"So, wie wir denken, leben wir. Darum ist das Sammeln philosophischer Ideen mehr als ein Studium für Spezialisten. Es formt unseren Typ der Zivilisation."Alfred North Whitehead
Der englische Philosoph Alfred North Whitehead gilt heute als bedeutendster Erneuerer der Metaphysik und Naturphilosophie im 20. Jahrhundert. Denkweisen, sein letztes großes Werk, beschäftigt sich mit der Frage, welche Aufgabe der Philosophie in jenem schöpferischen und kulturellen Prozeß zukommt, den wir als Zivilisation bezeichnen. Whiteheads Buch ist ein leidenschaftliches Plädoyer für die Kraft der Spekulation als grundlegende Weise philosophischen Denkens.
Alfred North Whitehead (1861-1947) widmete sich nach Grundlagenarbeiten über die Mathematik naturphilosophischen Fragen. Nach seiner Auswanderung nach Amerika entwickelte Whitehead eine Prozeßmetaphysik, die zuerst in Wissenschaft und moderne Welt (stw 753) und dann insbesondere in Prozeß und Realität (stw 690) und Abenteuer der Ideen (stw 1498) ausgearbeitet wurde. Zuletzt erschien Kulturelle Symbolisierung (stw 1497).
Der englische Philosoph Alfred North Whitehead gilt heute als bedeutendster Erneuerer der Metaphysik und Naturphilosophie im 20. Jahrhundert. Denkweisen, sein letztes großes Werk, beschäftigt sich mit der Frage, welche Aufgabe der Philosophie in jenem schöpferischen und kulturellen Prozeß zukommt, den wir als Zivilisation bezeichnen. Whiteheads Buch ist ein leidenschaftliches Plädoyer für die Kraft der Spekulation als grundlegende Weise philosophischen Denkens.
Alfred North Whitehead (1861-1947) widmete sich nach Grundlagenarbeiten über die Mathematik naturphilosophischen Fragen. Nach seiner Auswanderung nach Amerika entwickelte Whitehead eine Prozeßmetaphysik, die zuerst in Wissenschaft und moderne Welt (stw 753) und dann insbesondere in Prozeß und Realität (stw 690) und Abenteuer der Ideen (stw 1498) ausgearbeitet wurde. Zuletzt erschien Kulturelle Symbolisierung (stw 1497).
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.07.2001Erst abstrakt wird's schön konkret
"Den Menschen", so sagte Bundeskanzler Schröder letzte Woche in seiner Ansprache vor der Deutschen Forschungsgemeinschaft, "den Menschen, wie das manchmal in der Diskussion geschieht, auf eine primär biologische Tatsache zu reduzieren, scheint mir nicht dem Geist der Aufklärung zu entsprechen, auf den wir uns alle so häufig berufen." Zu den Überraschungen der ethisch-rechtlichen Debatte um die Gentechnologie gehört die geschichtliche Umkehr des Reduktionismus-Vorwurfs. War der Reduktionismus bisher stets ein Kampfbegriff der Geisteswissenschaftler gegen die naturwissenschaftlichen "Nichts-als"-Vereinfacher, so scheint der Kanzler im Anschluß an Hubert Markl entschlossen, dieses hermeutische Monopol jetzt knacken zu wollen: Wer darauf aufmerksam macht, daß bereits im Zellhaufen der später voll entwickelte Mensch steckt und deshalb Menschenwürde von Anfang an reklamiert, wird von ihm als biologistischer Reduktionist getadelt, der nicht sehen will, daß der Mensch doch "mehr" ist als die Summe seiner Gene. Natürlich hat Schröder recht: Das Kriterium für Menschenwürde ist weder am Gen ablesbar, noch fällt es vom bioethischen Himmel, sondern ist das