Der große Dichter und Denkspieler Robert Gernhardt lädt den Leser noch einmal in die von ihm ver- und bedichtete Welt ein: in den verschatteten Lesesaal einer toskanischen Abtei nahe Montaio, ans Weltgericht, vor dem Norbert Gamsbart Rede und Antwort stehen muss, in Jan Vermeers Atelier nach Delft und immer wieder in die Mainmetropole, in die Runde dreier Freunde, die sich mit Geschichtsrosinen aus dem Lebenskuchen zu überbieten versuchen. Vor allem aber ist dieser Band eine letzte Hommage des Dichters an seine Leser: Denken wir uns euch, das Salz der Erde nicht nur, sondern den Dünger jedweder Kunst. An wen wollten wir uns denn wenden, wenn es euch nicht gäbe?
Der Ruhm, seine Vergänglichkeit und die Mühe, die es kostet, ihn zu erwerben - das sind zentrale Themen in Robert Gernhardts letztem Prosaband "Denken wir uns". Der Titel ist Programm: Der Zeichner und Dichter erkundet hier noch einmal spielerisch den Reiz der literarischen Imagination.
Von Friedmar Apel
Die Lebenslust, die Robert Gernhardt noch in Zeiten der Krankheit versprühen konnte, war immer auch Lust an der Pointe und ihrer Wirkung auf das Gegenüber. Nach dem Gedichtband "Später Spagat" (F.A.Z. vom 22. Juli 2006) erscheint mit "Denken wir uns" nun das zweite Buch, das er bis kurz vor seinem Tod im Sommer 2006 noch selbst zusammengestellt hat. Die Lust an der Pointe hat ihn offenbar bis zuletzt nicht verlassen, aber unter den Umständen zielen viele von ihnen auf den Tod, als sollte der Gevatter, mit dem sich der Dichter schon lange duzte, schnell noch einmal verspottet werden. Die Aufforderung an die Leser, "das Salz der Erde" gleichwohl fröhlich zu lesen, ist so nicht leicht zu befolgen. Sie schlägt in Beklemmung um, wenn ein Schriftsteller im Buch auf die Frage, wie er denn mit sich und der Welt zufrieden sei, in Gernhardtscher Manier antwortet: "Oh - ich sehe keinen Grund, unzufrieden zu sein. Ich habe eine von mir geliebte Frau, einen von vielen geachteten Beruf und eine von allen gefürchtete Krankheit - mehr kann man vom Leben eigentlich nicht erwarten." Kann einer aber eben doch. Und wenn er dieses Mehr nicht bekommen hat und weiß, dass er es nie bekommen wird, so kann es nur noch geträumt oder gedacht werden.
Um ein solches Mehr und seine Versagung geht es offen oder verdeckt fast in jedem dieser Texte. Sie werden als Erzählungen vorgestellt, dabei hat Gernhardt im ersten Stück unter Berufung auf Jorge Luis Borges die viel treffendere Gattungsbezeichnung des Denkspiels gewählt und gleichzeitig seine Funktionsweise im Möglichkeitsraum der Literatur und der Einbildungskraft zwischen Shakespeare und Kafka vorgeführt. Das literarische Denkspiel in diesem Sinn ist ein Pendant zum wissenschaftlich gegründeten Gedankenexperiment, das nur im Kopf durchgeführt werden kann. In ihm geht es darum, sich eine Welt zu denken, in der ein bestimmter Sachverhalt möglich oder unmöglich ist. Um die Frage: Wie würden wir unser Leben gestalten, wenn es nicht vom Tod begrenzt wäre beispielsweise? Oder: Wie würden wir sein, wenn die Welt zweidimensional wäre?
