Über Rache und Schuld, Verrat und Loyalität
Manchester, 1876. Im Morgengrauen hängen die Rebellen. Die englische Polizei wirft ihnen vor, die »Fenians«, irische Unabhängigkeitskämpfer, zu unterstützen. Eine gefährliche Machtgeste seines Vorgesetzten, findet Constable James O'Connor, der gerade aus Dublin nach Manchester versetzt wurde. Einst hieß es, er sei der klügste Mann der Stadt gewesen. Das war, bevor er seine Frau verlor, bevor er sich dem Whiskey hingab. Mittlerweile rührt er keinen Tropfen mehr an. Doch jetzt sinnen die »Fenians« nach Rache. Der Kriegsveteran Stephen Doyle, amerikanischer Ire und vom Kämpfen besessen, heftet sich an O'Connors Fersen. Ein Kampf beginnt, der O'Connor tief hineinzieht in einen Strudel aus Verrat und Gewalt.
Manchester, 1876. Im Morgengrauen hängen die Rebellen. Die englische Polizei wirft ihnen vor, die »Fenians«, irische Unabhängigkeitskämpfer, zu unterstützen. Eine gefährliche Machtgeste seines Vorgesetzten, findet Constable James O'Connor, der gerade aus Dublin nach Manchester versetzt wurde. Einst hieß es, er sei der klügste Mann der Stadt gewesen. Das war, bevor er seine Frau verlor, bevor er sich dem Whiskey hingab. Mittlerweile rührt er keinen Tropfen mehr an. Doch jetzt sinnen die »Fenians« nach Rache. Der Kriegsveteran Stephen Doyle, amerikanischer Ire und vom Kämpfen besessen, heftet sich an O'Connors Fersen. Ein Kampf beginnt, der O'Connor tief hineinzieht in einen Strudel aus Verrat und Gewalt.
Ian McGuire lässt seinen Thriller im Manchester des 19. Jahrhunderts spielen. Trotzdem ist kein historischer Roman, sondern eine hoch aktuelle, spannende Geschichte daraus geworden. Peter Meisenberg WDR 3 20211026
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Wolfgang Schneider scheint Ian McGuires dritter Roman etwas aus der Zeit gefallen mit seinen geprügelten Männerfiguren. Kein Problem für Schneider, solange der Autor McGuire heißt und zeitlose Lakonie, Dichte und Genauigkeit den Text prägen. Die 1867 in Manchester spielende Geschichte um eine Schlacht zwischen irischen Untergrundkämpfern und einem vom Schicksal reichlich mitgenommenen Constable ist laut Schneider zwar hoffnungslos finster, aber eben auch ungemein spannend, wenngleich nicht ganz so "grimmig" wie der Vorgängerroman. Die Nähe zu Conrads "Geheimagent" ist beabsichtigt, glaubt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.05.2021Dunkles Chaos
Ian McGuire erzählt vom täglichen Überlebenskampf im 19. Jahrhundert
Nach diesem Buch weiß man, wie Manchester im 19. Jahrhundert roch: Nach Schweiß und Sägemehl, nach Tabak und verbranntem Toast, nach Ruß und ganz leicht nach Ammoniak. Und man weiß, wie es sich anhört: wie prasselnder Regen, wie eine ungeschmierte Wagenachse, wie ein wütender, angeketteter Hund.
Mit dem Roman „Nordwasser“ gelang dem britischen Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Ian McGuire vor fünf Jahren einen Überraschungserfolg. Der an Herman Melville und Joseph Conrad erinnernde Roman über die wilden Abenteuer eines in Ungnade gefallenen Armeearztes auf einem Walfängerschiff war für den Man- Booker-Prize nominiert und wird gerade als Fernsehserie mit Colin Farrell in der Hauptrolle verfilmt. Auch der neue Roman des Briten spielt wieder im 19. Jahrhundert, aber diesmal nicht auf hoher See, sondern im Norden Englands, in der Stadt Manchester, wo sich die Fenians, die Anhänger der irischen Unabhängigkeitsbewegung, einen brutalen Kampf mit der örtlichen Polizei liefern.