Ergebnis historisch-kultureller Zuschreibung. Aber gerade deshalb ergibt sich eine andere Pointe als die vom Kanzler gewollte. Gerade weil die Menschenwürde eine Sache der Zuschreibung ist, ein aufklärerischer Kulturakt, können wir sie nicht naturalistisch auf die Aktualität des Ich-Bewußtseins reduzieren, sondern müssen bereits die naturwissenschaftlich gegebene Potentialität, später einmal Ich-Bewußtsein zu entwickeln, mit dem Schutzfaktor Menschenwürde versehen. Nicht Reduktion, sondern Abstraktion ist also der Modus, der greift, wenn die naturale Basis des Menschen als Kriterium seiner Würde zugelassen und damit als Grund für alle weiteren Rechte gelegt wird. Abstraktion aber ist der elementare Ausdruck eines Bewußtseins, das darüber aufgeklärt ist, daß biologische Tatsachen nicht für sich selbst sprechen können, sondern alles Normative selbstverständlich Ergebnis unserer Zuschreibung ist. In diesem Sinne hat Jürgen Habermas den rationalen Kern einer Intuition freigelegt, die von der Materialität des Zellhaufens abstrahiert und "ihn in Antizipation seiner Bestimmung" wie eine zweite Person behandelt. Dabei ist das teleologische Kriterium der "Bestimmung", wenn man so will, ein gleichermaßen naturalistisches wie metaphysisches, kurzum: ein menschliches. Denn die Fähigkeit, dem Physischen eine (metaphysische) Bedeutung zu geben, es als biologische Tatsache kulturell zu entschlüsseln, entspricht genau jener Fähigkeit zur Abstraktion, die dem Menschen bereits in seinem artspezifischen Chromosomensatz eingeschrieben ist und ihn nun veranlaßt, diesem hochpotenten Chromosomensatz in einem Akt der Abstraktion die Menschenwürde zuzuschreiben. "Je abstrakter die Beschreibungen des Erklärten werden, desto abstrakter müssen auch die metaphysischen Deutungsversuche sein, die sich dessen annehmen, was jenseits des Erklärbaren liegt." Mit diesen Worten appelliert der Hirnforscher Wolf Singer in unserer heutigen Ausgabe (siehe Seite 47) an die Philosophie, im Blick auf die Dynamik wissenschaftlichen Fortschritts den gestiegenen Anforderungen an metaphysische Bezugssysteme nachzukommen. Tatsächlich bedarf es, um einer Instrumentalisierung der Aufklärung für einen faktischen Biologismus zu entgehen, wohl naturwissenschaftlicher Metaphysiker vom Schlage des britischen Philosophen und Mathematikers Alfred North Whitehead, dessen Spätwerk "Denkweisen" nun gerade zur rechten Zeit in deutscher Übersetzung vorliegt (herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von Stascha Rohmer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2001. 202 S., br., 19,90 DM). Eine Aktualisierung Whiteheads, seiner Kritik an der Atomisierung und Geometrisierung der konkreten Naturerfahrung, könnte der biopolitischen Debatte unserer Tage Kriterien vermitteln, die gewiß weiter tragen als die etwas hilflose Entgegensetzung von aufklärerischem und fundamentalistischem, von biologistischem und idealistischem Denken. Sie könnte daran erinnern, daß die anstehenden biopolitischen Entscheidungen uns vor eine grundsätzliche Wahl unserer Denkweise stellen. Das Ergebnis dieser Wahl wird mehr über uns aussagen, als uns lieb sein kann: Es formt, wie Whitehead schreibt, "unseren Typ der Zivilisation".
