Die Angst vor den Bomben, eine Kindheit im Krieg - damit beginnen Helmut Lethens Erinnerungen, die durch mehr als sieben Jahrzehnte bundesdeutscher Geschichte führen: der Schock, als er mit achtzehn Jahren in Alain Resnais' Film «Nacht und Nebel» zum ersten Mal mit dem Holocaust konfrontiert ist. Das Gefühl der Befreiung, als er vom biederen Bonn in das viel liberalere Amsterdam zieht, um dort zu studieren. Schließlich das von Aufruhr und Protest aufgewühlte Berlin: Hier demonstriert Lethen 1967 gegen den Besuch des Schahs, und bald agitiert er als Sprecher der Kampagne für ein Kinderkrankenhaus in Kreuzberg an vorderster Front. Die maoistische K-Gruppe schließt Lethen wegen «Versöhnlertums» aus, dennoch trifft ihn der «Radikalenerlass», das Berufsverbot in Deutschland - das sich als unfreiwillige Chance erweist: In den Niederlanden schreibt Lethen die «Verhaltenslehren der Kälte», in denen er das Verhältnis von Geist und Politik im 20. Jahrhundert auf ganz neue und bis heuteaktuelle Weise ausgeleuchtet hat.
Helmut Lethen berichtet in seiner Autobiographie, was ihn geprägt hat: von politischen und denkerischen Experimenten, von Weggefährten sowie Ideengebern wie Adorno und Enzensberger. Ein Entwicklungsroman der Bundesrepublik - wie ihn nur noch wenige Intellektuelle zu erzählen vermögen.
Helmut Lethen berichtet in seiner Autobiographie, was ihn geprägt hat: von politischen und denkerischen Experimenten, von Weggefährten sowie Ideengebern wie Adorno und Enzensberger. Ein Entwicklungsroman der Bundesrepublik - wie ihn nur noch wenige Intellektuelle zu erzählen vermögen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2020Einsicht in die Hydraulik sozialer Gefühle
Von einem autobiographischen Zug leben seine Bücher ohnehin: Jetzt legt der Kulturwissenschaftler und Germanist Helmut Lethen seine Erinnerungen vor, in denen die Studentenbewegung eine große Rolle spielt.
Von Stephan Wackwitz
Gelehrten(auto)biographien sind ein paradoxes Genre. Wenn Bücher gesellschaftlich wirkmächtig und ihre Autoren geschichtliche Personen geworden sind, haben sie deren Zeit und Energie erfahrungsgemäß so nachhaltig in Anspruch genommen, dass über ihr Leben wenig zu erzählen bleibt. "Aristoteles wurde geboren, arbeitete und starb" - diesen Satz hielt Martin Heidegger für die ideale Philosophenbiographie. So werden die Abenteuer ins Innere verlegt. Die Spannung entsteht mit der Frage: Wie kamen jene Denker und Schreiber innerlich von A nach B?
Die Autobiographie des Literaturwissenschaftlers Helmut Lethen ist ein so anregendes Buch, weil seine akademischen Arbeiten zwar einerseits den Standards seiner Zunft entsprechen (man könnte sagen: sich durch die Erfüllung dieser Standards tarnen), zugleich aber untergründig von einem autobiographischen Zug geprägt sind - der übrigens wahrscheinlich das Zentrum alles authentischen und deshalb wirksamen Denkens bildet. Diese halb verschwiegene autobiographische Intention zeigt sich in Lethens marxistischen Untersuchungen aus seiner maoistisch gestimmten Anfangszeit ebenso wie in den "Verhaltenslehren der Kälte" (die in seinen beiden niederländischen Jahrzehnten entstanden). Und in seiner vorletzten Veröffentlichung, den Geistergesprächen der "Staatsräte" (F.A.Z. vom 10. März 2018), spiegeln sich unübersehbar die familiären Dispute mit seiner 2015 intellektuell nach Schnellroda ausgewanderten Ehefrau Caroline Sommerfeld.
Der Glutkern seiner bei aller akademischen Gediegenheit oft überraschend idiosynkratischen und poetischen Sätze ist eine existentielle, bis ins Körperliche hineinreichende Teilhabe an den Kämpfen seiner Zeit. Eine Hydraulik gesellschaftlicher Gefühle wird lesbar: "In den ML-Parteien wurden militante Energien in den symbolischen Praktiken aufgebraucht" (und damit neutralisiert: einer von Lethens Kerngedanken über die Politsekten der siebziger Jahre); "Mich fesselte der mit einer sozialen Rolle gepanzerte Körper"; "September 1964 wurden die Bewegungsenergien mit einem politischen Vektor versehen, der im kinetischen Traum von ,Twist and Shout' nicht vorgekommen war." Lethens Wissenschaft ist erfahrungsgesättigt und körpernah: "kinetisch".
Der autobiographische Zug macht sein Lebenswerk mit dem anderer Semi-Aussenseiter des Wissenschaftsbetriebs vergleichbar, zum Beispiel mit demjenigen Karl Heinz Bohrers, der bezeichnenderweise kürzlich ebenfalls autobiographische Bücher vorgelegt hat; oder mit dem körpernahen Philosophieren Peter Sloterdijks. Wie die guten Toreros arbeitet Helmut Lethen "nah am Stier".
Der wichtigste lebenspraktische Kristallisationskern, dem sich seine Forschungsinteressen und Publikationen nach 1968 anlagerten, bestand in der "Furcht, in der Umwelt der Lebensstilexperimente, im Strudel der zerfallenden Studentenbewegung, die Fassung zu verlieren und ziellos davonzutreiben". Lethen ist, soweit man sehen kann, der einzige Zeitzeuge des linken Studentenprotests, der sozusagen mit dem eigenen Leib verstanden hat, in wie verstörende seelische Tiefen die "rebellische Energie" der Bewegung jene Generation aufgewühlt hat und wie viele ihrer Protagonisten den inneren Kräften, die sie mit ihren Aktionen entbunden hatten, eigentlich gar nicht gewachsen waren. "Horlemann war mir unheimlich. Und das ging nicht nur mir so."