Der wahre Hintergrund: Drei Fenians wurden am 23. November 1867 in Manchester gehängt, weil sie bei einem Überfall auf einen Gefangenentransport einen Polizisten erschossen hatten. Ausgehend von diesem historischen Ereignis lässt McGuire den Konflikt im Roman eskalieren. Die Fenians schwören Rache und lassen aus den Vereinigten Staaten den Iren Stephen Doyle einschiffen, ein äußerlich und innerlich vernarbter Veteran aus dem amerikanischen Bürgerkrieg, der bekannt ist für seine Skrupellosigkeit.
Sein Gegenspieler ist James O’Connor, ebenfalls Ire und wie der Arzt aus „Nordwasser“ ein schwer Gebeutelter. Nach dem frühen Tod seiner Frau ergab er sich dem Alkohol, bis er bei der Polizei in Dublin nicht mehr zu tolerieren war und nach Manchester versetzt wurde.
Dort bekam er den Alkohol unter Kontrolle, steht aber nun als Ire im Kampf der Polizei gegen die Fenians zwischen den Fronten. Wie durch ein Minenfeld navigiert er zwischen dem Misstrauen seiner Kollegen und der ständigen Gefahr, als Polizist ins Visier der Unabhängigkeitskämpfer zu geraten.
„Der Abstinent“ spielt im Polizeimilieu und liest sich oft wie eine der finsteren Geschichten Raymond Chandlers, aber ein Krimi ist dieser Roman nicht. Es geht nicht um einen Kriminalfall, sondern um die Figuren und die Welt, in die sie geworfen wurden. Fast wie in Michael Manns Filmthriller „Heat“ mit Al Pacino und Robert De Niro lässt McGuire seine beiden Hauptfiguren Schachzug um Schachzug einander umkreisen, täuschen und ausmanövrieren, alles vor der Kulisse Manchesters im 19. Jahrhundert, die so anschaulich geschildert wird, dass man sich nach der Lektüre fast den Dreck aus dem Gesicht und von den Händen waschen möchte.
McGuire ist als Wissenschaftler an der University of Manchester Experte für die Literatur des 19. Jahrhunderts. Er schildert das Leben dieser Zeit sehr detailreich, verliert sich aber nicht darin oder lässt die Beschreibung Selbstzweck werden. Dieser Realismus funktioniert auch wegen der sehr gelungenen Übersetzung Jan Schönherrs, der man kaum anmerkt, dass sie eine ist. Dieser Detailreichtum führt zudem in den Kern des Romans.
„Echt ist nur, was man berühren oder schmecken kann“, denkt eine der Figuren einmal. Obwohl er in einer englischen Großstadt an der Schwelle zur Moderne spielt, erzählt „Der Abstinent“ von einer archaischen Welt. Die Figuren sind seelisch und körperlich Versehrte. Neben dem Kampf gegeneinander geht es immer auch um das blanke Überleben, um die Grundbedürfnisse. Ständig wird gegessen, getrunken, geschlafen.
McGuire blickt mitten in der Großstadt, auf den Straßen und in den Pubs hinter den Vorhang der Zivilisation. Bei jedem Pint, in jedem warmen Bett, mit jedem Laib Brot weht einen die Vergänglichkeit an. Alles scheint so flüchtig wie die Erlösung, die sich O’Connor vom Alkohol verspricht. Sein Gegenspieler Doyle hat im Krieg gelernt, „dass Hoffnungen und Sorgen unnütz sind, dass ein dunkles, unergründliches Chaos die Welt regiert, ein Chaos, dem man sich als Mensch bestenfalls anpassen kann“. Hat er damit möglicherweise recht? O’Connor beginnt bald, daran zu zweifeln, ob er als einfacher Polizist das Chaos im Zaum halten kann oder ob sein Kampf nicht doch völlig aussichtslos ist. Gibt es einen Weg aus der Gewalt und dem blankem Überlebenskampf – und damit auch aus der Sucht, die so ein Leben werden kann? Der Roman schlägt ganz am Ende einen Ausweg aus dieser Spirale vor, der aber so unsicher ist, wie die Abstinenz eines schweren Alkoholikers: Jederzeit könnte ein Rückfall drohen.