Das Gedankenexperiment muss sich trotz seines fiktionalen Charakters in allen anderen als der Ausgangsbedingung an Empirie oder vorhandene wissenschaftliche Theorie halten. Das literarische Gedankenspiel dagegen darf die Wirklichkeit zeitlich und räumlich beliebig überschreiten; der Denkspieler darf sich, wie bei Gernhardt der Fall, sogar in die Rolle Gottes oder des Weltgerichts begeben. Gleichwohl ist die Form auf gedankliche Folgerichtigkeit verpflichtet. So entspricht es Robert Gernhardts Poetik, in der er immer wieder darauf verwiesen hat, dass Kreativität bei aller Abweichung von der Konvention durch strenge Bindung, durch Disziplin zustande kommt. Folglich sind auch die meisten dieser Texte scharfsinnige Exerzitien des Vorstellungsvermögens, an denen sich der Leser unter Aufbietung seiner ästhetischen Bildung beteiligen soll. Obwohl alle Texte mit "Denken wir uns . . ." beginnen, hat jedes Stück seine eigene Charakteristik. Gernhardt macht von der Freiheit des Denkspiels, sich bei anderen literarischen Formen wie bei der Kunstgeschichte zu bedienen, vielfältigen Gebrauch. Dem begnadeten Parodisten und literarischen Stimmenimitator kommt diese Form offensichtlich besonders entgegen.
Die meisten Stücke des Bandes haben aber unverkennbarer denn je autobiographischen Charakter. Bei manch einem ist der Leser ein wenig peinlich berührt, als würde er ungewollt Selbstgespräche mithören, die der Ertappte dann schnell ins Spaßige oder Alberne wendet. Da drängt sich in folgenlosem Mitleid der Eindruck auf, Gernhardt habe sein frühes Pseudonym "Lützel Jeman" nie ganz hinter sich gelassen. Dieser vielseitige und beliebte Künstler hat anscheinend bis in seine letzten Tage hinein unter mangelnder Anerkennung, "unter Ruhmabschneidern und den anderen üblichen Verdächtigen" gelitten.
In dem Dialog "Bei den Reichen" erscheint der Dichter als armer Sünder vor dem Weltgericht und muss sich vom Ankläger fragen lassen: "Glaubten Sie, als Autor Ihres Talents nichts Besseres und Sinnvolleres leisten zu können?" Der Dichter ist Gernhardt-Lesern unter dem Namen Gamsbart schon einschlägig bekannt. Die Forschung führt ihn weniger als Pseudonym, sondern als Kunstfigur, der Gernhardt beliebig eigene oder fremde Züge verleiht. Hier wird ihm seine Tätigkeit als Gagschreiber für einen gewissen Otto vorgeworfen, "ein Vorhaben von großer Nichtsnutzigkeit", weiterhin die Anwesenheit auf Partys bei reichen Leuten. Zur Wahrheitsfindung aber gelangt das Weltgericht nicht. Die Pointe spielt mit der Dialektik von Kleinheits- und Größenwahn, sie folgt aber konsequent aus der Voraussetzung, dass Zeitbegriffe vor dem Weltgericht ihren Sinn verlieren, "was freilich auch sein Gutes hat".
Schwerer tut sich der Leser als Mitspieler, wenn es um einen Schriftsteller geht, der immerhin schon den Heine-Preis bekommen hat, gleichwohl um seinen bescheidenen Platz in der Welt der Literatur weiß. Obwohl er "Autor seines Sprachraums geblieben ist", erreicht ihn dann doch "der berühmte Anruf aus Stockholm". Das ist eine kleine Phantasie über literarischen Futterneid, die einer bekenntnishaften Peinlichkeit durch Albernheit zu entkommen sucht. Dass der Schriftsteller zwar etwas von den Preisen des bekannten schwedischen Möbelhauses weiß, aber nichts vom Nobelpreis und dem schon länger zurückliegenden Tod seines Stifters, strapaziert die Form des Denkspiels ebenso über wie die Witztechnik aus den Zeiten von "Pardon" den Humor des Lesers. So wenn der Schriftsteller beim Namen des anrufenden Sekretärs immer nur "Smörrebröd" versteht. Die eigentliche Pointe ist darüber aber nicht zu verfehlen: "Wer hat diesen Preis denn als letzter bekommen? O je! Elfriede Jelinek! Und in welcher Sparte? Was - auch für Literatur?"
