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Das Wort 'Abschied' gehört zu den umgangsprachlich geläufigsten des Alltags und seiner Psychologie. Der Autor beschäftigt sich in seinem Buch nicht bloß eindringlich-provakant mti den verschiedenen literarischen Formen des Abschieds. Vielmehr gilt sein theoretisches Interesse dem Abschied als Strukturgesetz.

Produktbeschreibung
Das Wort 'Abschied' gehört zu den umgangsprachlich geläufigsten des Alltags und seiner Psychologie. Der Autor beschäftigt sich in seinem Buch nicht bloß eindringlich-provakant mti den verschiedenen literarischen Formen des Abschieds. Vielmehr gilt sein theoretisches Interesse dem Abschied als Strukturgesetz.
Autorenporträt
Karl Heinz Bohrer, geboren 1932, Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Bielefeld, seit 1984 Herausgeber des MERKUR. 2007 wurde Karl Heinz Bohrer der Heinrich-Mann-Preis verliehen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.01.1997

Ein Blitz, dann Nacht
Karl Heinz Bohrers Brevier zum Abschied · Von Heinz Osterkamp

Jahrhundert und Jahrtausend nähern sich ihrem Ende, und auch in den Literaturwissenschaften steht vor der Tür, was die Zunft wohl einen "Abschiedsdiskurs" nennen wird. Niemand wäre befugter, ihn zu eröffnen, als Karl Heinz Bohrer, der seit seinem Buch über "Plötzlichkeit" (1981) dem literarischen Zeitbewußtsein mit staunenswerter Intensität nachfragt. Bohrers neues Werk hat einen Helden: Er heißt Charles Baudelaire; "stolze Einsamkeit" umwittert sein finsteres Haupt. Und diesem gibt Bohrer einen besonders noblen Antipoden: Walter Benjamin; hinter ihm aber erhebt sich das deutsche Gespenst der Geschichtsphilosophie. Diese beiden läßt Bohrer im unendlichen Raum der Geschichte, Unterabteilung Moderne, einen Kampf um die Erfahrung der Zeit führen. Es sichert dem Buch über sechshundert Seiten hinweg seine Spannung, daß Bohrer Benjamin mit dem gleichen Respekt behandelt wie Baudelaire, dem seine entschiedene Sympathie gehört.

Nun muß es freilich einer literarischen Öffentlichkeit, die Baudelaire vornehmlich im Lichte der späten Arbeiten Benjamins zu lesen gelernt hat, besonders schwer fallen, Baudelaire und Benjamin als Antipoden zu sehen. Gerade deshalb stellt Bohrer seinem Versuch, die gedankliche Struktur von Baudelaires Gedichten aus ihrer sprachlichen Gestalt zu erschließen, die Kritik Benjamins voran. Benjamins sozialgeschichtliche Methode, die Gleichsetzung poetischer Daten mit solchen der Sozialhistorie, die schon Adorno an dessen Essay "Das Paris des Second Empire bei Baudelaire" kritisiert hatte, hat in Bohrers Augen Benjamin nicht selten auch um seine besten Einsichten gebracht.

Tatsächlich hat Benjamins sozialgeschichtliche Pointenkunst durch die Kombination zufälliger Lesefrüchte aus Politik und Pariser Stadtgeschichte mit poetischen Details der "Fleurs du mal" manche wunderlichen Blüten hervorgebracht, die von der späteren Baudelaire-Forschung allzu ehrfurchtsvoll botanisiert worden sind. Auch die überzeugtesten Benjamin-Verehrer können sich die Kritik Bohrers, der bereitwillig eingesteht, daß seine eigene Baudelaire-Lektüre hier und da von Benjamins Concetti inspiriert worden ist, durchaus gefallen lassen; dafür, daß hieran der "Zentralpark" nicht stirbt, sorgt schon die enigmatische Vieldeutigkeit von Benjamins ingeniösen Formulierungen.