Zu schwer wird der Roman trotz so existenzieller Fragen aber nie, auch nicht, wenn er bei den Themen Terrorismus und Nationalismus sogar noch einen Bogen in die Gegenwart spannt. Man merkt diesem leicht zu lesenden Text vielmehr an, dass viel Arbeit in ihm steckt, dass jedes Wort da steht, wo es stehen muss, um eine fast perfekt gefügte Erzählung zu ergeben, die den Leser genau an den richtigen Stellen mit Bildern und Anspielungen in die gewünschte Richtung lenkt, ohne belehrend oder altklug zu wirken. Ein unprätentiöser, fast stiller Roman, der seine Tiefe nie ausstellt und es schafft, in den rußschwarzen Straßen Manchesters grundlegende Fragen nach Gewalt, Schuld und Erlösung zu stellen.
NICOLAS FREUND
Alles scheint so flüchtig wie
die Erlösung, die sich O’Connor
vom Alkohol verspricht
Ian McGuire:
Der Abstinent. Roman. Aus dem Englischen von Jan Schönherr. Dtv,
München 2021.
336 Seiten, 23 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ian McGuire erzählt vom täglichen Überlebenskampf im 19. Jahrhundert
Nach diesem Buch weiß man, wie Manchester im 19. Jahrhundert roch: Nach Schweiß und Sägemehl, nach Tabak und verbranntem Toast, nach Ruß und ganz leicht nach Ammoniak. Und man weiß, wie es sich anhört: wie prasselnder Regen, wie eine ungeschmierte Wagenachse, wie ein wütender, angeketteter Hund.
Mit dem Roman „Nordwasser“ gelang dem britischen Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Ian McGuire vor fünf Jahren einen Überraschungserfolg. Der an Herman Melville und Joseph Conrad erinnernde Roman über die wilden Abenteuer eines in Ungnade gefallenen Armeearztes auf einem Walfängerschiff war für den Man- Booker-Prize nominiert und wird gerade als Fernsehserie mit Colin Farrell in der Hauptrolle verfilmt. Auch der neue Roman des Briten spielt wieder im 19. Jahrhundert, aber diesmal nicht auf hoher See, sondern im Norden Englands, in der Stadt Manchester, wo sich die Fenians, die Anhänger der irischen Unabhängigkeitsbewegung, einen brutalen Kampf mit der örtlichen Polizei liefern.
Der wahre Hintergrund: Drei Fenians wurden am 23. November 1867 in Manchester gehängt, weil sie bei einem Überfall auf einen Gefangenentransport einen Polizisten erschossen hatten. Ausgehend von diesem historischen Ereignis lässt McGuire den Konflikt im Roman eskalieren. Die Fenians schwören Rache und lassen aus den Vereinigten Staaten den Iren Stephen Doyle einschiffen, ein äußerlich und innerlich vernarbter Veteran aus dem amerikanischen Bürgerkrieg, der bekannt ist für seine Skrupellosigkeit.
Sein Gegenspieler ist James O’Connor, ebenfalls Ire und wie der Arzt aus „Nordwasser“ ein schwer Gebeutelter. Nach dem frühen Tod seiner Frau ergab er sich dem Alkohol, bis er bei der Polizei in Dublin nicht mehr zu tolerieren war und nach Manchester versetzt wurde.
Dort bekam er den Alkohol unter Kontrolle, steht aber nun als Ire im Kampf der Polizei gegen die Fenians zwischen den Fronten. Wie durch ein Minenfeld navigiert er zwischen dem Misstrauen seiner Kollegen und der ständigen Gefahr, als Polizist ins Visier der Unabhängigkeitskämpfer zu geraten.
„Der Abstinent“ spielt im Polizeimilieu und liest sich oft wie eine der finsteren Geschichten Raymond Chandlers, aber ein Krimi ist dieser Roman nicht. Es geht nicht um einen Kriminalfall, sondern um die Figuren und die Welt, in die sie geworfen wurden. Fast wie in Michael Manns Filmthriller „Heat“ mit Al Pacino und Robert De Niro lässt McGuire seine beiden Hauptfiguren Schachzug um Schachzug einander umkreisen, täuschen und ausmanövrieren, alles vor der Kulisse Manchesters im 19. Jahrhundert, die so anschaulich geschildert wird, dass man sich nach der Lektüre fast den Dreck aus dem Gesicht und von den Händen waschen möchte.
