Der polnische Mikrobiologe und Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck gilt seit langem als Klassiker der Wissenschaftstheorie und erlebt derzeit eine Renaissance, die sich durch die verschiedenen Disziplinen zieht.Die neue Studienausgabe trägt dem Rechnung und versammelt bekannte und unbekannte Texte Flecks - zum Teil erstmals in deutscher Übersetzung - sowie biographisches Material und Briefe. Dokumentiert wird die ganze Breite von Flecks Denken und Wirken, wodurch nicht zuletzt der politische Hintergrund seiner Wissenschaftstheorie und medizinischen Praxis sichtbar wird.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2011Wie Stimmungen auf die Dynamik der Erkenntnis wirken
Wissenschaft nimmt heute immer mehr den Denkstil von Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit an. Nicht zuletzt, weil das so ist, gehören die jetzt neu edierten Schriften Ludwik Flecks zum Lohnendsten, was die Wissenschaftsforschung zu bieten hat.
Eine Szene aus dem Alltag des akademischen Lebens: Im Herbst 1933 schickte der weithin unbekannte polnische Bakteriologe Ludwik Fleck ein Buchmanuskript an Moritz Schlick, die führende Figur des Wiener Kreises, und bat ihn um Mithilfe bei der Veröffentlichung. Monate später erteilte Schlick ihm mit professoraler Höflichkeit eine Abfuhr. Zwar lobte er Gelehrsamkeit und Gedankenreichtum des Buches, doch konnte er weder den erkenntnistheoretischen Folgerungen Flecks zustimmen, noch hielt er es für möglich, dass dieses Buch außerhalb eines kleinen Kreises von Spezialisten, die sich für die Geschichte und Epistemologie der Medizin interessierten, Leser finden werde.
Diese kleine Episode könnte man mit Fleck als Inkommensurabilität von Denkstilen bezeichnen. Für Schlick, den Repräsentanten des Logischen Empirismus, der sich fast ausschließlich an der modernen Physik orientierte, war es undenkbar, dass die Biomedizin als Fluchtpunkt der Wissenschaftstheorie dienen könnte. Und, noch gravierender: Während der Wiener Kreis nach überhistorischen Kriterien wissenschaftlicher Erkenntnis suchte, beharrte Fleck zeitlebens auf derer soziokultureller und psychologischer Bedingtheit.
An dieser Konfrontationsstellung hat sich bis auf den heutigen Tag wenig geändert. Die Wissenschaftstheorie insistiert auf normativen Prinzipien der Erkenntnisentstehung und benutzt historische Beispiele allenfalls zur Illustration. Soziologen und Wissenschaftshistoriker wiederum legen Studie um Studie vor, aus denen hervorgeht, dass Entstehung und Etablierung wissenschaftlicher Erkenntnis nur innerhalb eines gegebenen Kontextes erklärbar ist. In einem Punkt freilich haben sich die Verhältnisse umgekehrt: Während die Schriften Schlicks und anderer Vertreter des Wiener Kreises nur noch von einigen wenigen Spezialisten der Philosophiegeschichte konsultiert werden, ist Fleck weit über die angloamerikanische und deutschsprachige Wissenschaftsforschung hinaus so einflußreich wie außer Bruno Latour wohl kein anderer Theoretiker.
Flecks anhaltende Reputation basiert auf einem einzigen Buch, ebender von Schlick abgewimmelten, zuerst 1935 in Basel erschienenen Studie zur "Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache". Zunächst von einigen Medizinern und Biologen und Philosophen rezipiert und dann in den Wirren des Weltkriegs vergessen, hat dieses schmale Buch mit erheblicher Zeitverzögerung gleich mehrere Renaissancen erlebt. Zuerst war es Thomas Kuhn, der auf verblüffende Parallelen zwischen seiner eigenen Konzeption wissenschaftlicher Revolutionen und Flecks Überlegungen hinwies. Auch wenn die Gemeinsamkeiten nicht überbetont werden sollten - die Idee der Revolution kommt bei Fleck gar nicht vor -, für die nach Kuhn florierende Theorie des Sozialen Konstruktivismus war ein willkommener Verbündeter aufgetaucht.
