Ja, ein Denkmal wird gestürzt: Willy Brandts Kniefall. Nein, das Denkmal wird nicht gestürzt. Es wird noch höher positioniert. Wie kam es zum Kniefall? Wollte Bundeskanzler Willy Brandt die 1969/70 über seine Ost-, Nahost- und Geschichtspolitik besorgte, verärgerte, empörte »Jüdische Welt« in Israel und der Diaspora besänftigen? Hat Brandt, wie sein Intimus Bahr, zwei heldenhafte Warschauer Widerstandsaktionen gegen Nazi-Deutschland miteinander verwechselt: den jüdischen Aufstand im Ghetto (1943) mit dem nationalpolnischen 1944? Wusste Willy Brandt, dass er damit seine Ostpolitik gefährdete und Polens Kommunisten ebenso wie Nationalisten provozierte? Wie reagierten »die« Juden, wie reagierte »die« Welt auf Brandts noble Geste? »Die« Welt reagierte auf diesen Kniefall kaum. Weshalb? Hatte Brandt die »falschen« Opfer geehrt? Brandts Kniefall - ein internationales Nicht-Ereignis? Dieses Buch sucht und findet Antworten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.02.2006Spontane Geste
Willy Brandts Kniefall in Warschau und die deutsch-israelischen Beziehungen Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre
Das Bild ging um die Welt: Es war am 7. Dezember 1970, als die Delegation der Bundesrepublik Deutschland - anläßlich der Unterzeichnung des deutsch-polnischen Vertrages über die Grundlagen der Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen - den jüdischen Opfern des Warschauer Ghettoaufstandes vom Sommer 1943 ihre Reverenz erwies. Vorgesehen waren - wie bei solchen Anlässen üblich und wenig zuvor am Grabmal des Unbekannten Soldaten praktiziert - eine Kranzniederlegung und ein Augenblick stillen Gedenkens. Aber dann bekam das Zeremoniell eine unerwartete Wendung, weil Willy Brandt, der Bundeskanzler aus Bonn und Leiter der Delegation, vor dem Mahnmal niederkniete.
Daß gerade Brandt, der in der Zeit des "Dritten Reiches" selbst Verfolgter, nicht Täter gewesen war, sich für sein Volk zu diesem Schuldeingeständnis bereit fand, gab dem Kniefall sein besonderes Gewicht. Das wußte auch der Kanzler, und dennoch war die Geste spontan. Jedenfalls spricht "alles" dafür, finden Michael Wolffsohn und Thomas Brechenmacher, die den Kniefall für gewichtig genug halten, um ihm ein eigenes Buch zu widmen. Damit heben sie Brandt und seine Geste auf ein Podest, auf dem man gegen Stürze nicht gefeit ist. Dabei haben die Autoren gar keinen Denkmalsturz im Sinn. Ihr Anliegen ist weniger spektakulär. Wolffsohn und Brechenmacher wollen den Kniefall "in seinen innen- und außenpolitischen Zusammenhängen beleuchten und die Frage nach seinen Wirkungen in seiner Zeit stellen". Um sie zu beantworten, haben die beiden keine Mühe gescheut. Weil es ihnen um nicht weniger als um die öffentlichen und amtlichen Reaktionen in West- und Osteuropa, in der Bundesrepublik und der DDR, in den Vereinigten Staaten und in Israel ging, haben sie unter anderem die in Frage kommenden Materialien der Außenministerien in Berlin, Jerusalem, London, Paris und Washington gesichtet.
Ein enormer Aufwand - zumal dann, wenn man ihn am Ergebnis mißt und in Rechnung stellt, daß es Wolffsohn und Brechenmacher im Kern um die "judenpolitische Dimension" des Kniefalls und um die deutsch-israelischen Beziehungen zur Zeit der Regierung Brandt-Scheel geht. Die Ergebnisse und Erkenntnisse der flott geschriebenen, faktengesättigten Studie sind interessant, wenn auch nicht unbedingt überraschend. Denn weder in der Bundesrepublik noch in Israel traf die Geste auf ungeteilte Zustimmung. Fast fünfzig Prozent der Bundesbürger fanden sie übertrieben - je höher das Alter, um so deutlicher die Ablehnung. Und daß Brandts Kniefall in Israel ein "anderes, prägendes Bild" schuf, "das Bild vom wirklich neuen, besseren, menschlichen Deutschland, nicht mehr polternd, gar mordend, sondern demütig", war nicht vorherzusehen, ganz im Gegenteil: "Des Kanzlers Kniefall? In keinem Dokument des israelischen Außenministeriums wird er ausführlich beschrieben, erwähnt, analysiert. Nur hier und dort, am Rand, ein Wort. Wie das?"