McGuire ist als Wissenschaftler an der University of Manchester Experte für die Literatur des 19. Jahrhunderts. Er schildert das Leben dieser Zeit sehr detailreich, verliert sich aber nicht darin oder lässt die Beschreibung Selbstzweck werden. Dieser Realismus funktioniert auch wegen der sehr gelungenen Übersetzung Jan Schönherrs, der man kaum anmerkt, dass sie eine ist. Dieser Detailreichtum führt zudem in den Kern des Romans.
„Echt ist nur, was man berühren oder schmecken kann“, denkt eine der Figuren einmal. Obwohl er in einer englischen Großstadt an der Schwelle zur Moderne spielt, erzählt „Der Abstinent“ von einer archaischen Welt. Die Figuren sind seelisch und körperlich Versehrte. Neben dem Kampf gegeneinander geht es immer auch um das blanke Überleben, um die Grundbedürfnisse. Ständig wird gegessen, getrunken, geschlafen.
McGuire blickt mitten in der Großstadt, auf den Straßen und in den Pubs hinter den Vorhang der Zivilisation. Bei jedem Pint, in jedem warmen Bett, mit jedem Laib Brot weht einen die Vergänglichkeit an. Alles scheint so flüchtig wie die Erlösung, die sich O’Connor vom Alkohol verspricht. Sein Gegenspieler Doyle hat im Krieg gelernt, „dass Hoffnungen und Sorgen unnütz sind, dass ein dunkles, unergründliches Chaos die Welt regiert, ein Chaos, dem man sich als Mensch bestenfalls anpassen kann“. Hat er damit möglicherweise recht? O’Connor beginnt bald, daran zu zweifeln, ob er als einfacher Polizist das Chaos im Zaum halten kann oder ob sein Kampf nicht doch völlig aussichtslos ist. Gibt es einen Weg aus der Gewalt und dem blankem Überlebenskampf – und damit auch aus der Sucht, die so ein Leben werden kann? Der Roman schlägt ganz am Ende einen Ausweg aus dieser Spirale vor, der aber so unsicher ist, wie die Abstinenz eines schweren Alkoholikers: Jederzeit könnte ein Rückfall drohen.
Zu schwer wird der Roman trotz so existenzieller Fragen aber nie, auch nicht, wenn er bei den Themen Terrorismus und Nationalismus sogar noch einen Bogen in die Gegenwart spannt. Man merkt diesem leicht zu lesenden Text vielmehr an, dass viel Arbeit in ihm steckt, dass jedes Wort da steht, wo es stehen muss, um eine fast perfekt gefügte Erzählung zu ergeben, die den Leser genau an den richtigen Stellen mit Bildern und Anspielungen in die gewünschte Richtung lenkt, ohne belehrend oder altklug zu wirken. Ein unprätentiöser, fast stiller Roman, der seine Tiefe nie ausstellt und es schafft, in den rußschwarzen Straßen Manchesters grundlegende Fragen nach Gewalt, Schuld und Erlösung zu stellen.
NICOLAS FREUND
Alles scheint so flüchtig wie
die Erlösung, die sich O’Connor
vom Alkohol verspricht
Ian McGuire:
Der Abstinent. Roman. Aus dem Englischen von Jan Schönherr. Dtv,
München 2021.
336 Seiten, 23 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.07.2021Zuckt schon der Mörderdolch in seiner Hand?
Dieser Romancier ist im Zweitberuf Literaturwissenschaftler, und das lohnt sich: Ian McGuires "Der Abstinent" bietet Geschichts-Thrill mit soziologischem Tiefgang
Manchester im Jahr 1867. Drei Männer werden gehängt, Mitglieder der Fenians, einer irischen Untergrundorganisation. Sie haben einen Polizisten ermordet. Das große Thema des Schriftstellers Ian McGuire, die Gewalt, ist schon im ersten Kapitel seines dritten Romans wieder präsent. Die Hinrichtung ist öffentlich, und auch der Erzähler sieht sehr genau hin bei der nicht sogleich gelingenden Henkersarbeit. Es gibt Buhrufe und Pfiffe. Dass daraus nichts Gutes erwachsen kann, ist schnell klar.