Jeder, der damals dabei war, erinnert sich heute an gescheiterte Existenzen. Selbstmorde, Drogenkarrieren, Psychosen. Was lag für einen jungen Wissenschaftler, dem - blessing in disguise! - ein Ausschlussverfahren der KPD/ML-Oberen zugestoßen war, näher, als seine Seele zu retten, indem er sich mit den neustoischen Verhaltenslehren der Kälte befasste, die zwischen den Kriegen einen inneren Raum der "désinvolture" geschaffen hatten. Dieses geistige Milieu ist nach seinem ML-Ausschluss 1975 Lethens Lebensthema geworden. "Die Faszination, die von Schmitts Schriften der zwanziger Jahre für mich ausging, macht mir bis heute Kopfzerbrechen. Ist es das Spartanische seiner Sprache? Ist es die Schwärze seiner Anthropologie, die in dem Diktum mündet: ,Der Mensch ist dem Menschen ein Mensch'? Zuweilen betrachtete ich Schmitt als gefallenen Engel, als Luzifer, der die Fackel des Begriffs in das vom Liberalismus verschleierte Reich der Gewalt bringen wollte."
Lethens Wiederentdeckung der in den zwanziger Jahren wiederaufgenommenen und modernisierten neustoischen Lebenskunst hat - wie auf andere Weise Sloterdijks "Kritik der zynischen Vernunft" - einen vergessenen und durch den Weltkrieg verschütteten historischen Resonanzraum für gegenwärtige Diskurse wiedergewonnen. Wozu passt, dass sein Buch in den neunziger Jahren so berühmt war wie dasjenige Sloterdijks in den Achtzigern. Eine innere Form und "Fassung", die auf der millenarischen Suche nach dem politisch absolut Guten verlorengegangen war, wurde im realistisch-heroischen Blick auf das unbesiegte Böse wiedergewonnen.
Helmut Lethens "Selbsterlebensbeschreibung" ist allerdings auch deshalb ein so faszinierendes Buch, weil es - ohne das eigentlich zu wollen - dokumentiert, wie fern auch hochbegabte deutsche Linke den befreienden Impulsen und Perspektiven des klassischen (vor allem angelsächsischen) Liberalismus lange Zeit geblieben sind. Lethens ehemaliger Genosse Christian Semler hat das Glück gehabt, mit dieser geistigen Befreiung in den Wohnküchen polnischer Oppositioneller lebenspraktische Bekanntschaft zu machen. Dort gaben weder Lenins "Staat und Revolution" die Koordinaten der Diskussion und Aktion vor noch Carl Schmitts Schrift über den "Begriff des Politischen", sondern die Bücher Karl Poppers, John Deweys und Isaiah Berlins. Für Lethen scheint der klassische Liberalismus, jedenfalls in der für ihn typischen existentiellen Intensität, erst spät zum Thema geworden zu sein - in der Auseinandersetzung mit seiner Frau. "Den ,echt' Liberalen zeichnen immer mehrere Identitäten aus, seine ethnische ist nicht nennenswert", hält er ihren völkisch-"identitären" Irrwegen entgegen. "Wer die Akteure auf eine einzige Identität verpflichtet, will die Geschichte stilllegen."
Auch vielen klugen "Achtundsechzigern" - diesen Eindruck nimmt man aus der Lektüre dieser im besten Sinn zeitgenössischen Autobiographie mit - geht erst jetzt auf, dass die offene Gesellschaft keine Verschleierung des Reiches der Gewalt ist, sondern eine Utopie, der kein Reich der Gewalt standhält, wenn sie die Massen erst einmal (wie dieser Tage in Belarus) ergreift.
Helmut Lethen: "Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug". Erinnerungen.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2020. 384 S., geb., 24,- [Euro].
Erscheint am 13. Oktober.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von einem autobiographischen Zug leben seine Bücher ohnehin: Jetzt legt der Kulturwissenschaftler und Germanist Helmut Lethen seine Erinnerungen vor, in denen die Studentenbewegung eine große Rolle spielt.
Von Stephan Wackwitz
Gelehrten(auto)biographien sind ein paradoxes Genre. Wenn Bücher gesellschaftlich wirkmächtig und ihre Autoren geschichtliche Personen geworden sind, haben sie deren Zeit und Energie erfahrungsgemäß so nachhaltig in Anspruch genommen, dass über ihr Leben wenig zu erzählen bleibt. "Aristoteles wurde geboren, arbeitete und starb" - diesen Satz hielt Martin Heidegger für die ideale Philosophenbiographie. So werden die Abenteuer ins Innere verlegt. Die Spannung entsteht mit der Frage: Wie kamen jene Denker und Schreiber innerlich von A nach B?
Die Autobiographie des Literaturwissenschaftlers Helmut Lethen ist ein so anregendes Buch, weil seine akademischen Arbeiten zwar einerseits den Standards seiner Zunft entsprechen (man könnte sagen: sich durch die Erfüllung dieser Standards tarnen), zugleich aber untergründig von einem autobiographischen Zug geprägt sind - der übrigens wahrscheinlich das Zentrum alles authentischen und deshalb wirksamen Denkens bildet. Diese halb verschwiegene autobiographische Intention zeigt sich in Lethens marxistischen Untersuchungen aus seiner maoistisch gestimmten Anfangszeit ebenso wie in den "Verhaltenslehren der Kälte" (die in seinen beiden niederländischen Jahrzehnten entstanden). Und in seiner vorletzten Veröffentlichung, den Geistergesprächen der "Staatsräte" (F.A.Z. vom 10. März 2018), spiegeln sich unübersehbar die familiären Dispute mit seiner 2015 intellektuell nach Schnellroda ausgewanderten Ehefrau Caroline Sommerfeld.
Der Glutkern seiner bei aller akademischen Gediegenheit oft überraschend idiosynkratischen und poetischen Sätze ist eine existentielle, bis ins Körperliche hineinreichende Teilhabe an den Kämpfen seiner Zeit. Eine Hydraulik gesellschaftlicher Gefühle wird lesbar: "In den ML-Parteien wurden militante Energien in den symbolischen Praktiken aufgebraucht" (und damit neutralisiert: einer von Lethens Kerngedanken über die Politsekten der siebziger Jahre); "Mich fesselte der mit einer sozialen Rolle gepanzerte Körper"; "September 1964 wurden die Bewegungsenergien mit einem politischen Vektor versehen, der im kinetischen Traum von ,Twist and Shout' nicht vorgekommen war." Lethens Wissenschaft ist erfahrungsgesättigt und körpernah: "kinetisch".
