich dadurch vom Genuß der Matthäuspassion - mit Partitur - keineswegs abbringen lassen. Der Redebeitrag Heiner Geißlers stellt darum die liberale Standpunktlehre prinzipiell in Frage. Als christlicher Moralist läßt er eine Weltanschauung, die inhumane Durchsetzungsmittel duldet, nicht gelten. Dies impliziert denn eine Kritik der Kirchengeschichte wie der intellektuellen Moden seit der bürgerlichen Revolution. Die Befreier vom Aberglauben sind habituell blutig.

In einer als Kampf, sei es der Religionen, der Nationen, Klassen, Rassen oder Kulturen, gedeuteten Geschichte gelten seit jeher humane Regeln. Sie regeln den Umgang im Inneren eines Schutzraums. Außerhalb seiner Palisaden kreist der Feind, welcher die Stimme der Menschlichkeit nicht versteht. Er wird nach anderen Methoden traktiert; jenen, die er selbst einsetzt, einübt oder die zu seiner Niedertracht passen. Unter den Händen der also losgelassenen Berserker wiederum sieht ein jeder die Universalität der Menschenrechte ein, argumentiert Geißler. Das ist unwiderleglich. Nur landet er wieder bei einem Standpunkt, jenem des Opfers. Mit ihm solle sich der Intellektuelle endlich vereinen! Der Parasit der Macht wird Sprecher der Verfolgten. Das war er allerdings schon immer. Den Verfolgtenstatus zu imaginieren ist seine ureigene Kunst.

Opfer sind überall. Kaum einer, der sich nicht als Opfer von irgendwas und irgendwem ausweist. Die Position ist nobel und berechtigt zur Notwehr. Goebbels und die Seinen fühlten sich als Opfer der Entente und des Finanzjudentums. Für die Notwehr gibt es aber kein Gebot. Dem Opfer werden bei der Entledigung vom Peiniger wenig Skrupel abverlangt, denn es ist im Recht. Den Grad der Verblendung und Bestialität vermeintlicher Opfer schildert Jens Reich in seiner Skizze der Liquidierung des sowjetischen Kleinbauerntums 1932 bis 1933.

Die Opfer, die Kommissare der KPdSU, sind nicht Geschundene, sondern Schinder. Sie identifizieren sich indes mit den Erniedrigten und Beleidigten, dem Industrieproletariat. In seinem Namen beseitigten sie die Bedrohung seiner Kollektivwirtschaft durch privatwirtschaftende Kulaken. Diese sind auf Profit erpicht und sabotieren die unrentable Planversorgung der städtischen Gesellschaft. Zumindest führen sie es im Schilde, wie logisch in ihrem Klasseninteresse angelegt. Aus Vergeltung oder zur Prävention, es ist einerlei, machen die Pioniere der klassenlosen Gesellschaft die Ukraine kulakenrein. Die vorsätzlich und räuberisch dazu inszenierte Hungersnot übertrifft alles, was der Generalgouverneur Hans Frank zehn Jahre später in den polnischen Ghettos anrichtete. Die begleitende GPU-Deportation und Vernichtung durch Arbeit entspricht buchstäblich den später im Wannseeprotokoll anempfohlenen Methoden. Daran haben die dichtenden und philosophierenden Künder des Prinzips Hoffnung so wenig Anstoß genommen wie die Doctores juris bei der Wannseekonferenz. Entgeistert buchstabiert der Leser die von Reich zitierte Beichte eines so unerschrockenen Humanisten wie Lew Kopelew. Er war einer der Liquidatoren. Seine Generation habe millionenfache Menschenvernichtung hingenommen, befördert, gepriesen, Mitleid hinuntergewürgt, um des Triumphs des Kommunismus willen. Er war das sittliche Schutzgut; "nie verlor ich meinen Glauben". Das ist das Argument der Einsatzgruppenschützen. Die Befreiung der Menschheit von der Sklaverei des Weltimperialismus und des Weltjudentums legitimiert sich mit denselben Phrasen. Schädlingsbeseitigung, Welterlösung, Zukunftsglaube.

Krasser als seine Mitredner zeichnet Reich, gestützt auf die seit langem zugängliche Arbeit des amerikanischen Historikers Robert Conquest, das moralische Desaster der Vollstrecker, Verherrlicher oder Leugner des ukrainischen Genozids. Seine Historiographie hat die intellektuelle Linke abgestritten als Greuelpropaganda kalter Krieger. Wer läßt schon Wahrheiten an sich heran, welche die Identität und die Biographie zersetzen?