CHRISTIAN GEYER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Den Menschen", so sagte Bundeskanzler Schröder letzte Woche in seiner Ansprache vor der Deutschen Forschungsgemeinschaft, "den Menschen, wie das manchmal in der Diskussion geschieht, auf eine primär biologische Tatsache zu reduzieren, scheint mir nicht dem Geist der Aufklärung zu entsprechen, auf den wir uns alle so häufig berufen." Zu den Überraschungen der ethisch-rechtlichen Debatte um die Gentechnologie gehört die geschichtliche Umkehr des Reduktionismus-Vorwurfs. War der Reduktionismus bisher stets ein Kampfbegriff der Geisteswissenschaftler gegen die naturwissenschaftlichen "Nichts-als"-Vereinfacher, so scheint der Kanzler im Anschluß an Hubert Markl entschlossen, dieses hermeutische Monopol jetzt knacken zu wollen: Wer darauf aufmerksam macht, daß bereits im Zellhaufen der später voll entwickelte Mensch steckt und deshalb Menschenwürde von Anfang an reklamiert, wird von ihm als biologistischer Reduktionist getadelt, der nicht sehen will, daß der Mensch doch "mehr" ist als die Summe seiner Gene. Natürlich hat Schröder recht: Das Kriterium für Menschenwürde ist weder am Gen ablesbar, noch fällt es vom bioethischen Himmel, sondern ist das Ergebnis historisch-kultureller Zuschreibung. Aber gerade deshalb ergibt sich eine andere Pointe als die vom Kanzler gewollte. Gerade weil die Menschenwürde eine Sache der Zuschreibung ist, ein aufklärerischer Kulturakt, können wir sie nicht naturalistisch auf die Aktualität des Ich-Bewußtseins reduzieren, sondern müssen bereits die naturwissenschaftlich gegebene Potentialität, später einmal Ich-Bewußtsein zu entwickeln, mit dem Schutzfaktor Menschenwürde versehen. Nicht Reduktion, sondern Abstraktion ist also der Modus, der greift, wenn die naturale Basis des Menschen als Kriterium seiner Würde zugelassen und damit als Grund für alle weiteren Rechte gelegt wird. Abstraktion aber ist der elementare Ausdruck eines Bewußtseins, das darüber aufgeklärt ist, daß biologische Tatsachen nicht für sich selbst sprechen können, sondern alles Normative selbstverständlich Ergebnis unserer Zuschreibung ist. In diesem Sinne hat Jürgen Habermas den rationalen Kern einer Intuition freigelegt, die von der Materialität des Zellhaufens abstrahiert und "ihn in Antizipation seiner Bestimmung" wie eine zweite Person behandelt. Dabei ist das teleologische Kriterium der "Bestimmung", wenn man so will, ein gleichermaßen naturalistisches wie metaphysisches, kurzum: ein menschliches. Denn die Fähigkeit, dem Physischen eine (metaphysische) Bedeutung zu geben, es als biologische Tatsache kulturell zu entschlüsseln, entspricht genau jener Fähigkeit zur Abstraktion, die dem Menschen bereits in seinem artspezifischen Chromosomensatz eingeschrieben ist und ihn nun veranlaßt, diesem hochpotenten Chromosomensatz in einem Akt der Abstraktion die Menschenwürde zuzuschreiben. "Je abstrakter die Beschreibungen des Erklärten werden, desto abstrakter müssen auch die metaphysischen Deutungsversuche sein, die sich dessen annehmen, was jenseits des Erklärbaren liegt." Mit diesen Worten appelliert der Hirnforscher Wolf Singer in unserer heutigen Ausgabe (siehe Seite 47) an die Philosophie, im Blick auf die Dynamik wissenschaftlichen Fortschritts den gestiegenen Anforderungen an metaphysische Bezugssysteme nachzukommen. Tatsächlich bedarf es, um einer Instrumentalisierung der Aufklärung für einen faktischen Biologismus zu entgehen, wohl naturwissenschaftlicher Metaphysiker vom Schlage des britischen Philosophen und Mathematikers Alfred North Whitehead, dessen Spätwerk "Denkweisen" nun gerade zur rechten Zeit in deutscher Übersetzung vorliegt (herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von Stascha Rohmer. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2001. 202 S., br., 19,90 DM). Eine Aktualisierung Whiteheads, seiner Kritik an der Atomisierung und Geometrisierung der konkreten Naturerfahrung, könnte der biopolitischen Debatte unserer Tage Kriterien vermitteln, die gewiß weiter tragen als die etwas hilflose Entgegensetzung von aufklärerischem und fundamentalistischem, von biologistischem und idealistischem Denken. Sie könnte daran erinnern, daß die anstehenden biopolitischen Entscheidungen uns vor eine grundsätzliche Wahl unserer Denkweise stellen. Das Ergebnis dieser Wahl wird mehr über uns aussagen, als uns lieb sein kann: Es formt, wie Whitehead schreibt, "unseren Typ der Zivilisation".
CHRISTIAN GEYER
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Erst einmal ordnet Michael Hampe Alfred North Whitehead in die Philosophiegeschichte und ihre Tendenz um 1900 ein, noch einmal neu anfangen zu wollen, den Ballast der Tradition abzuwerfen. Whiteheads mit Bertrand Russell verfasste "Principia Mathematica" waren eines dieser auf der Logik aufbauenden Neubegründungswerke. Whiteheads Denken jedoch nahm, wie die beiden besprochenen Bände zeigen, bald eine andere Richtung.