Vieles klappt nicht wie gedacht, davon kann auch die Hauptfigur des Romans, Constable James O'Connor, ein trauriges Lied singen. Seine Frau und sein kleines Kind sind gestorben, er hat schwer getrunken danach. Nun hat er den Weg in die Abstinenz geschafft. Um seinem in Trostlosigkeit versunkenen Leben zu entkommen, hat sich der Ire von Dublin nach Manchester versetzen lassen. Dort macht ihm nun der britische Nationalismus zu schaffen. Obwohl er bei der Ermittlungsarbeit gegen die Fenians sein Leben riskiert, setzen ihm die Kollegen mit heftigen antiirischen Ressentiments zu.
Gefühlt ist das Manchester dieses Romans eine Stadt, in der zwanzig Stunden am Tag Dunkelheit herrscht, allenfalls von funzligen Gaslaternen erhellt: "Der Vollmond hängt am schwarzen Himmel wie eine faule Frucht." Es ist eine Stadt voller Fabrikschlote, Gerbgruben, Kloakengeruch und Kneipenschlägereien; in den Gassen die "zusammengesackten Schemen schlafender Bettler". Bierkutschen, Rübenwagen und Fäkalienkarren rumpeln über das schlammige Pflaster. Ian McGuire versteht sich darauf, mit konzisen Beschreibungen eine bedrückende Atmosphäre zu beschwören, in der auch die Verschwörung gedeiht.
Denn die Fenians haben Rache für die Hinrichtung ihrer "Märtyrer" geschworen. Zu diesem Zweck schleusen sie einen Gewaltspezialisten aus den Vereinigten Staaten ein. Stephen Doyle, ebenfalls gebürtiger Ire, hat das Handwerk des Tötens im amerikanischen Bürgerkrieg erlernt. Nun soll er Anschläge in Manchester verüben. Wie James O'Connor hat auch Doyle eine traumatische Vergangenheit im Gepäck, wobei die Verletzungen aus Kindheit und Jugend noch schwerer wiegen als die vielen Leichen, die er im Krieg gesehen hat. Der Krieg verschaffte ihm sogar eine positive Erfahrung: eine Art Mystik der Gewalt, bei der sich mitten im Kugelhagel, umgeben von Schreienden und Sterbenden, seine Individualität auflöste in einem Gefühl der All-Einheit. Der Krieg ist für Doyle "wahrer und realer als alles andere".
In Ian McGuires geradezu bösartig gutem Walfänger-Roman "Nordwasser" standen sich der Kolonialarzt Sumner und der psychopathische Harpunier Drax gegenüber. "Der Abstinent" bezieht seine Spannung wiederum aus einem Zweikampf von O'Connor und Doyle, der niemals in vordergründige Action abirrt.
Nachdem er mehrere Polizisten getötet hat, verschwindet Doyle von der Bildfläche. Seine Kollegen wollen den Fall ruhen lassen; nicht James O'Connor. Ihm gelingt es, Doyles Spur aufzunehmen. Sie führt in die Vereinigten Staaten, zu einer Farm in der Nähe von Harrisburg, wo Doyle noch eine andere Rechnung zu begleichen hat. O'Connor ist nun kein Kriminalpolizist im Dienst mehr, sondern ein Mann, der auf eigene Rächerfaust über die ermüdenden Landstraßen von Pennsylvania zieht. Doch die Dinge entwickeln sich anders, als es bei solchen Showdowns sonst üblich ist.
"Der Abstinent" ist ein Thriller, der im besten Sinn vergessen lässt, dass er einer ist. Er erweckt nie den Eindruck, dass die Welt in Ordnung wäre, wenn nur dieser oder jener Schurke unschädlich gemacht würde. Vielmehr ist alles angefressen von Hinfälligkeit. Beziehungen zerbrechen, geliebte Menschen fallen Krankheiten zum Opfer, neue Liebe - O'Connor bemüht sich um die Schwester eines ermordeten Polizisten - scheitert an den seelischen Vorbelastungen, der Trost des Alkohols - O'Connor erleidet einen Rückfall - führt nur tiefer ins Elend. Und hinter allen fadenscheinigen Zivilisationskulissen lauert das Monster der Gewalt, lauern Verbrechen und Krieg. Dass in dieser Welt der unguten Getriebenheit gelegentlich auch etwas Helles aufscheint, ist dann umso bemerkenswerter.