Der autobiographische Zug macht sein Lebenswerk mit dem anderer Semi-Aussenseiter des Wissenschaftsbetriebs vergleichbar, zum Beispiel mit demjenigen Karl Heinz Bohrers, der bezeichnenderweise kürzlich ebenfalls autobiographische Bücher vorgelegt hat; oder mit dem körpernahen Philosophieren Peter Sloterdijks. Wie die guten Toreros arbeitet Helmut Lethen "nah am Stier".
Der wichtigste lebenspraktische Kristallisationskern, dem sich seine Forschungsinteressen und Publikationen nach 1968 anlagerten, bestand in der "Furcht, in der Umwelt der Lebensstilexperimente, im Strudel der zerfallenden Studentenbewegung, die Fassung zu verlieren und ziellos davonzutreiben". Lethen ist, soweit man sehen kann, der einzige Zeitzeuge des linken Studentenprotests, der sozusagen mit dem eigenen Leib verstanden hat, in wie verstörende seelische Tiefen die "rebellische Energie" der Bewegung jene Generation aufgewühlt hat und wie viele ihrer Protagonisten den inneren Kräften, die sie mit ihren Aktionen entbunden hatten, eigentlich gar nicht gewachsen waren. "Horlemann war mir unheimlich. Und das ging nicht nur mir so."
Jeder, der damals dabei war, erinnert sich heute an gescheiterte Existenzen. Selbstmorde, Drogenkarrieren, Psychosen. Was lag für einen jungen Wissenschaftler, dem - blessing in disguise! - ein Ausschlussverfahren der KPD/ML-Oberen zugestoßen war, näher, als seine Seele zu retten, indem er sich mit den neustoischen Verhaltenslehren der Kälte befasste, die zwischen den Kriegen einen inneren Raum der "désinvolture" geschaffen hatten. Dieses geistige Milieu ist nach seinem ML-Ausschluss 1975 Lethens Lebensthema geworden. "Die Faszination, die von Schmitts Schriften der zwanziger Jahre für mich ausging, macht mir bis heute Kopfzerbrechen. Ist es das Spartanische seiner Sprache? Ist es die Schwärze seiner Anthropologie, die in dem Diktum mündet: ,Der Mensch ist dem Menschen ein Mensch'? Zuweilen betrachtete ich Schmitt als gefallenen Engel, als Luzifer, der die Fackel des Begriffs in das vom Liberalismus verschleierte Reich der Gewalt bringen wollte."
Lethens Wiederentdeckung der in den zwanziger Jahren wiederaufgenommenen und modernisierten neustoischen Lebenskunst hat - wie auf andere Weise Sloterdijks "Kritik der zynischen Vernunft" - einen vergessenen und durch den Weltkrieg verschütteten historischen Resonanzraum für gegenwärtige Diskurse wiedergewonnen. Wozu passt, dass sein Buch in den neunziger Jahren so berühmt war wie dasjenige Sloterdijks in den Achtzigern. Eine innere Form und "Fassung", die auf der millenarischen Suche nach dem politisch absolut Guten verlorengegangen war, wurde im realistisch-heroischen Blick auf das unbesiegte Böse wiedergewonnen.
Helmut Lethens "Selbsterlebensbeschreibung" ist allerdings auch deshalb ein so faszinierendes Buch, weil es - ohne das eigentlich zu wollen - dokumentiert, wie fern auch hochbegabte deutsche Linke den befreienden Impulsen und Perspektiven des klassischen (vor allem angelsächsischen) Liberalismus lange Zeit geblieben sind. Lethens ehemaliger Genosse Christian Semler hat das Glück gehabt, mit dieser geistigen Befreiung in den Wohnküchen polnischer Oppositioneller lebenspraktische Bekanntschaft zu machen. Dort gaben weder Lenins "Staat und Revolution" die Koordinaten der Diskussion und Aktion vor noch Carl Schmitts Schrift über den "Begriff des Politischen", sondern die Bücher Karl Poppers, John Deweys und Isaiah Berlins. Für Lethen scheint der klassische Liberalismus, jedenfalls in der für ihn typischen existentiellen Intensität, erst spät zum Thema geworden zu sein - in der Auseinandersetzung mit seiner Frau. "Den ,echt' Liberalen zeichnen immer mehrere Identitäten aus, seine ethnische ist nicht nennenswert", hält er ihren völkisch-"identitären" Irrwegen entgegen. "Wer die Akteure auf eine einzige Identität verpflichtet, will die Geschichte stilllegen."
Auch vielen klugen "Achtundsechzigern" - diesen Eindruck nimmt man aus der Lektüre dieser im besten Sinn zeitgenössischen Autobiographie mit - geht erst jetzt auf, dass die offene Gesellschaft keine Verschleierung des Reiches der Gewalt ist, sondern eine Utopie, der kein Reich der Gewalt standhält, wenn sie die Massen erst einmal (wie dieser Tage in Belarus) ergreift.
Helmut Lethen: "Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug". Erinnerungen.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2020. 384 S., geb., 24,- [Euro].