1) Christoph Kann: "Fußnoten zu Platon"
In seinem Buch "Prozess und Realität" ist für Whitehead alle Philosophie nur eine Serie von "Fußnoten zu Platon". Die große Kluft zwischen Whitehead und den logischen Empiristen wurde spätestens hier, so Hampe, überdeutlich. Christoph Kann hat nun die erste deutschsprachige Monografie verfasst, die sich mit Whiteheads Geschichtsbild befasst. Es geht ihm dabei weniger um die Einflüsse auf Whitehead als um den eigenwilligen Blick Whiteheads zurück auf wichtige Denker, von dem man heute noch lernen könne: nicht zuletzt, dogmatisch gewordene Interpretationen aufzubrechen. Platons System hat dabei die grundlegende Stellung eines Auftrags an die Nachfolger, das von ihm initiierte System zu realisieren. "Systematizität" ist dabei das wichtigste Kriterium. Hampe, der vorwiegend referiert, bescheinigt dem Autor Kann großen "interpretativen Takt" in seinen Darstellungen.
2) Alfred North Whitehead: "Denkweisen"
Whiteheads letztes Buch ist soeben in deutscher Sprache erschienen. Darin beschäftigt er sich mit den Begriffen, die außerhalb des Systematischen liegen und dennoch von großer Bedeutung dafür sind: Begriffe wie "Ausdruck", "Verstehen", "Perspektive" und andere. Michael Hampe entdeckt Ähnlichkeiten zu Fragestellungen Richard Rortys. Das Fazit Whiteheads ist positiv: philosophische Systeme und Fragen sind notwendig, damit Zivilisationen sich "halbwegs verstehen und ausdrücken" können. Der Rezensent kann diese Perspektive nur unterstützen und wünscht sich, dass "dieses abgeklärte und positive Verständnis philosophischer Systematik" stärkeren Einfluss bekäme. Sehr kritisch äußert er sich jedoch zur deutschen Übersetzung des Bandes.
© Perlentaucher Medien GmbH
1) Christoph Kann: "Fußnoten zu Platon"
In seinem Buch "Prozess und Realität" ist für Whitehead alle Philosophie nur eine Serie von "Fußnoten zu Platon". Die große Kluft zwischen Whitehead und den logischen Empiristen wurde spätestens hier, so Hampe, überdeutlich. Christoph Kann hat nun die erste deutschsprachige Monografie verfasst, die sich mit Whiteheads Geschichtsbild befasst. Es geht ihm dabei weniger um die Einflüsse auf Whitehead als um den eigenwilligen Blick Whiteheads zurück auf wichtige Denker, von dem man heute noch lernen könne: nicht zuletzt, dogmatisch gewordene Interpretationen aufzubrechen. Platons System hat dabei die grundlegende Stellung eines Auftrags an die Nachfolger, das von ihm initiierte System zu realisieren. "Systematizität" ist dabei das wichtigste Kriterium. Hampe, der vorwiegend referiert, bescheinigt dem Autor Kann großen "interpretativen Takt" in seinen Darstellungen.
2) Alfred North Whitehead: "Denkweisen"
Whiteheads letztes Buch ist soeben in deutscher Sprache erschienen. Darin beschäftigt er sich mit den Begriffen, die außerhalb des Systematischen liegen und dennoch von großer Bedeutung dafür sind: Begriffe wie "Ausdruck", "Verstehen", "Perspektive" und andere. Michael Hampe entdeckt Ähnlichkeiten zu Fragestellungen Richard Rortys. Das Fazit Whiteheads ist positiv: philosophische Systeme und Fragen sind notwendig, damit Zivilisationen sich "halbwegs verstehen und ausdrücken" können. Der Rezensent kann diese Perspektive nur unterstützen und wünscht sich, dass "dieses abgeklärte und positive Verständnis philosophischer Systematik" stärkeren Einfluss bekäme. Sehr kritisch äußert er sich jedoch zur deutschen Übersetzung des Bandes.
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