Wolffsohn und Brechenmacher erklären die israelische Reaktion auf den Kniefall mit seinem meist vergessenen weltpolitischen Hintergrund: Gewiß, Brandts Geste war ehrenwert; aber sie war eine historische Reminiszenz. Gefragt war tatkräftige Unterstützung, beispielsweise eine Fortsetzung der Waffenlieferungen. Und da hatte Israel mit der Bonner Republik ein gewisses Problem - weil Frankreich ein solches mit Israel hatte. Seit Präsident de Gaulle in Reaktion auf den sogenannten Sechstagekrieg vom Juni 1967 ein Waffenembargo gegen das Land verhängt und die Waffenlieferung an dessen arabische Nachbarn drastisch erhöht hatte, war es mit den traditionell guten Beziehungen zwischen Tel Aviv und Paris vorbei. Würde Bonn auf den Kurs seines wichtigsten Partners in Europa einschwenken?
Ausgeschlossen schien das nicht: Aus israelischer Sicht folgte ja auch die "neue" deutsche Ostpolitik französischen Fußstapfen. So willkommen die Anerkennung der durch den Zweiten Weltkrieg geschaffenen Verhältnisse gerade auch in Israel war, so bedenklich war die Annäherung der Bundesrepublik an die Sowjetunion, den "mächtigsten Gegner Israels". Denn die deutsch-sowjetischen Gespräche und Verhandlungen, mit denen die Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition im Oktober begann, erfolgten zu einer Zeit, als die Sowjets nun Israels Nachbarn, allen voran Ägypten, "mit Menschen und Material" hochrüsteten.
So rückten die Beobachter im israelischen Außenministerium Willy Brandts Geste in einen Zusammenhang, den dieser gewiß nicht im Sinn hatte, als er in Warschau auf die Knie ging. Weil aber der weltpolitische Hintergrund auch für Wolffsohn und Brechenmacher der Rahmen ist, in dem sie den Kniefall sehen und gewichten, bekommt der unversehens eine monumentale Dimension. Kein Wunder, daß sie ihn gleich wieder von jenem Sockel holen müssen, auf den er dabei geraten ist.
GREGOR SCHÖLLGEN
Michael Wolffsohn/Thomas Brechenmacher: Denkmalsturz? Brandts Kniefall. Olzog Verlag, München 2005. 178 S., 18,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Willy Brandts Kniefall in Warschau und die deutsch-israelischen Beziehungen Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre
Das Bild ging um die Welt: Es war am 7. Dezember 1970, als die Delegation der Bundesrepublik Deutschland - anläßlich der Unterzeichnung des deutsch-polnischen Vertrages über die Grundlagen der Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen - den jüdischen Opfern des Warschauer Ghettoaufstandes vom Sommer 1943 ihre Reverenz erwies. Vorgesehen waren - wie bei solchen Anlässen üblich und wenig zuvor am Grabmal des Unbekannten Soldaten praktiziert - eine Kranzniederlegung und ein Augenblick stillen Gedenkens. Aber dann bekam das Zeremoniell eine unerwartete Wendung, weil Willy Brandt, der Bundeskanzler aus Bonn und Leiter der Delegation, vor dem Mahnmal niederkniete.
Daß gerade Brandt, der in der Zeit des "Dritten Reiches" selbst Verfolgter, nicht Täter gewesen war, sich für sein Volk zu diesem Schuldeingeständnis bereit fand, gab dem Kniefall sein besonderes Gewicht. Das wußte auch der Kanzler, und dennoch war die Geste spontan. Jedenfalls spricht "alles" dafür, finden Michael Wolffsohn und Thomas Brechenmacher, die den Kniefall für gewichtig genug halten, um ihm ein eigenes Buch zu widmen. Damit heben sie Brandt und seine Geste auf ein Podest, auf dem man gegen Stürze nicht gefeit ist. Dabei haben die Autoren gar keinen Denkmalsturz im Sinn. Ihr Anliegen ist weniger spektakulär. Wolffsohn und Brechenmacher wollen den Kniefall "in seinen innen- und außenpolitischen Zusammenhängen beleuchten und die Frage nach seinen Wirkungen in seiner Zeit stellen". Um sie zu beantworten, haben die beiden keine Mühe gescheut. Weil es ihnen um nicht weniger als um die öffentlichen und amtlichen Reaktionen in West- und Osteuropa, in der Bundesrepublik und der DDR, in den Vereinigten Staaten und in Israel ging, haben sie unter anderem die in Frage kommenden Materialien der Außenministerien in Berlin, Jerusalem, London, Paris und Washington gesichtet.