Erscheint am 13. Oktober.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Rezensent Katharina Teutsch liest Helmut Lethens intellektuelle Autobiografie als Bericht aus der Kälte. Lethens Rekonstruktion seines Denkens aus dem Geist der KPD, den Schriften Carl Schmitts, Ernst Jüngers und Adornos und der grauen Parteiarbeit jagt Teutsch Kälteschauer über die Haut, weil es in diesem Rechenschaftsbericht vor allem um männliche Tugenden wie Selbstkontrolle, Kampf und Gewinnen geht, wie sie feststellt. Als Blick in die (Männer-)Seele einer verunsicherten Generation scheint ihr das Buch allerdings höchst aufschlussreich - für Ideenhistoriker wie für politisch Interessierte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.10.2020Musterschüler
der Revolution
Helmut Lethens Lebenserinnerungen lesen sich
wie die Autobiografie einer Generation
VON WILLI WINKLER
Nach fünf Jahren Parteiarbeit wurde Helmut Lethen 1975 wegen „Versöhnlertums“ aus der KPD/AO ausgeschlossen. Eine Gastritis kam dazu, aber der Kaderbeauftragte ließ sich nicht täuschen und sagte ihm auf den Leib zu: „Du hast kein Magengeschwür, sondern Angst vor den Massen.“ Die Massen selber kannten keine Angst, sie waren so vernünftig, einer maoistischen Splitterpartei fernzubleiben, die auch zu ihren besten Zeiten nie mehr als sechshundert Mitglieder hatte.
So winzig klein diese AO (für Aufbauorganisation) war, es gehörten ihr trotz Berufsverbot und wiederholter Sinnkrise auffallend viele Kulturträger an, darunter Christian Semler, Karl Schlögel und Jörg Immendorf. Willi Jasper, ein weiterer ehemaliger Parteisoldat, erzählt in seinem Bericht „Der gläserne Sarg“, wie der Maler später fast schon verzweifelt nach seinen verschollenen Agitprop-Arbeiten forschte. Aus Vorsicht und weil sie mehr oder weniger bewusst die politischen Auseinandersetzungen der Weimarer Zwischenkriegszeit nachspielten, verbargen sich die Parteiaktivisten unter Decknamen, trafen sich als gute Verschwörer an klandestinen Orten und misstrauten einander, weil alle den Verrat witterten. Für den Verfassungsschutz, der diese Radikalen vom öffentlichen Dienst fernhalten sollte, waren sie, wie sie Jahre später enttäuscht erfuhren, „transparent wie ein Glas Wasser“.
Wenn er sein Leben erzählt, bemüht sich Helmut Lethen seinerseits um Transparenz und scheint doch selber, während er sich mit der gerunzelten Stirn des Forschers darüber beugt, über nichts mehr als dieses Leben zu staunen. Er eröffnet seine Autopsie mit einer opaken Bemerkung Adornos zur „Einsicht ins Dinghafte der Person selbst“ und kommt auch später immer wieder auf das Thema Ich – Nicht-Ich zurück. Die Frage der Identität beschäftigt ihn, seit er mit zwanzig „Stiller“ von Max Frisch las: „Ich beschloss, wie Stiller, kein Charakter zu werden.“ Die Frage beschäftigt ihn bis heute, wenn er gezwungen ist, über die politische Identitätssuche seiner Frau Caroline Sommerfeld nachzudenken.
Bei der KPD war er als „Theo Risse“ getarnt (der Literaturkritiker stöhnt bei dieser Namenswahl, der Psychoanalytiker jauchzt!), unter seinem eigenen Namen wurde Lethen bekannt mit den „Verhaltenslehren der Kälte“ in der Literatur der Neuen Sachlichkeit. Das Stichwort verdankte er dem zehn Jahre älteren Benn-Schüler Hans Magnus Enzensberger, der den „Kältepol des Bewusstseins“ entdeckt hatte. Enzensberger wird auch mit seiner Gleichsetzung von Politik und Verbrechen maßgeblich. „Seine Formel von der Naturmacht des Bösen war zu griffig, um falsch zu sein. (...) Man kann sich unser Misstrauen gegen den Rechtsstaat heute kaum noch vorstellen.“
Wie für die fast gleichaltrige Pfarrerstochter Gudrun Ensslin bringt Alain Resnais’ Auschwitz-Film „Nacht und Nebel“ eine politische und moralische Erweckung, und die lebensbestimmende Bedeutung von „Twist and Shout“ von den Beatles wird nicht unterschlagen. Dankbar wird der frühen Erzählungen Heinrich Bölls gedacht, in denen Lethen den „Existentialismus der Müdigkeit“ spürt. „Müdigkeit schützt vor Pathos“ erkennt er später und gibt zugleich zu, dass er selber diese Erkenntnis nicht immer befolgt hat. Für den „Zauberberg“, da ist er bereits an der Uni, nimmt er drei Tage krank. Brecht kommt ins Spiel – er liefert auch den melancholischen Titel „Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug“ –, dann Gottfried Benn, Jürgen Habermas, später Peter Handke. Als wäre auch dieses eine Leben nichts als Literatur, wird sogar das Auftauchen und Verschwinden einer V 2, das der Fünfjährige erlebt hat, in der Rückschau mit der Anspielung auf ein Liebesgedicht von Brecht ausgemalt.
Wer mag, kann diese Memoiren als Rechenschaftsbericht oder sogar als Bekenntnis einer Generation lesen, die durch Vietnam, den Mord an Benno Ohnesorg, überhaupt die deutschen Zustände extrem politisiert und später extrem enttäuscht wurde, sich am Ende aber mit den Zuständen und insbesondere dem Rechtsstaat arrangiert hat. Lethens Buch ist das alles, aber vor allem ein echter Bildungsroman. An dieser Generation, von der um 1970 eine kleine radikale Minderheit unter wortarmen Transparenten durch die Straßen lief, nagte nach dem Krieg ein wütender Hunger, ein Hunger nach Literatur, nach Worten, die gegen das Schweigen der Väter helfen mussten.
Lethen erinnert sich an die „Stickluft des innenpolitischen Klimas der Adenauerzeit“ und die Rettung aus diesem Treibhaus: „In verschlossene Archive einzudringen, Antiquariate zu durchkämmen, Schulbücher zu säubern, bei französischen, chilenischen und amerikanischen Studentinnen und Studenten unterzuhaken und im gleichen Zeitraum eine wissenschaftliche Arbeit zu verfassen, die Neuland erschloss, das war reines, das heißt arbeitsintensives Glück.“
Arbeit heißt Forschung und Lehre, doch ist Lethens Buch weit besser durchlüftet, als es Professorenmemoiren sonst sind. Dafür hat schon der Radikalenerlass gesorgt, die heute vergessene Kehrseite von Willy Brandts Versprechen, „mehr Demokratie“ zu wagen. Lethen unterrichtete an der privaten Gabbe-Schule, wo er weitere Opfer wie Peter Schneider und Rüdiger Safranski als Kollegen hatte. Im Umweg über die Niederlande gelang dann doch noch eine ordentliche Laufbahn zum Professor.
