Bemerkenswert!
Ein Mann wird 50 und inszeniert diesen Geburtstag theatralisch. Als erste Lebensbilanz eines irgendwie symphatischen Machos zwischen dem Ruhrgebiet und Südfrankreich, zwischen Frauengeschichten und Körperkult auf dem Rennrad. Ein "moderner" Mittelschichts-Mann eben. Die
Geburtstags-Inszenierung geht schief, so viel sei verraten. "Jeder kennt seinen Schlafplatz. Es gibt nichts…mehrBemerkenswert!
Ein Mann wird 50 und inszeniert diesen Geburtstag theatralisch. Als erste Lebensbilanz eines irgendwie symphatischen Machos zwischen dem Ruhrgebiet und Südfrankreich, zwischen Frauengeschichten und Körperkult auf dem Rennrad. Ein "moderner" Mittelschichts-Mann eben. Die Geburtstags-Inszenierung geht schief, so viel sei verraten. "Jeder kennt seinen Schlafplatz. Es gibt nichts weiter zu reden. Das Essen war gut. Viel Wein. Die Gespräche fruchtlos, wie aus dem Jenseits. Nichts stimmt mehr."
Der Verlag kündigt das Erstlingswerk von Bille Haag als "überraschend" an.
Tatsächlich überrascht vor allem der Erzählwitz der Autorin, in vielen Passagen ist das eine sehr vergnügliche Lektüre.
Die Perspektive, die sie einnimmt, ist gewagt. Als Frau entwirft sie eine männliche Hauptfigur, die sie dann mit den Beziehungs-Klärungs-Forderungen der Frauen konfrontiert: "Sie fragte beinahe befehlend: Was willst du eigentlich von mir? Sag mir das mal ganz genau, Alfred Zarteck. Und dann sag mir auch, was denn wir beide mit uns können und wollen. Sag das doch mal." Da ist sie wieder, die alte Sprachlosigkeit im Geschlechterkrieg.
Doch dann immer wieder auch komische Geschichten. Aus der "Epoche der Hollandfahrten" zum Beispiel. Damals, als es noch eine Grenze gab mit "Uitsmijter" - Rausschmeißer. Das war ein holländischer "Strammer Max" an der Grenze: "...mit Rindfleisch, es wurden leutselige Wörter mit leutseligen Wirtsleuten gewechselt, Scherze über den Uitschmijter-Rausschmeißer: wir gehen ja schon, ja, wir gehen ja schon, aber vorher lassen wir unseren Goldesel Gulden schieten, und die Mutter schaute dabei den Vater schelmisch an, die Erwachsenen tranken Genever als Verdauungs-Prösterchen und lachten miteinander, während die Söhne schon mal zum Klo verschwanden, um die Schmuggelware am Körper zu verstauen."
Aus vorbei, die Grenze gibt es nicht mehr, die alte Bundesrepublik mit ihren kleinen Fluchten in den Westen auch nicht mehr. "Der Abfahrer" ist auch ein Roman einer vergangenen Zeit. Alt-bundesrepublikanische Zeit. Westwärts-Zeit. Holland, Frankreich, nicht Toskana-, sondern Cevennen-Fraktion. Eine gewisse Freiheitsromantik war die treibende Kraft.
Nicht die schlechteste Zeit, doch sie ist vorbei. Wenn man etwas gegen den Abfahrer einwenden kann, dann vielleicht dieses: Der Text liest sich manchmal wie ein historischer Roman. Er ist auch so angelegt, dass er wie ein Besuch in einer anderen Epoche schmeckt, obwohl doch seine Rahmenhandlung ins hier und heute gelegt ist.
Doch der Protagonist im "Abfahrer" steht für einen zeitlosen Typus, für jemanden, der biografische Wendungen und Begegnungen mit Menschen wie Szenenwechsel in der Bühnenwelt seines Ego betrachtet. Das Zeitgeschehen ist für ihn nur Rahmen für die Suche nach dem nächsten individuellen Kick.
"Nun ja, wären drei Wünsche frei, ich wünschte mir erstens: Die Zeit anhalten zu können. Zweitens: einen verwirrenden Körper zu geometrisieren. Und drittens: die Liebe dingfest zu machen."
Die Rad-Rennmaschine ist so etwas wie die verdinglichte Metapher des Romans: Gleichzeitig Stütze und Hilfsmittel zur Rationalisierung des Körpers wie Symbol für die Sehnsucht nach Rasanz, die von außen kommen muß.
"Der Abfahrer" sollte in diesem Sommer in keiner Satteltasche fehlen. Ér weckt auch Neugier. Man will mehr von Bille Haag lesen, der Leser ist auf den Geschmack gekommen!