In den neunziger Jahren dann, mit Blick auf Methoden, Kategorien und Praktiken unterschiedlicher Wissenschaftskulturen, wurde Fleck zur Leitfigur jener Richtung in der historischen Wissenschaftsforschung, die sich für die lokal gebundenen und kontingenten Momente der Erkenntnisdynamik interessierte. In jüngster Zeit ist Fleck auch in Wissensgeschichte, Kultur- und Medienwissenschaften angekommen. Seine Überlegungen zu wissenschaftlichen Bildern, zur Beobachtung oder zur "Stimmung" eines Denkkollektivs sind hier ebenso wegweisend wie seine Einsicht, dass sich wissenschaftliche Tatsachen nur im Rahmen eines historisch kontingenten Settings ("Denkkollektiv", "Denkstil") zu stabilisieren vermögen, dass auch kulturelle Wissensbestände ("Präideen") mit einbezieht.
Fast könnte man von einer Entdeckung Flecks als Kulturwissenschaftler sprechen, dessen konkretes Arbeitsfeld, die Biomedizin, selbst zur Nagelprobe kulturwissenschaftlicher Erklärungskraft geworden ist.
Im Zuge seiner Kanonisierung hat sich auch eine Fleck-Forschung etabliert, die die Entstehungsbedingungen seiner eigenen Theorie zu historisieren versucht. Dazu zählen seine Nähe zur Soziologie, Ethnologie und Gestaltpsychologie der zwanziger Jahre ebenso wie seine Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus. Das Lemberger Getto sowie die Deportation nach Auschwitz und Buchenwald überlebte er wohl nur, weil er als mikrobiologischer Experte für die SS nützlich war. Als Fleck schließlich 1957 wegen anhaltender antisemitischer Hetze aus Polen nach Israel emigrierte, forschte er bis zu seinem Tod 1961 ausgerechnet in Nes Ziona, jenem biologischen Forschungsinstitut, das auch Zielen biologischer Kriegsführung dient.
Man muss so weit ausholen, um die Bedeutung des fast siebenhundert Seiten starken, von Sylwia Werner und Claus Zittel fabelhaft edierten und kommentierten Bandes zu ermessen. Mehrere Schriften Flecks werden erstmals in deutscher Übersetzung vorgestellt, einige Schriften sind überhaupt zum ersten Mal veröffentlicht. Erst mit dieser klugen Textzusammenstellung wird deutlich, dass Flecks Meisterwerk von 1935 in einen dichten, in erster Linie in Polen und zum Teil auch in Deutschland stattfindenden Diskussionszusammenhang eingewoben war.
Wenn Fleck nun als emblematische Figur des Zeitalters der Extreme, angesiedelt im Schnittbereich von österreichisch-deutscher und polnischer Kultur sowie von Natur- und Geisteswissenschaften gilt, so liegt das an mehreren glücklichen Entscheidungen der Herausgeber. Erstens haben sie auch einige der bakteriologischen Arbeiten Flecks integriert - nicht immer leichtverdauliche Kost, aber doch erhellend, um zu erkennen, wie sehr die Theorie der Denkstile und der wissenschaftlichen Gestaltwahrnehmung aus der wissenschaftlichen Praxis heraus gewachsen ist.
Zweitens geben die bislang wenig bekannten Erklärungen, Zeugenaussagen und Kommentare Flecks über seine Zeit im Lemberger Getto und in den Konzentrationslagern einen genaueren Einblick in die dramatischen Bedingungen, unter denen er den Holocaust überlebte. Der vor einigen Jahren von einer schwedischen Immunologin aufgewärmte Versuch, Fleck eine Kollaboration mit den Nazis bei ihren barbarischen Menschenversuchen zu unterstellen, erweist sich im Spiegel der verschiedenen Dokumente als ebenso plumpe wie widerwärtige Denunziation.
Drittens schließlich werden ausführliche Kontroversen mit der dem Wiener Kreis nahestehenden Philosophin Izydora Dambska und dem Medizinhistoriker Tadeusz Bilikiewicz abgedruckt, in denen Fleck seine Positionen klarstellte und verfeinerte. So war er sich 1939 völlig darüber im Klaren, dass seine These der Abhängigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis vom historischen Kontext demagogischen Parolen Tür und Tor öffnete. Wenn das Wissen ohnehin vom sozialen Kontext abhängig ist, war es dann nicht konsequent, wenn die Nationalsozialisten eine arische Wissenschaft und die Stalinisten eine proletarische Wissenschaft durchsetzten?