Am Anfang der politischen Laufbahn steht der vorgeschriebene Klassenverrat, aber ausnahmsweise kein evangelisches Pfarrhaus. Der Vater, sportbegeisterter Mittelständler, Parteimitglied seit 1928, kehrt als degradierter Offizier aus Krieg und Gefangenschaft zurück, „kein Krieger“; er hat sogar den Liebhaber der Mutter zu dulden. Gleich zwei Mal muss das erzählt werden, denn der Sohn erkennt den liebenswürdigen Schwächling wieder in Alexander Mitscherlichs Studie über die „vaterlose Gesellschaft“. Als „westdeutscher Musterschüler“ geht Lethen nach dem Abitur generationstypisch zur Bundeswehr, wo er auf einen weiteren Musterschüler wie Rainer Langhans hätte treffen können.
Es kommt der Verrat an der Literatur dazu. Safranski muss noch heute mit seiner hemmungslosen Klassikeranbetung Abbitte dafür leisten, dass er einmal ebenso eifrig zur „Entwicklung der Arbeiterliteratur in der Bundesrepublik“ dissertiert hat. In der Arbeitsgruppe der KPD ging es streng zu, da wusste man, dass die „Widerspiegelung der Wirklichkeit nur auf der Basis der politischen Diagnose und Strategie der KPD gelingen“ könne. Die Sprache in „Berlin Alexanderplatz“ ist den Literaturkommissaren nicht proletarisch genug, weil Alfred Döblin dem Biberkopf ein Schicksal zudenkt und sich weigert, Geschichte nach Maßgabe des Marxismus-Leninismus als „planbares Großprojekt“ darzustellen. Hätte er es nur mit dem eminenten Literaturtheoretiker Mao Tse-tung gehalten, der auf der Parteikonferenz von Yenan empfehlen sollte, mit dem „Brauchbaren aus der Sprache der Volksmassen“ zu agitieren!
Die kurze Ära der K-Gruppen, davon legt Lethen am eigenen Beispiel das beste Zeugnis ab, war einfach nur furchtbar. Erst sehr viel später konnten er und die Seinen über das „Leben des Brian“ lachen, über den im Film existenziellen, wenn nicht sogar himmelweiten Unterschied zwischen der „Judäischen Volksfront“ und der „Volksfront von Judäa“, nämlich als sie merkten, dass da über sie gespottet wurde, die „grimmigen Komiker“, die sich in den verwirrend vielen K-Gruppen organisiert hatten und je nach Programm und Finanzierung nach Ost-Berlin, Peking, Pnom Penh, Pjöngjang oder Tirana beteten.
Bei Richard Alewyn hatte der Student Lethen Klopstocks Oden nachgehorcht, er war verzaubert, wie der Philologe Eichendorffs Landschaft deutete. Mit Walter Benjamin im Rücken war aber nicht mehr die Literatur, sondern die Germanistik der Anwendungsfall. Sachlichkeit bedeutete mit einem Mal, in der Ad-Hoc-Gruppe das Berliner Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft zu überfallen, also Peter Szondis „Elfenbeinturm“ in einem „Furor des Gleichmachens“ zu schleifen. Szondi war der Stellvertreter des Hl. Benjamin auf Erden, doch die an dessen „destruktivem Charakter“ geschulten Marodeure kannten kein Erbarmen, räumten Szondis Schreibtisch leer, klauten seine Bücher. Der Feingeist aber beschämte die Aktivisten und weigerte sich, dem Druck der Hochschulleitung nachzugeben und die Studenten anzuzeigen. Lethen, fünfzig Jahre später, voll der Reue: „In mancher Hinsicht waren wir Barbaren Wegbereiter von Bologna.“
Erst nachträglich kommen ihm Zweifel an seiner Sachlichkeitsrüstung. Die Szondi-Schülerin Henriette Beese, die später Marcel Proust übersetzen sollte, damals Genossin, schrieb in den gemeinsam betreuten Berliner Heften anlässlich einer Retrospektive der Filme mit dem Schauspieler Conrad Veidt (der Cesare im „Cabinet des Dr. Caligari“ und der Major Strasser in „Casablanca“) über die Affektabwehr ihrer Generation, die sich auf die „Schreibweise der Kälte“ beruft. Lethen weiß, dass er gemeint ist: „Intellektuelle mögen es noch goutieren, wenn Kühle, Glätte, Konstruiertheit, Leere zum Stilisationsprinzip erhoben werden, sie mögen es auch narzisstisch genießen, wenn auf der Leinwand ähnlich unbedeutende Personen wie sie selbst stundenlang ähnlich dummes Zeug wie sie selbst hinterher in der Kneipe reden; einem großen Publikum scheint es offenbar nicht besonders aufregend, wenn ihm im Kino oder auf dem Bildschirm die möglichst getreu nachgemachte Arbeitswelt nebst einem realitätsnahen Problem gezeigt wird. Vielleicht hat das große Publikum ausnahmsweise recht.“
Wer die K-Zeit zufällig nicht erlebt hat, wird immerhin mit Anekdoten verwöhnt. Zum Beispiel mit der Geschichte, wie der betagte Reformpädagoge Theodor Litt in seiner Vorlesung eine kunstvoll eröffnete Satzperiode unterbricht, um eine Studentin, die zu spät kommt und eine Entschuldigung stammelt, aus dem Saal zu werfen, und dann den hochkomplexen Satz fortzusetzen. Oder mit einem Adorno, der bei einem Studienabend mit Beatles- und Rolling-Stones-Songs geärgert werden soll, der Fun aber Stahlbad sein lässt und sich beim Wein mit einer Freundin amüsiert. Oder mit Peter Sloterdijk, der bei einem Besuch morgens ein Tonband mit der eigentümlichen Trias aus Eisenbahngeräuschen, Vogellauten aus Poona und der Stimme seines indischen Gurus laufen lässt.