Der zumal Paradeintellektuellen eigene taktische Umgang mit der Realität ist in zwei Beiträgen von Wolfgang Kraushaar und Michael Rohrwasser illustriert. Je kreativer der Kopf, desto souveräner der Realitätsverlust. Es gehört einfach Talent dazu, Tatsachen als Illusion und Illusionen als Fakten vorzuführen. Dreist sind viele, Trickkünstler wenige. Die Verachtung, die Jean-P. Sartre den Zeugnissen von GULag-Opfern, oder die feige Nonchalance, die Brecht, Feuchtwanger und H. Mann dem Mord an Hunderten von Schriftstellerkollegen angedeihen ließen, betrübt nur. Daß der ehrliche KGB-Genickschuß den Zirkus bürgerlicher Rechtsgarantien übertrumpft, das gefällt nur im verwegen Brechtschen Jargon. Aber was hilft die Überheblichkeit angesichts von Geistern solchen Ranges? Was veranlaßte ausgerechnet sie zu einer so servilen Anpassung an eine so tollwütige Gewalt? Die Antwort ist dringlicher als die Feststellung.

Einige Gründe werden aus den Zeitumständen entwickelt. Auch das Genie hat eine Psychologie, doch nicht immer eine geniale. Die Linksintellektuellen miteinander hatten gegen den primitiven Hitler elend verloren. Je bedeutsamer sie waren, desto mehr. Er bewies politisches Geschick, und an ihnen nagte die Ohnmacht des Versagers. Sie waren entbehrlich für die Geschichte. Da lockte am Hofe Stalins eine historische Rolle. Seine tatarische Despotie war unterkellert mit einigen Mauerresten des deutschen Idealismus, wie Elisabeth Lenk spitz bemerkt. Die Welt sollte nach dieser Schule vernunftgerecht auf den Kopf gestellt werden. Ein Unternehmen, das einen brachialen Unternehmer braucht, der das Sozialexperiment in Schwung bringt. Der große Experimentator rief seinerseits die Intellektuellen zu "Ingenieuren der Seele" aus. Fortan brachen sie seelische Dämme, höhlten falsche Gewohnheiten aus, schliffen Widerstände glatt und ölten die Gemüter. So kam wieder Sinn in ihr Dasein.

Jens Reich verallgemeinert die Lage dieser Gruppe, wenn er den Ideologen einen generellen Hang zur Maßnahme nachsagt. Wer die Welt aus seinem geistigen Standort zu formen trachtet, stößt rasch auf die Renitenz dem zuwiderlaufender Gewohnheiten und Interessen. Die Realität im Kopf und die im menschlichen Getümmel passen schlecht zueinander. Die Unvernunft muß weichen, zeigt aber wenig Einsicht. Das ist die Stunde des aufgeklärten Terrors.

Innerer Goebbels

Teils aus der Korruption des ohnmächtig Gestrandeten, teils wegen gewaltsamer Neigungen des Sehers in den Bauplan von Natur und Zeit entsteigen die Intellektuellen den Verbrecherstaaten des Jahrhunderts so mitgenommen wie andere auch. Nur meinen sie, daß von Industriellen, Bankiers, Generälen und Bischöfen auch nichts Besseres zu erwarten war. Diese seien die natürlichen Afterbewohner der Macht, sie selbst aber geborene Märtyrer des Gewissens.

Carl Amery klagt mit schönem Pathos die Abstinenz des kritischen Geistes vom Fahneneide ein. Die mit hohem Verstand Begabten hätten verzückt den Saum der blutigsten Standarten ihrer Epoche geküßt. Sie waren die Verräter ihrer selbst. Sicher, das ist die Normalität, und darin besteht das Ärgerliche! Den fälligen Konkurs wegen gemeinschaftlichen Versagens halten indes die leuchtenden Ausnahmen hin. Die Linke begrüßt, wie dazumal die Rechte, mit klebriger Hand ihre Abtrünnigen. Verfemte Renegaten wie Hans Sahl, Manès Sperber, Leopold Schwarzschild, Arthur Koestler, Gustav Regler kehren posthum und ungefragt heim ins Lager. Wozu besteht es eigentlich noch? Und warum?

Es hält sich einstweilen am Gegner fest. Joschka Fischer überwindet seine Schwermut mit einer Salve in den gegnerischen Graben. Den deutschen Konservatismus wähnt er noch mit einem Bein im Dritten Reich, wohingegen die lädierte Linke nun das geistige Erbe ihrer singulären Dissidenten anträte. Man weiß nicht, ob es diesen genehm ist, doch den Erben kann es nur guttun. So nehmen sie ihren Widersacher hoffentlich dereinst einmal jenseits der Schießscharten wahr. Aufgrund der zu Fischers Schulzeit noch obwaltenden Beschränkungen ist ihm entgangen, daß der deutsche Konservatismus ein stolzes Renegatentum hervorgebracht hat. Dessen beharrliche Tapferkeit endete erst unter den rasenden Fallbeilen nach dem 20. Juli 1944.

Mühsam, aber letztlich wirksam hat sich die konservative Mehrheit den Werten dieser Minderheit angeschlossen. Sonst gäbe es keine Bundesrepublik. Sie verdankt sich hauptsächlich der Anpassung von Nationalisten und Nazis. Es gibt keinen eleganteren Weg als diesen. Die Linksintellektuellen werden es nicht bequemer als zuvor die Rechtsausleger haben, den inneren Goebbels zu überwinden. JÖRG FRIEDRICH

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