Dagegen argumentierte Fleck, dass Wissenschaft nie darin bestehen könne oder dürfe, für bestehende Ideologien die passenden Ergebnisse zu liefern, weil genau das dem vorläufigen Charakter wissenschaftlicher Erkenntnis widerspreche. Elemente von Denkstilen verändern sich laufend, und so entsteht eine Erkenntnisdynamik, der ein dogmatischer Wissensanspruch fremd ist. Genau in dieser Offenheit sah Fleck den größten Vorzug der Naturwissenschaften. Wenig überraschend, dass er ihnen die "einzige demokratische Denkart" zubilligte und sie damit als Modell für die Demokratie anpries. Mit dieser großartigen Edition werden endlich die historischen Bedingungen sichtbar, unter denen Fleck sein schmales, ungemein produktives wissenschaftsphilosophisches OEuvre entwickelt hat. Dabei gab es durchaus Konstanten - insbesondere sein Glaube an die kulturelle und humanistische Mission der Wissenschaft, die ständigen Gefahren ausgesetzt ist. In seinem letzten, erst postum veröffentlichten Text klagte er 1960, dass die Wissenschaft zu ihrem Schaden immer mehr zur Gehilfin von Politik und Industrie geworden sei.
Was soll man dazu im Abstand von fünfzig Jahren sagen? Man müsste wohl - zu Flecks Entsetzen - konstatieren, dass die Wissenschaft immer mehr den Denkstil von Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit angenommen hat. Nicht zuletzt, weil das so ist, gehören die Schriften Flecks - entgegen der Vermutung Schlicks - nach wie vor zum Lohnendsten, was man über Sein und Sollen der Wissenschaften lesen kann.
MICHAEL HAGNER.
Ludwik Fleck: "Denkstile und Tatsachen".
Gesammelte Schriften und Zeugnisse. Hrsg. v. Sylwia Werner, Claus Zittel u.a. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 682 S., br., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wissenschaft nimmt heute immer mehr den Denkstil von Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit an. Nicht zuletzt, weil das so ist, gehören die jetzt neu edierten Schriften Ludwik Flecks zum Lohnendsten, was die Wissenschaftsforschung zu bieten hat.
Eine Szene aus dem Alltag des akademischen Lebens: Im Herbst 1933 schickte der weithin unbekannte polnische Bakteriologe Ludwik Fleck ein Buchmanuskript an Moritz Schlick, die führende Figur des Wiener Kreises, und bat ihn um Mithilfe bei der Veröffentlichung. Monate später erteilte Schlick ihm mit professoraler Höflichkeit eine Abfuhr. Zwar lobte er Gelehrsamkeit und Gedankenreichtum des Buches, doch konnte er weder den erkenntnistheoretischen Folgerungen Flecks zustimmen, noch hielt er es für möglich, dass dieses Buch außerhalb eines kleinen Kreises von Spezialisten, die sich für die Geschichte und Epistemologie der Medizin interessierten, Leser finden werde.
Diese kleine Episode könnte man mit Fleck als Inkommensurabilität von Denkstilen bezeichnen. Für Schlick, den Repräsentanten des Logischen Empirismus, der sich fast ausschließlich an der modernen Physik orientierte, war es undenkbar, dass die Biomedizin als Fluchtpunkt der Wissenschaftstheorie dienen könnte. Und, noch gravierender: Während der Wiener Kreis nach überhistorischen Kriterien wissenschaftlicher Erkenntnis suchte, beharrte Fleck zeitlebens auf derer soziokultureller und psychologischer Bedingtheit.
An dieser Konfrontationsstellung hat sich bis auf den heutigen Tag wenig geändert. Die Wissenschaftstheorie insistiert auf normativen Prinzipien der Erkenntnisentstehung und benutzt historische Beispiele allenfalls zur Illustration. Soziologen und Wissenschaftshistoriker wiederum legen Studie um Studie vor, aus denen hervorgeht, dass Entstehung und Etablierung wissenschaftlicher Erkenntnis nur innerhalb eines gegebenen Kontextes erklärbar ist. In einem Punkt freilich haben sich die Verhältnisse umgekehrt: Während die Schriften Schlicks und anderer Vertreter des Wiener Kreises nur noch von einigen wenigen Spezialisten der Philosophiegeschichte konsultiert werden, ist Fleck weit über die angloamerikanische und deutschsprachige Wissenschaftsforschung hinaus so einflußreich wie außer Bruno Latour wohl kein anderer Theoretiker.