„Die historische Konstellation hat mehr aus uns herausgeholt, als drin war!“ seufzt Lethen einmal. Trotz der „glücklichen Jahre in der Studentenbewegung“ ist die Revolution ausgeblieben, aber die affektive Bindung wird nicht unterschlagen. Bei der Demonstration gegen den kongolesischen Staatschef Moise Tschombé kam er 1964 in Kontakt mit Rudi Dutschkes Lederjacke, die er tragen sollte, um die Polizei abzulenken. Drei Jahre später haben die guten Berliner einen Langhaarigen fast totgeprügelt, weil sie ihn für Dutschke hielten. Lethen hatte Glück, er musste die Jacke gleich wieder abgeben, „unmöglich, dass ein gerade Zugezogener die Jacke des Charismatikers länger als zehn Minuten trug“.
Der Literatur- wandelt sich im Lauf seiner Karriere zum Kulturwissenschaftler und Lethen muss konstatieren, dass wie schon in der KPD „die Wirklichkeit“ der blinde Fleck seiner Wissenschaft ist. Umso größer das Erschrecken über die Wirklichkeit, die sich 1995 in der Wehrmachtsausstellung zeigt, organisiert von Hannes Heer, einem weiteren Genossen, der einst für einen Sozialismus kämpfte, „in dem die Massen bestimmen“. Ohne weitere Metaphern und literarische Verkleidung prangerten die Bilder die Verbrechen der Vätergeneration an.
Wenn einer die achtzig überschritten hat, wird sich sein Leben fast unvermeidlich zur Erfolgsgeschichte runden. Es fehlt nicht an akademischer Anerkennung, und dann kommt auch noch eine junge Frau dazu, in die sich der ältere Professor vor einem Rosenstrauch, aber – so viel Kälte, soviel Benn muss sein – neben dem Hörsaal der Hautklinik mit ihren detaillierten anatomischen Zeichnungen verliebt. Caroline Sommerfeld verwandelt sich fast über Nacht in eine Propagandistin der Kubitschek-Rechten und beruft sich wie zum Hohn auch noch auf seine Bücher zur Schreibweise der Kälte. Das Kapitel, in dem er diese Entwicklung begrübelt, ist, wie könnte es anders sein, überschrieben mit: „Der Riss der Evidenz“.
Lethen kann sich das Abirren seiner Frau nicht erklären, trotz Brecht wird er nicht schlau daraus. War am Ende doch alles Literatur? Schön wär’s.
Helmut Lethen: Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug. Erinnerungen. Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2020. 384 Seiten, 24 Euro.
„Man kann sich unser Misstrauen
gegen den Rechtsstaat
heute kaum noch vorstellen.“
Wer die K-Zeit zufällig nicht
erlebt hat, wird immerhin
mit Anekdoten verwöhnt
„Die historische Konstellation
hat mehr aus uns herausgeholt,
als drin war!“
„In mancher Hinsicht waren wir Barbaren Wegbereiter von Bologna“: Helmut Lethen, Jahrgang 1939.
Foto: Anna Weise
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
der Revolution
Helmut Lethens Lebenserinnerungen lesen sich
wie die Autobiografie einer Generation
VON WILLI WINKLER
Nach fünf Jahren Parteiarbeit wurde Helmut Lethen 1975 wegen „Versöhnlertums“ aus der KPD/AO ausgeschlossen. Eine Gastritis kam dazu, aber der Kaderbeauftragte ließ sich nicht täuschen und sagte ihm auf den Leib zu: „Du hast kein Magengeschwür, sondern Angst vor den Massen.“ Die Massen selber kannten keine Angst, sie waren so vernünftig, einer maoistischen Splitterpartei fernzubleiben, die auch zu ihren besten Zeiten nie mehr als sechshundert Mitglieder hatte.
So winzig klein diese AO (für Aufbauorganisation) war, es gehörten ihr trotz Berufsverbot und wiederholter Sinnkrise auffallend viele Kulturträger an, darunter Christian Semler, Karl Schlögel und Jörg Immendorf. Willi Jasper, ein weiterer ehemaliger Parteisoldat, erzählt in seinem Bericht „Der gläserne Sarg“, wie der Maler später fast schon verzweifelt nach seinen verschollenen Agitprop-Arbeiten forschte. Aus Vorsicht und weil sie mehr oder weniger bewusst die politischen Auseinandersetzungen der Weimarer Zwischenkriegszeit nachspielten, verbargen sich die Parteiaktivisten unter Decknamen, trafen sich als gute Verschwörer an klandestinen Orten und misstrauten einander, weil alle den Verrat witterten. Für den Verfassungsschutz, der diese Radikalen vom öffentlichen Dienst fernhalten sollte, waren sie, wie sie Jahre später enttäuscht erfuhren, „transparent wie ein Glas Wasser“.
Wenn er sein Leben erzählt, bemüht sich Helmut Lethen seinerseits um Transparenz und scheint doch selber, während er sich mit der gerunzelten Stirn des Forschers darüber beugt, über nichts mehr als dieses Leben zu staunen. Er eröffnet seine Autopsie mit einer opaken Bemerkung Adornos zur „Einsicht ins Dinghafte der Person selbst“ und kommt auch später immer wieder auf das Thema Ich – Nicht-Ich zurück. Die Frage der Identität beschäftigt ihn, seit er mit zwanzig „Stiller“ von Max Frisch las: „Ich beschloss, wie Stiller, kein Charakter zu werden.“ Die Frage beschäftigt ihn bis heute, wenn er gezwungen ist, über die politische Identitätssuche seiner Frau Caroline Sommerfeld nachzudenken.