Ein enormer Aufwand - zumal dann, wenn man ihn am Ergebnis mißt und in Rechnung stellt, daß es Wolffsohn und Brechenmacher im Kern um die "judenpolitische Dimension" des Kniefalls und um die deutsch-israelischen Beziehungen zur Zeit der Regierung Brandt-Scheel geht. Die Ergebnisse und Erkenntnisse der flott geschriebenen, faktengesättigten Studie sind interessant, wenn auch nicht unbedingt überraschend. Denn weder in der Bundesrepublik noch in Israel traf die Geste auf ungeteilte Zustimmung. Fast fünfzig Prozent der Bundesbürger fanden sie übertrieben - je höher das Alter, um so deutlicher die Ablehnung. Und daß Brandts Kniefall in Israel ein "anderes, prägendes Bild" schuf, "das Bild vom wirklich neuen, besseren, menschlichen Deutschland, nicht mehr polternd, gar mordend, sondern demütig", war nicht vorherzusehen, ganz im Gegenteil: "Des Kanzlers Kniefall? In keinem Dokument des israelischen Außenministeriums wird er ausführlich beschrieben, erwähnt, analysiert. Nur hier und dort, am Rand, ein Wort. Wie das?"
Wolffsohn und Brechenmacher erklären die israelische Reaktion auf den Kniefall mit seinem meist vergessenen weltpolitischen Hintergrund: Gewiß, Brandts Geste war ehrenwert; aber sie war eine historische Reminiszenz. Gefragt war tatkräftige Unterstützung, beispielsweise eine Fortsetzung der Waffenlieferungen. Und da hatte Israel mit der Bonner Republik ein gewisses Problem - weil Frankreich ein solches mit Israel hatte. Seit Präsident de Gaulle in Reaktion auf den sogenannten Sechstagekrieg vom Juni 1967 ein Waffenembargo gegen das Land verhängt und die Waffenlieferung an dessen arabische Nachbarn drastisch erhöht hatte, war es mit den traditionell guten Beziehungen zwischen Tel Aviv und Paris vorbei. Würde Bonn auf den Kurs seines wichtigsten Partners in Europa einschwenken?
Ausgeschlossen schien das nicht: Aus israelischer Sicht folgte ja auch die "neue" deutsche Ostpolitik französischen Fußstapfen. So willkommen die Anerkennung der durch den Zweiten Weltkrieg geschaffenen Verhältnisse gerade auch in Israel war, so bedenklich war die Annäherung der Bundesrepublik an die Sowjetunion, den "mächtigsten Gegner Israels". Denn die deutsch-sowjetischen Gespräche und Verhandlungen, mit denen die Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition im Oktober begann, erfolgten zu einer Zeit, als die Sowjets nun Israels Nachbarn, allen voran Ägypten, "mit Menschen und Material" hochrüsteten.
So rückten die Beobachter im israelischen Außenministerium Willy Brandts Geste in einen Zusammenhang, den dieser gewiß nicht im Sinn hatte, als er in Warschau auf die Knie ging. Weil aber der weltpolitische Hintergrund auch für Wolffsohn und Brechenmacher der Rahmen ist, in dem sie den Kniefall sehen und gewichten, bekommt der unversehens eine monumentale Dimension. Kein Wunder, daß sie ihn gleich wieder von jenem Sockel holen müssen, auf den er dabei geraten ist.
GREGOR SCHÖLLGEN
Michael Wolffsohn/Thomas Brechenmacher: Denkmalsturz? Brandts Kniefall. Olzog Verlag, München 2005. 178 S., 18,50 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Zufrieden zeigt sich Gregor Schöllgen mit Michael Wolffsohns und Thomas Brechenmachers "flott geschriebener, faktengesättigter" Studie, die Willy Brandts Kniefall in Warschau im Kontext der deutsch-israelischen Beziehungen Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre untersucht. Ob Brandts Geste, die damals um die Welt ging, ein ganzes Buch wert ist, möchte der Rezensent dahingestellt sein lassen. Beeindruckend erscheinen ihm jedoch die Mühen, die die Autoren auf sich genommen haben, um den Kniefall in seinen "innen- und außenpolitischen Zusammenhängen" zu verstehen und die Wirkung in seiner Zeit zu beleuchten. Die Ergebnisse und Erkenntnisse der Recherchen findet Schöllgen "interessant, wenn auch nicht unbedingt überraschend".
© Perlentaucher Medien GmbH
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