Flecks anhaltende Reputation basiert auf einem einzigen Buch, ebender von Schlick abgewimmelten, zuerst 1935 in Basel erschienenen Studie zur "Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache". Zunächst von einigen Medizinern und Biologen und Philosophen rezipiert und dann in den Wirren des Weltkriegs vergessen, hat dieses schmale Buch mit erheblicher Zeitverzögerung gleich mehrere Renaissancen erlebt. Zuerst war es Thomas Kuhn, der auf verblüffende Parallelen zwischen seiner eigenen Konzeption wissenschaftlicher Revolutionen und Flecks Überlegungen hinwies. Auch wenn die Gemeinsamkeiten nicht überbetont werden sollten - die Idee der Revolution kommt bei Fleck gar nicht vor -, für die nach Kuhn florierende Theorie des Sozialen Konstruktivismus war ein willkommener Verbündeter aufgetaucht.
In den neunziger Jahren dann, mit Blick auf Methoden, Kategorien und Praktiken unterschiedlicher Wissenschaftskulturen, wurde Fleck zur Leitfigur jener Richtung in der historischen Wissenschaftsforschung, die sich für die lokal gebundenen und kontingenten Momente der Erkenntnisdynamik interessierte. In jüngster Zeit ist Fleck auch in Wissensgeschichte, Kultur- und Medienwissenschaften angekommen. Seine Überlegungen zu wissenschaftlichen Bildern, zur Beobachtung oder zur "Stimmung" eines Denkkollektivs sind hier ebenso wegweisend wie seine Einsicht, dass sich wissenschaftliche Tatsachen nur im Rahmen eines historisch kontingenten Settings ("Denkkollektiv", "Denkstil") zu stabilisieren vermögen, dass auch kulturelle Wissensbestände ("Präideen") mit einbezieht.
Fast könnte man von einer Entdeckung Flecks als Kulturwissenschaftler sprechen, dessen konkretes Arbeitsfeld, die Biomedizin, selbst zur Nagelprobe kulturwissenschaftlicher Erklärungskraft geworden ist.
Im Zuge seiner Kanonisierung hat sich auch eine Fleck-Forschung etabliert, die die Entstehungsbedingungen seiner eigenen Theorie zu historisieren versucht. Dazu zählen seine Nähe zur Soziologie, Ethnologie und Gestaltpsychologie der zwanziger Jahre ebenso wie seine Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus. Das Lemberger Getto sowie die Deportation nach Auschwitz und Buchenwald überlebte er wohl nur, weil er als mikrobiologischer Experte für die SS nützlich war. Als Fleck schließlich 1957 wegen anhaltender antisemitischer Hetze aus Polen nach Israel emigrierte, forschte er bis zu seinem Tod 1961 ausgerechnet in Nes Ziona, jenem biologischen Forschungsinstitut, das auch Zielen biologischer Kriegsführung dient.
Man muss so weit ausholen, um die Bedeutung des fast siebenhundert Seiten starken, von Sylwia Werner und Claus Zittel fabelhaft edierten und kommentierten Bandes zu ermessen. Mehrere Schriften Flecks werden erstmals in deutscher Übersetzung vorgestellt, einige Schriften sind überhaupt zum ersten Mal veröffentlicht. Erst mit dieser klugen Textzusammenstellung wird deutlich, dass Flecks Meisterwerk von 1935 in einen dichten, in erster Linie in Polen und zum Teil auch in Deutschland stattfindenden Diskussionszusammenhang eingewoben war.
Wenn Fleck nun als emblematische Figur des Zeitalters der Extreme, angesiedelt im Schnittbereich von österreichisch-deutscher und polnischer Kultur sowie von Natur- und Geisteswissenschaften gilt, so liegt das an mehreren glücklichen Entscheidungen der Herausgeber. Erstens haben sie auch einige der bakteriologischen Arbeiten Flecks integriert - nicht immer leichtverdauliche Kost, aber doch erhellend, um zu erkennen, wie sehr die Theorie der Denkstile und der wissenschaftlichen Gestaltwahrnehmung aus der wissenschaftlichen Praxis heraus gewachsen ist.