Bei der KPD war er als „Theo Risse“ getarnt (der Literaturkritiker stöhnt bei dieser Namenswahl, der Psychoanalytiker jauchzt!), unter seinem eigenen Namen wurde Lethen bekannt mit den „Verhaltenslehren der Kälte“ in der Literatur der Neuen Sachlichkeit. Das Stichwort verdankte er dem zehn Jahre älteren Benn-Schüler Hans Magnus Enzensberger, der den „Kältepol des Bewusstseins“ entdeckt hatte. Enzensberger wird auch mit seiner Gleichsetzung von Politik und Verbrechen maßgeblich. „Seine Formel von der Naturmacht des Bösen war zu griffig, um falsch zu sein. (...) Man kann sich unser Misstrauen gegen den Rechtsstaat heute kaum noch vorstellen.“
Wie für die fast gleichaltrige Pfarrerstochter Gudrun Ensslin bringt Alain Resnais’ Auschwitz-Film „Nacht und Nebel“ eine politische und moralische Erweckung, und die lebensbestimmende Bedeutung von „Twist and Shout“ von den Beatles wird nicht unterschlagen. Dankbar wird der frühen Erzählungen Heinrich Bölls gedacht, in denen Lethen den „Existentialismus der Müdigkeit“ spürt. „Müdigkeit schützt vor Pathos“ erkennt er später und gibt zugleich zu, dass er selber diese Erkenntnis nicht immer befolgt hat. Für den „Zauberberg“, da ist er bereits an der Uni, nimmt er drei Tage krank. Brecht kommt ins Spiel – er liefert auch den melancholischen Titel „Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug“ –, dann Gottfried Benn, Jürgen Habermas, später Peter Handke. Als wäre auch dieses eine Leben nichts als Literatur, wird sogar das Auftauchen und Verschwinden einer V 2, das der Fünfjährige erlebt hat, in der Rückschau mit der Anspielung auf ein Liebesgedicht von Brecht ausgemalt.
Wer mag, kann diese Memoiren als Rechenschaftsbericht oder sogar als Bekenntnis einer Generation lesen, die durch Vietnam, den Mord an Benno Ohnesorg, überhaupt die deutschen Zustände extrem politisiert und später extrem enttäuscht wurde, sich am Ende aber mit den Zuständen und insbesondere dem Rechtsstaat arrangiert hat. Lethens Buch ist das alles, aber vor allem ein echter Bildungsroman. An dieser Generation, von der um 1970 eine kleine radikale Minderheit unter wortarmen Transparenten durch die Straßen lief, nagte nach dem Krieg ein wütender Hunger, ein Hunger nach Literatur, nach Worten, die gegen das Schweigen der Väter helfen mussten.
Lethen erinnert sich an die „Stickluft des innenpolitischen Klimas der Adenauerzeit“ und die Rettung aus diesem Treibhaus: „In verschlossene Archive einzudringen, Antiquariate zu durchkämmen, Schulbücher zu säubern, bei französischen, chilenischen und amerikanischen Studentinnen und Studenten unterzuhaken und im gleichen Zeitraum eine wissenschaftliche Arbeit zu verfassen, die Neuland erschloss, das war reines, das heißt arbeitsintensives Glück.“
Arbeit heißt Forschung und Lehre, doch ist Lethens Buch weit besser durchlüftet, als es Professorenmemoiren sonst sind. Dafür hat schon der Radikalenerlass gesorgt, die heute vergessene Kehrseite von Willy Brandts Versprechen, „mehr Demokratie“ zu wagen. Lethen unterrichtete an der privaten Gabbe-Schule, wo er weitere Opfer wie Peter Schneider und Rüdiger Safranski als Kollegen hatte. Im Umweg über die Niederlande gelang dann doch noch eine ordentliche Laufbahn zum Professor.
Am Anfang der politischen Laufbahn steht der vorgeschriebene Klassenverrat, aber ausnahmsweise kein evangelisches Pfarrhaus. Der Vater, sportbegeisterter Mittelständler, Parteimitglied seit 1928, kehrt als degradierter Offizier aus Krieg und Gefangenschaft zurück, „kein Krieger“; er hat sogar den Liebhaber der Mutter zu dulden. Gleich zwei Mal muss das erzählt werden, denn der Sohn erkennt den liebenswürdigen Schwächling wieder in Alexander Mitscherlichs Studie über die „vaterlose Gesellschaft“. Als „westdeutscher Musterschüler“ geht Lethen nach dem Abitur generationstypisch zur Bundeswehr, wo er auf einen weiteren Musterschüler wie Rainer Langhans hätte treffen können.
Es kommt der Verrat an der Literatur dazu. Safranski muss noch heute mit seiner hemmungslosen Klassikeranbetung Abbitte dafür leisten, dass er einmal ebenso eifrig zur „Entwicklung der Arbeiterliteratur in der Bundesrepublik“ dissertiert hat. In der Arbeitsgruppe der KPD ging es streng zu, da wusste man, dass die „Widerspiegelung der Wirklichkeit nur auf der Basis der politischen Diagnose und Strategie der KPD gelingen“ könne. Die Sprache in „Berlin Alexanderplatz“ ist den Literaturkommissaren nicht proletarisch genug, weil Alfred Döblin dem Biberkopf ein Schicksal zudenkt und sich weigert, Geschichte nach Maßgabe des Marxismus-Leninismus als „planbares Großprojekt“ darzustellen. Hätte er es nur mit dem eminenten Literaturtheoretiker Mao Tse-tung gehalten, der auf der Parteikonferenz von Yenan empfehlen sollte, mit dem „Brauchbaren aus der Sprache der Volksmassen“ zu agitieren!
Die kurze Ära der K-Gruppen, davon legt Lethen am eigenen Beispiel das beste Zeugnis ab, war einfach nur furchtbar. Erst sehr viel später konnten er und die Seinen über das „Leben des Brian“ lachen, über den im Film existenziellen, wenn nicht sogar himmelweiten Unterschied zwischen der „Judäischen Volksfront“ und der „Volksfront von Judäa“, nämlich als sie merkten, dass da über sie gespottet wurde, die „grimmigen Komiker“, die sich in den verwirrend vielen K-Gruppen organisiert hatten und je nach Programm und Finanzierung nach Ost-Berlin, Peking, Pnom Penh, Pjöngjang oder Tirana beteten.