In ihrer Offenheit sehr anrührend sind die Denkspiele in der Form von Kindheits- und Jugenderinnerungen des 1939 in Riga Geborenen, dessen Familie nach Posen umsiedeln musste, um nach dem Krieg nach Westdeutschland vertrieben zu werden. Sie erlauben die ungeschützte Reflexion einer künstlerischen Produktivität, deren Antrieb ein Ehrgeiz ist, der auf kindliche Erlebnisse, Phantasien wie Ängste zurückgeht.
"Was erwartet so ein Kind groß vom Leben? Nicht viel. Die Weltherrschaft, vielleicht, mit Sicherheit aber vollständige Unterwerfung dessen, was ist, unter das, was es will. Und was will es? Nichts Außergewöhnliches. Der Einfallsreichste zu sein. Der Beliebteste zu sein. Der Gefeiertste zu sein." In der Wahl eines Faschingskostüms wird zwischen Kohlenklau, Sumsemann und "Feind hört mit" anschaulich, wie viel Schreiben mit der Abwesenheit des Gewünschten und der Anwesenheit des Unerwünschten zu tun hat und wie viel des Menschen Weg auf Erden mit Umwegen, mit Ersetzen und Übertragung.
Ein Meisterstück im mehrfachen Sinne ist "Pennelino". Hier sollen wir Leser uns in Gernhardts geliebte Toskana versetzen und uns im verschatteten Lesesaal einer Abtei überlegen, wie Meister Gamsbardi ein altmeisterliches Madonnenantlitz ohne Pinsel malt. Die Lösung ergibt eine Künstlernovelle im Stil der italienischen Frührenaissance, erheiternd und belehrend in ihrer raffinierten Naivität. Zugleich enthält sie eine wunderbare Hommage an ein Tier, in dem Robert Gernhardt nichts als "pure Lebenslust" erkannte, wenn es, wie einst im Homburger Schlosspark, scheinbar Chimären nachjagte. Ebenso kunstvoll wird der Leser ins Delft des siebzehnten Jahrhunderts versetzt, wo er der Entstehung von Jan Vermeers Gemälde "Die Musikstunde (Herr und Dame am Virginal)" beiwohnt und sich am Gezeter seiner Ehefrau Catharina ergötzen darf: "Mal doch mal eine ordentliche Unordnung. Nie liegt etwas auf deinen Bildern rum. Außer Bassgeigen, versteht sich. Mal doch mal das, was wirklich immer auf dem Boden rumliegt." Da ist Gernhardt auf der Höhe seiner Kunst, seiner Kenntnisse und zugleich seiner Ästhetik des Alltags.
Mit "Denken wir uns" hat Robert Gernhardt ein Trost- und Erbauungsbüchlein in bester artistischer Tradition hinterlassen, das den mehr oder minder scheinheiligen Leser, wie Baudelaire weniger höflich als Gernhardt formulierte, in ein Spiel der Spiegelungen zieht. Habgier, Eitelkeit, Rachsucht, Unmaß und Neid, und was der guten alten Sünden mehr ist, werden in der Wahrhaftigkeit des Denkspiels symbolisch in die feinen spirituellen Fähigkeiten Zuversicht, Humor und List verwandelt. Denken wir uns also noch einmal Robert Gernhardt, der das Leben liebte, und denken wir uns zugleich uns, "Sterbliche, die wir gottlob selber sind".
- Robert Gernhardt: "Denken wir uns".
Erzählungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007. 240 S., geb., 18,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Hauke Hückstädt ist leicht enttäuscht von diesem letzten Erzählband Robert Gernhardts. Zwar preist er dessen Gesamtwerk und erinnert daran, wie viel Mühe es den Autor zu Unrecht kostete, "wenigstens als Halbmitglied im Schwergewichtsliteraturzirkus" aufgenommen zu werden - obwohl ihm eigentlich "Denkmäler gebühren für seine Verdienste um die Lesefreude." Doch den jetzt vorliegenden Erzählband findet der Rezensent nicht richtig geglückt. Das liegt zum einen daran, dass Gernhardts Erzählduktus etwas zu "betulich" und die Effekte etwas zu kalkuliert daherkommen. In der Summe wirken die Erzählungen seiner Meinung nach einfach ein bisschen zu wenig "gewagt".
© Perlentaucher Medien GmbH
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