Zweitens geben die bislang wenig bekannten Erklärungen, Zeugenaussagen und Kommentare Flecks über seine Zeit im Lemberger Getto und in den Konzentrationslagern einen genaueren Einblick in die dramatischen Bedingungen, unter denen er den Holocaust überlebte. Der vor einigen Jahren von einer schwedischen Immunologin aufgewärmte Versuch, Fleck eine Kollaboration mit den Nazis bei ihren barbarischen Menschenversuchen zu unterstellen, erweist sich im Spiegel der verschiedenen Dokumente als ebenso plumpe wie widerwärtige Denunziation.
Drittens schließlich werden ausführliche Kontroversen mit der dem Wiener Kreis nahestehenden Philosophin Izydora Dambska und dem Medizinhistoriker Tadeusz Bilikiewicz abgedruckt, in denen Fleck seine Positionen klarstellte und verfeinerte. So war er sich 1939 völlig darüber im Klaren, dass seine These der Abhängigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis vom historischen Kontext demagogischen Parolen Tür und Tor öffnete. Wenn das Wissen ohnehin vom sozialen Kontext abhängig ist, war es dann nicht konsequent, wenn die Nationalsozialisten eine arische Wissenschaft und die Stalinisten eine proletarische Wissenschaft durchsetzten?
Dagegen argumentierte Fleck, dass Wissenschaft nie darin bestehen könne oder dürfe, für bestehende Ideologien die passenden Ergebnisse zu liefern, weil genau das dem vorläufigen Charakter wissenschaftlicher Erkenntnis widerspreche. Elemente von Denkstilen verändern sich laufend, und so entsteht eine Erkenntnisdynamik, der ein dogmatischer Wissensanspruch fremd ist. Genau in dieser Offenheit sah Fleck den größten Vorzug der Naturwissenschaften. Wenig überraschend, dass er ihnen die "einzige demokratische Denkart" zubilligte und sie damit als Modell für die Demokratie anpries. Mit dieser großartigen Edition werden endlich die historischen Bedingungen sichtbar, unter denen Fleck sein schmales, ungemein produktives wissenschaftsphilosophisches OEuvre entwickelt hat. Dabei gab es durchaus Konstanten - insbesondere sein Glaube an die kulturelle und humanistische Mission der Wissenschaft, die ständigen Gefahren ausgesetzt ist. In seinem letzten, erst postum veröffentlichten Text klagte er 1960, dass die Wissenschaft zu ihrem Schaden immer mehr zur Gehilfin von Politik und Industrie geworden sei.
Was soll man dazu im Abstand von fünfzig Jahren sagen? Man müsste wohl - zu Flecks Entsetzen - konstatieren, dass die Wissenschaft immer mehr den Denkstil von Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit angenommen hat. Nicht zuletzt, weil das so ist, gehören die Schriften Flecks - entgegen der Vermutung Schlicks - nach wie vor zum Lohnendsten, was man über Sein und Sollen der Wissenschaften lesen kann.
MICHAEL HAGNER.
Ludwik Fleck: "Denkstile und Tatsachen".
Gesammelte Schriften und Zeugnisse. Hrsg. v. Sylwia Werner, Claus Zittel u.a. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 682 S., br., 20,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Lea Haller schätzt diesen Band mit Schriften des Immunologen und Wissenschaftstheoretikers Ludwik Fleck (1896-1961). Sie würdigt den Autor als einen wichtigen Vertreter einer Soziologie des Wissens, der in seinen wichtigen Arbeiten gezeigt hat, dass Wissen immer auch Ausdruck und Niederschlag von zeit-, kultur- und gruppenbedingten Denkens ist. Der vorliegende Band "Denkstile und Tatsachen" kreist nach ihren Angaben ebenfalls um diese Themen, geht aber auch über sie hinaus. So findet sie darin u.a. Erstveröffentlichungen, Repliken von Kolleginnen und Kollegen, Fachbeiträgen aus der Immunologie, Berichte über Flecks Zeit in den Konzentrationslagern, Briefe, Rezensionen und Gutachten. Lobend äußert sich die Rezensentin insbesondere über die sorgfältige Kommentierung der Texte. Ihr Fazit: eine exzellente Werkausgabe.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Erst mit dieser klugen Textzusammenstellung wird deutlich, dass Flecks Meisterwerk ... in erster Linie in Polen und ... in Deutschland stattfindenden Diskussionszusammenhang eingewoben war.« Michael Hagner Frankfurter Allgemeine Zeitung 20111010