Bohrer inszeniert einen radikalen Bruch mit der jüngeren westdeutschen, von Benjamin angeregten Baudelaire-Forschung, indem er gegen dessen kontextbezogene, auf Politik und Sozialgeschichte fixierte Lektüre Baudelaires eine - weitgehend - kontextunabhängige Lesart von Baudelaires Gedichten zu entwickeln sucht, um so zum "eigentlichen Zentrum" des Werks vorzudringen. Das ist für ihn Baudelaires Bewußtsein der verrinnenden Zeit jenseits allen metaphysischen und geschichtsphilosophischen Trostes. Als "zentrale Reflexionsfigur" von Baudelaires Poesie erkennt er den Abschied, in dem das Gegenwärtige als das je schon Gewesene erfahren wird. "Das Jetzt spricht: Ich bin das Ehemals", so heißt es in Baudelaires Gedicht "L'Horloge" (1860) über die Uhr, den "finsteren Gott". Nach historischen Ursachen für Baudelaires radikale Trauer fragt Bohrer nicht; auch die Autobiographie klammert er - im Unterschied zu früheren Arbeiten - aus seiner Analyse aus.

Der Abschied interessiert Bohrer ausschließlich als ein "literarisches Phantasma", nicht als Erfahrung in der Lebenswirklichkeit. Unüberbrückbar ist deshalb die Distanz, die zwischen seiner Lektüre von Baudelaires "A une passante" und derjenigen Benjamins liegt. Nichts mehr bleibt hier von Benjamins aus der Erfahrung der Großstadt abgeleiteter Theorie des "Chocks". Die im Lärm der Straße auf einen Augenblick begrenzte Begegnung mit einer Unbekannten in Trauer, die der Dichter als Epiphanie der "flüchtigen Schönheit" erfährt, liest Karl Heinz Bohrer vielmehr als paradigmatische Gestaltung des Abschieds, dessen Zeitmodus in den wenigen Wörtern erfaßt ist, die das erste Terzett eröffnen: "Ein Blitz . . . dann die Nacht!"

Eben dies meint Bohrers Formel vom Abschied als der "Reflexionsfigur des je schon Gewesenen". Voraussetzung für die Herausbildung dieser Reflexionsfigur ist der Abschied von aller Metaphysik und Geschichtsphilosophie, denn das melancholische Bewußtsein, daß die Gegenwart endgültig untergeht und alles Präsens im Zeichen des schon Gewesenseins steht, gelangt nur dort zur Entfaltung, wo jeder Gedanke an eine Wiederbringung des Vergangenen und jedes utopische Hoffnungsbild erloschen ist.

Deshalb verträgt sich die Reflexionsfigur des Abschieds auch nicht mit der elegischen Klage, die auf eine Fortdauer des Vergangenen im Medium der Kunst vertraut. Die Abkehr von Geschichtsphilosophie und Metaphysik ist denn auch dem Gedicht "A une passante" eingeschrieben; mit dem Ausruf, er werde die flüchtige Schöne "niemals vielleicht" wiedersehen, überantwortet der Dichter die Hoffnung auf Wiederbegegnung allein dem Zufall.

So verbindet sich Baudelaires melancholische Zeitreflexion mit dem, was Bohrer einen "frenetischen Haß gegen die Gesellschaftsutopie als Verkennung des anthropologisch Gegebenen" nennt. Und dies erhebt seine Gedichte, die alle überlieferten Glückskonzepte zerstören, für Bohrer zum bis heute unerreichten Muster einer Ästhetik, die jedes utopische Glücksversprechen verweigert. Daß einer solchen Lektüre Baudelaires die Dekonstruktion der Benjaminschen Lesart, in der Baudelaire als Sympathisant von Sozialrevolutionären erscheint, voranzugehen hatte, ist freilich leicht zu begreifen.

Bohrer entfaltet sein Bild Baudelaires in textnahen, das sprachliche Detail sorgfältig bedenkenden Interpretationen berühmter Gedichte. Er liest sie allerdings vor allem als Dokumente von Baudelaires Zeitreflexion, als - wie es anläßlich von "A une passante" heißt - "theoretisch relevante Texte". An künstlerischen Formproblemen ist er gänzlich desinteressiert, obgleich er doch entschieden auf der Eigenart des Ästhetischen insistiert. Daran haben seine Interpretationen ihre Grenze. Im zweiten Teil seines Werks situiert Bohrer Baudelaires "Reflexionsfigur der immer schon verlorenen Zeit" und seine "radikale Melancholie" in der Geschichte der Abschiedsreflexion seit 1800. Die französische Romantik - Vigny, Lamartine, Hugo - hatte zwar mit ihrer Kontemplation der Vergänglichkeit Baudelaires melancholische Zeitreflexion auf mannigfache Weise vorbereitet, war aber nie zu dessen Radikalität gelangt.