Im Zweitberuf ist der 1964 geborene Schriftsteller Ian McGuire Literaturwissenschaftler an der Universität Manchester, als Spezialist für den Realismus des neunzehnten Jahrhunderts. Kaum erstaunlich, dass sich in "Nordwasser" ein Melville-Einfluss geltend machte. Und "Der Abstinent" verleugnet seine Nähe zu Joseph Conrads "Geheimagent" nicht. Der neue Roman ist allerdings nicht ganz so wuchtig und grimmig erzählt wie "Nordwasser". McGuire verzichtet diesmal auf grelle Effekte, der Erzählton ist ruhiger, dafür von einer makellosen Präzision, die auch in der Übersetzung Jan Schönherrs bewahrt bleibt. Vordergründig mag dieser im neunzehnten Jahrhundert spielende Roman ein wenig aus der Zeit gefallen erscheinen mit seinen äußerlich wie innerlich vernarbten Männergestalten und ihrem Katz-und-Maus-Spiel, wobei die Rolle der Katze wechselt. Kein Zweifel aber, dass "Der Abstinent" mit Themen wie Terrorismus, Nationalismus und Sucht einen sehr heutigen Nerv trifft. Vor allem ist die dunkle Lebensphilosophie dieses Romans so zeitlos wie die lakonische Dichte seiner Beschreibungen und Dialoge. WOLFGANG SCHNEIDER
Ian McGuire: "Der Abstinent". Roman.
Aus dem Englischen von Jan Schönherr.
Dtv, München 2021. 336 S., geb., 23,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dieser Romancier ist im Zweitberuf Literaturwissenschaftler, und das lohnt sich: Ian McGuires "Der Abstinent" bietet Geschichts-Thrill mit soziologischem Tiefgang
Manchester im Jahr 1867. Drei Männer werden gehängt, Mitglieder der Fenians, einer irischen Untergrundorganisation. Sie haben einen Polizisten ermordet. Das große Thema des Schriftstellers Ian McGuire, die Gewalt, ist schon im ersten Kapitel seines dritten Romans wieder präsent. Die Hinrichtung ist öffentlich, und auch der Erzähler sieht sehr genau hin bei der nicht sogleich gelingenden Henkersarbeit. Es gibt Buhrufe und Pfiffe. Dass daraus nichts Gutes erwachsen kann, ist schnell klar.
Vieles klappt nicht wie gedacht, davon kann auch die Hauptfigur des Romans, Constable James O'Connor, ein trauriges Lied singen. Seine Frau und sein kleines Kind sind gestorben, er hat schwer getrunken danach. Nun hat er den Weg in die Abstinenz geschafft. Um seinem in Trostlosigkeit versunkenen Leben zu entkommen, hat sich der Ire von Dublin nach Manchester versetzen lassen. Dort macht ihm nun der britische Nationalismus zu schaffen. Obwohl er bei der Ermittlungsarbeit gegen die Fenians sein Leben riskiert, setzen ihm die Kollegen mit heftigen antiirischen Ressentiments zu.
Gefühlt ist das Manchester dieses Romans eine Stadt, in der zwanzig Stunden am Tag Dunkelheit herrscht, allenfalls von funzligen Gaslaternen erhellt: "Der Vollmond hängt am schwarzen Himmel wie eine faule Frucht." Es ist eine Stadt voller Fabrikschlote, Gerbgruben, Kloakengeruch und Kneipenschlägereien; in den Gassen die "zusammengesackten Schemen schlafender Bettler". Bierkutschen, Rübenwagen und Fäkalienkarren rumpeln über das schlammige Pflaster. Ian McGuire versteht sich darauf, mit konzisen Beschreibungen eine bedrückende Atmosphäre zu beschwören, in der auch die Verschwörung gedeiht.