Bei Richard Alewyn hatte der Student Lethen Klopstocks Oden nachgehorcht, er war verzaubert, wie der Philologe Eichendorffs Landschaft deutete. Mit Walter Benjamin im Rücken war aber nicht mehr die Literatur, sondern die Germanistik der Anwendungsfall. Sachlichkeit bedeutete mit einem Mal, in der Ad-Hoc-Gruppe das Berliner Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft zu überfallen, also Peter Szondis „Elfenbeinturm“ in einem „Furor des Gleichmachens“ zu schleifen. Szondi war der Stellvertreter des Hl. Benjamin auf Erden, doch die an dessen „destruktivem Charakter“ geschulten Marodeure kannten kein Erbarmen, räumten Szondis Schreibtisch leer, klauten seine Bücher. Der Feingeist aber beschämte die Aktivisten und weigerte sich, dem Druck der Hochschulleitung nachzugeben und die Studenten anzuzeigen. Lethen, fünfzig Jahre später, voll der Reue: „In mancher Hinsicht waren wir Barbaren Wegbereiter von Bologna.“
Erst nachträglich kommen ihm Zweifel an seiner Sachlichkeitsrüstung. Die Szondi-Schülerin Henriette Beese, die später Marcel Proust übersetzen sollte, damals Genossin, schrieb in den gemeinsam betreuten Berliner Heften anlässlich einer Retrospektive der Filme mit dem Schauspieler Conrad Veidt (der Cesare im „Cabinet des Dr. Caligari“ und der Major Strasser in „Casablanca“) über die Affektabwehr ihrer Generation, die sich auf die „Schreibweise der Kälte“ beruft. Lethen weiß, dass er gemeint ist: „Intellektuelle mögen es noch goutieren, wenn Kühle, Glätte, Konstruiertheit, Leere zum Stilisationsprinzip erhoben werden, sie mögen es auch narzisstisch genießen, wenn auf der Leinwand ähnlich unbedeutende Personen wie sie selbst stundenlang ähnlich dummes Zeug wie sie selbst hinterher in der Kneipe reden; einem großen Publikum scheint es offenbar nicht besonders aufregend, wenn ihm im Kino oder auf dem Bildschirm die möglichst getreu nachgemachte Arbeitswelt nebst einem realitätsnahen Problem gezeigt wird. Vielleicht hat das große Publikum ausnahmsweise recht.“
Wer die K-Zeit zufällig nicht erlebt hat, wird immerhin mit Anekdoten verwöhnt. Zum Beispiel mit der Geschichte, wie der betagte Reformpädagoge Theodor Litt in seiner Vorlesung eine kunstvoll eröffnete Satzperiode unterbricht, um eine Studentin, die zu spät kommt und eine Entschuldigung stammelt, aus dem Saal zu werfen, und dann den hochkomplexen Satz fortzusetzen. Oder mit einem Adorno, der bei einem Studienabend mit Beatles- und Rolling-Stones-Songs geärgert werden soll, der Fun aber Stahlbad sein lässt und sich beim Wein mit einer Freundin amüsiert. Oder mit Peter Sloterdijk, der bei einem Besuch morgens ein Tonband mit der eigentümlichen Trias aus Eisenbahngeräuschen, Vogellauten aus Poona und der Stimme seines indischen Gurus laufen lässt.
„Die historische Konstellation hat mehr aus uns herausgeholt, als drin war!“ seufzt Lethen einmal. Trotz der „glücklichen Jahre in der Studentenbewegung“ ist die Revolution ausgeblieben, aber die affektive Bindung wird nicht unterschlagen. Bei der Demonstration gegen den kongolesischen Staatschef Moise Tschombé kam er 1964 in Kontakt mit Rudi Dutschkes Lederjacke, die er tragen sollte, um die Polizei abzulenken. Drei Jahre später haben die guten Berliner einen Langhaarigen fast totgeprügelt, weil sie ihn für Dutschke hielten. Lethen hatte Glück, er musste die Jacke gleich wieder abgeben, „unmöglich, dass ein gerade Zugezogener die Jacke des Charismatikers länger als zehn Minuten trug“.
Der Literatur- wandelt sich im Lauf seiner Karriere zum Kulturwissenschaftler und Lethen muss konstatieren, dass wie schon in der KPD „die Wirklichkeit“ der blinde Fleck seiner Wissenschaft ist. Umso größer das Erschrecken über die Wirklichkeit, die sich 1995 in der Wehrmachtsausstellung zeigt, organisiert von Hannes Heer, einem weiteren Genossen, der einst für einen Sozialismus kämpfte, „in dem die Massen bestimmen“. Ohne weitere Metaphern und literarische Verkleidung prangerten die Bilder die Verbrechen der Vätergeneration an.
Wenn einer die achtzig überschritten hat, wird sich sein Leben fast unvermeidlich zur Erfolgsgeschichte runden. Es fehlt nicht an akademischer Anerkennung, und dann kommt auch noch eine junge Frau dazu, in die sich der ältere Professor vor einem Rosenstrauch, aber – so viel Kälte, soviel Benn muss sein – neben dem Hörsaal der Hautklinik mit ihren detaillierten anatomischen Zeichnungen verliebt. Caroline Sommerfeld verwandelt sich fast über Nacht in eine Propagandistin der Kubitschek-Rechten und beruft sich wie zum Hohn auch noch auf seine Bücher zur Schreibweise der Kälte. Das Kapitel, in dem er diese Entwicklung begrübelt, ist, wie könnte es anders sein, überschrieben mit: „Der Riss der Evidenz“.
Lethen kann sich das Abirren seiner Frau nicht erklären, trotz Brecht wird er nicht schlau daraus. War am Ende doch alles Literatur? Schön wär’s.
Helmut Lethen: Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug. Erinnerungen. Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2020. 384 Seiten, 24 Euro.
„Man kann sich unser Misstrauen
gegen den Rechtsstaat
heute kaum noch vorstellen.“
Wer die K-Zeit zufällig nicht
erlebt hat, wird immerhin
mit Anekdoten verwöhnt
„Die historische Konstellation
hat mehr aus uns herausgeholt,
als drin war!“
„In mancher Hinsicht waren wir Barbaren Wegbereiter von Bologna“: Helmut Lethen, Jahrgang 1939.
Foto: Anna Weise
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Ein faszinierendes Buch ... eine im besten Sinn zeitgenössische Autobiographie. Stephan Wackwitz Frankfurter Allgemeine Zeitung 20201010