Einen Vorläufer Baudelaires entdeckt Bohrer dagegen in Goethe - und zwar aufgrund von dessen Resistenz gegen die Geschichtsphilosophie. Im "Torquato Tasso" und in der "Italienischen Reise", in "Alexis und Dora" und "Pandora" findet Bohrer das Abschiednehmen und die Abschiedsklage, die tatsächlich auf überraschende Weise in die Nähe des Baudelaireschen Abschiedsbewußtseins führen. Die Goethe-Philosophie sollte diesen klugen Einspruch gegen allzu vorschnelle Harmonisierungen im Goethe-Bild, die sich auf die Utopie des erfüllten Augenblicks berufen, mit Sorgfalt zur Kenntnis nehmen. Nach Baudelaire erreicht erst Nietzsche wieder die Illusionslosigkeit von dessen Zeitreflexion.

Dieser Illusionslosigkeit aber erweist sich in Bohrers Sicht die Moderne "nach der heroischen Epoche Baudelaires" nicht gewachsen. Sie greift wieder zu den bewährten geschichtsphilosophischen Trostformeln, statt sich in der Permanenz der Trauer über das Verschwinden der Gegenwart einzurichten. Und hier nun läßt Bohrer den klügsten Interpreten von Baudelaires Werk als dessen wahren Gegner auftreten: Walter Benjamin. Virtuos inszeniert Bohrer in seinem großen Schlußkapitel ein Show-down: auf der einen Seite Baudelaire, der über "das mitleidloseste und konsequenteste Bewußtsein" verfügt, auf der anderen Benjamin, der sich in seiner "objektiven Ich-Schwäche . . . ein Vergessen oder ein Verschwindenlassen der Dinge gar nicht leisten" kann und sie deshalb mit geschichtsphilosophischen Illusionen in eine eschatologische Perspektive zu reißen versucht: Benjamins Abschiedsmotiv als "die prinzipielle Widerrede zu Baudelaires Zeitanalytik"!

Bohrers Analyse zur literarischen Rettung der verschwundenen Vergangenheit in Benjamins "Berliner Kindheit um neunzehnhundert" gehört zum Fundiertesten, was bisher über Benjamins Erinnerungsbuch geschrieben worden ist. Sie mißt den Abstand aus, in dem Benjamin zu Baudelaires Verlustbewußtsein steht. Und sie macht die geschichtstheoretischen Motive sichtbar, aus denen Benjamin Baudelaires "heroische Negativität" in Positivität, in geschichtsphilosophische Sicherheit umzuwandeln suchte.

Bohrer zielt damit auf eine Kritik des modernen Intellektuellen, der die Baudelairesche Negativität und Illusionslosigkeit nicht erträgt und in seiner Überforderung immer wieder auf Mythos, Utopie und Geschichtsphilosophie ausweicht. Benjamin ist als geschichtsphilosophisch inspirierter Autor und Leser Baudelaires für ihn ein Repräsentant jener breiten Geistesströmung, die sich bis heute der Forderung Max Webers nach Enträtselung der Welt widersetzt, und jener "gläubigen Intelligenz", die nach philosophischen Erlösungsversprechen und literarischen Glücksverheißungen verlangt. Goethes Abschiedsschmerz, Baudelaires Trauer als Theorie des Abschiednehmens, Nietzsches Nihilismus: Beispiele für die Kraft des Intellektuellen zum Widerstand gegen alle Ideologien, die für Bohrer durchaus in einer Tradition der philosophischen Skepsis stehen.

Es sind bekannte Bohrersche Motive und Themen, die der Autor am Ende seines brillant argumentierenden, über weite Partien vorzüglich geschriebenen Opus magnum - eines großen Anti-Trostbreviers - anklingen läßt. Sie haben am Ende eines Jahrhunderts der Ideologien an Aktualität nicht eingebüßt. Wenn sich dennoch gelegentlich Unbehagen bei der Lektüre einstellt, so resultiert dies aus Bohrers subtiler Heroisierung Baudelaires, der stolz, einsam und stark das Bewußtsein der Negativität erträgt. Denn auch sie läßt sich lesen als Ausdruck des Bedürfnisses der Intellektuellen nach positiven Leitgestalten, und möge deren Herz auch noch so finster sein.

Karl Heinz Bohrer: "Der Abschied". Theorie der Trauer: Baudelaire, Goethe, Nietzsche, Benjamin. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1996. 626 S., geb., 56,- DM.

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