Denn die Fenians haben Rache für die Hinrichtung ihrer "Märtyrer" geschworen. Zu diesem Zweck schleusen sie einen Gewaltspezialisten aus den Vereinigten Staaten ein. Stephen Doyle, ebenfalls gebürtiger Ire, hat das Handwerk des Tötens im amerikanischen Bürgerkrieg erlernt. Nun soll er Anschläge in Manchester verüben. Wie James O'Connor hat auch Doyle eine traumatische Vergangenheit im Gepäck, wobei die Verletzungen aus Kindheit und Jugend noch schwerer wiegen als die vielen Leichen, die er im Krieg gesehen hat. Der Krieg verschaffte ihm sogar eine positive Erfahrung: eine Art Mystik der Gewalt, bei der sich mitten im Kugelhagel, umgeben von Schreienden und Sterbenden, seine Individualität auflöste in einem Gefühl der All-Einheit. Der Krieg ist für Doyle "wahrer und realer als alles andere".
In Ian McGuires geradezu bösartig gutem Walfänger-Roman "Nordwasser" standen sich der Kolonialarzt Sumner und der psychopathische Harpunier Drax gegenüber. "Der Abstinent" bezieht seine Spannung wiederum aus einem Zweikampf von O'Connor und Doyle, der niemals in vordergründige Action abirrt.
Nachdem er mehrere Polizisten getötet hat, verschwindet Doyle von der Bildfläche. Seine Kollegen wollen den Fall ruhen lassen; nicht James O'Connor. Ihm gelingt es, Doyles Spur aufzunehmen. Sie führt in die Vereinigten Staaten, zu einer Farm in der Nähe von Harrisburg, wo Doyle noch eine andere Rechnung zu begleichen hat. O'Connor ist nun kein Kriminalpolizist im Dienst mehr, sondern ein Mann, der auf eigene Rächerfaust über die ermüdenden Landstraßen von Pennsylvania zieht. Doch die Dinge entwickeln sich anders, als es bei solchen Showdowns sonst üblich ist.
"Der Abstinent" ist ein Thriller, der im besten Sinn vergessen lässt, dass er einer ist. Er erweckt nie den Eindruck, dass die Welt in Ordnung wäre, wenn nur dieser oder jener Schurke unschädlich gemacht würde. Vielmehr ist alles angefressen von Hinfälligkeit. Beziehungen zerbrechen, geliebte Menschen fallen Krankheiten zum Opfer, neue Liebe - O'Connor bemüht sich um die Schwester eines ermordeten Polizisten - scheitert an den seelischen Vorbelastungen, der Trost des Alkohols - O'Connor erleidet einen Rückfall - führt nur tiefer ins Elend. Und hinter allen fadenscheinigen Zivilisationskulissen lauert das Monster der Gewalt, lauern Verbrechen und Krieg. Dass in dieser Welt der unguten Getriebenheit gelegentlich auch etwas Helles aufscheint, ist dann umso bemerkenswerter.
Im Zweitberuf ist der 1964 geborene Schriftsteller Ian McGuire Literaturwissenschaftler an der Universität Manchester, als Spezialist für den Realismus des neunzehnten Jahrhunderts. Kaum erstaunlich, dass sich in "Nordwasser" ein Melville-Einfluss geltend machte. Und "Der Abstinent" verleugnet seine Nähe zu Joseph Conrads "Geheimagent" nicht. Der neue Roman ist allerdings nicht ganz so wuchtig und grimmig erzählt wie "Nordwasser". McGuire verzichtet diesmal auf grelle Effekte, der Erzählton ist ruhiger, dafür von einer makellosen Präzision, die auch in der Übersetzung Jan Schönherrs bewahrt bleibt. Vordergründig mag dieser im neunzehnten Jahrhundert spielende Roman ein wenig aus der Zeit gefallen erscheinen mit seinen äußerlich wie innerlich vernarbten Männergestalten und ihrem Katz-und-Maus-Spiel, wobei die Rolle der Katze wechselt. Kein Zweifel aber, dass "Der Abstinent" mit Themen wie Terrorismus, Nationalismus und Sucht einen sehr heutigen Nerv trifft. Vor allem ist die dunkle Lebensphilosophie dieses Romans so zeitlos wie die lakonische Dichte seiner Beschreibungen und Dialoge. WOLFGANG SCHNEIDER
Ian McGuire: "Der Abstinent". Roman.
Aus dem Englischen von Jan Schönherr.
Dtv, München 2021. 336 S., geb., 23,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main