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Produktdetails
  • Verlag: Duncker & Humblot
  • 1997.
  • Seitenzahl: 251
  • Erscheinungstermin: 4. Juni 1997
  • Deutsch
  • Abmessung: 234mm x 158mm x 15mm
  • Gewicht: 336g
  • ISBN-13: 9783428090075
  • ISBN-10: 3428090071
  • Artikelnr.: 10103353
  • Herstellerkennzeichnung
  • Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.02.1998

Vom heiligen Geist der Verhältnismäßigkeit
Walter Leisners engagiertes Plädoyer für den Abwägungsstaat

Walter Leisner: Der Abwägungsstaat. Verhältnismäßigkeit als Gerechtigkeit? Duncker & Humblot, Berlin 1997. 251 Seiten, 88,- Mark.

Immer wieder macht Walter Leisner, vor kurzem emeritierter Professor für Staatsrecht und Staatstheorie an der Universität Erlangen, auf besondere Entwicklungen des modernen Staates aufmerksam: Auf den "Gleichheitsstaat" (1980), den "Monumentalstaat" (1989) und den "Unsichtbaren Staat" (1994) folgt nun der "Abwägungsstaat". Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, früher nur im Polizeirecht bekannt, hat inzwischen das gesamte Verwaltungsrecht und auch das Verfassungsrecht durchdrungen. Viele Gerichtsentscheidungen, namentlich des Bundesverfassungsgerichts, enden in einer mehr oder weniger fein ziselierten Abwägung im Einzelfall. Leisner sieht darin eine Gefahr für den auf strikte Befehle angewiesenen Rechtsstaat und eine Rückkehr des öffentlichen Rechts zum Zivilrecht, der "Mutter allen Rechts". Er macht darauf aufmerksam, daß der Begriff der Verhältnismäßigkeit an die Stelle der früher angeführten Gerechtigkeit getreten ist, und sieht in ihm einen "Gerechtigkeits-Resignationsbegriff".

Mit vielen scharfen Formulierungen geißelt er Abwägungsfehler. So sei die Bemessung der Entschädigung unter dem Verkehrswert im Deichurteil des Bundesverfassungsgerichts eine Sünde wider den heiligen Geist der Verhältnismäßigkeit. Eindringlich schildert er das Spannungsverhältnis der Verhältnismäßigkeit zum Gleichheitsgrundsatz. Öffentliche Belange wie Landesverteidigung und Vollbeschäftigung könnten nicht gegeneinander abgewogen, sondern müßten politisch entschieden werden. Das heute so hoch gelobte Grundgesetz sei gerade dort eher von mäßigem Verstande, wo es Neues hervorbringen sollte, wie bei der Berufsfreiheit. Die vom Bundesverfassungsgericht für die Zulassung von Apotheken entwickelte Stufenlehre bezeichnet Leisner als "juristische Katastrophe"; die obersten Richter hätten hier die Freiheit einem nur in Abwägungspostulaten verkleideten System der Staatsgewalt geopfert. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts brauche jede Zeit ihre Verhältnismäßigkeit. In der ebenfalls vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Lehre, wonach bei einem Konflikt zwischen Strafvorschriften und Grundrechten (zum Beispiel Beleidigung - Meinungsfreiheit) eine Wechselwirkung zu berücksichtigen sei, sieht Leisner einen "grundrechtlichen Dreisprung".

Bei so fundamentaler Kritik versteht es sich, daß Leisner eine Abhilfe nicht in einer Verfeinerung oder Verbesserung des Abwägungsverfahrens sehen kann. Er fordert vielmehr ein "staatsgrundsätzliches Nachdenken" über die Verhältnismäßigkeit, eine Fruchtbarmachung ihres "staatsorganisatorischen Potentials". Die Abwägung müsse zum "Abwägungsstaat" fortgeführt werden. Damit wendet sich das Buch von der Kritik zu einem staatspolitischen und staatsorganisatorischen Programm. Abwägung ist für Leisner vor allem Machttechnik, nicht Rechtstechnik. Der Entwicklung zum Abwägestaat entspreche der Trend zum Abbau von Staatlichkeit und zur Privatisierung. Die staatliche Rechnungskontrolle dürfe sich nicht darauf beschränken, nur die Zweck-Mittel-Relation zu dem vom Staat gesetzten absoluten öffentlichen Interesse zu überwachen, sondern müsse auch die Ziele selbst kritisieren, wenn diese allzu hohe Kosten verursachten. Der Abwägungsstaat verlangt eine grundlegende Veränderung der Finanzplanung, die Ausrichtung der staatlichen Ziele an den möglichen Einnahmen. Die Staatlichkeit muß sich der Konkurrenz stellen, der Konkurrenz zu privaten Unternehmen, der Konkurrenz zwischen den Kommunen und Ländern und der Konkurrenz in der Europäischen Union. Das Parlament darf nicht unverhältnismäßig denken und dann seinen Willen durch andere Staatsgewalten, insbesondere die Judikative, beschränken lassen, sondern muß selbst in Verhältnismäßigkeit denken. In der Verhältnismäßigkeit stecke ein noch kaum fruchtbar gemachtes Potential, nämlich der Zwang zur Sorgfalt in der Administration, zur Verstärkung der Vorbildung, Ausbildung und Fortbildung im gesamten öffentlichen Dienst, aber auch die Forderung an den Gesetzgeber, das zu berücksichtigende Entscheidungsumfeld möglichst genau normativ zu umschreiben. Leisner entwickelt ein System von Proportionsgeboten, nämlich die Berücksichtigung des sachlich Benachbarten, der historischen Entwicklung und Bestandsschutz. Dann wird der Abwägungsstaat zu einer wirklich neuen, guten Staatsform.

Allerdings birgt der Abwägungsstaat auch Gefahren für die Freiheit. Er verlangt eine persönliche Entscheidung und Unkontrollierbarkeit des berufenen Staatsorgans. An die Stelle der Gewaltunterworfenheit trete die Persönlichkeitsunterworfenheit. Leisner plädiert für eine Rückkehr zu persönlichen Strukturen der Machtausübung und greift hierbei auf sein Buch über den Führer als persönliche Gewalt von 1983 zurück. Darin liege allerdings auch die Gefahr des Umschlags in eine barbarische Gewalt. Eine weitere Gefahr des Abwägungsstaates sieht Leisner in dem immer stärkeren Eindringen von Tatsachen in die Entscheidungsfindung. Die Realität gewinnt Übermacht über rechtliche Überlegungen und Wertungen. Die Verhältnismäßigkeit gewinnt ihr Recht aus dem Einzelfall, die Abwägung ist damit letztlich nichts anderes als eine Gesetzesdurchbrechung.

Darin liegt die Chance einer neuen Gerechtigkeit, einer wirklichen Einzelfallgerechtigkeit, andererseits die Gefahr einer reinen Willkür. In wenigen Sätzen deutet Leisner hier die Beziehung der abendländischen Staatlichkeit zur monotheistischen Religion an. Ein Wesenselement des Abwägungsstaates ist der Kompromiß. Ein kompromißloser Staat ist schlechthin ein Unwertbegriff. Die europäische Integration verlangt darüber hinaus eine internationalrechtliche Kompromißbereitschaft. Hieraus droht eine Schwächung des Staates, eine Blockade der Staatsgewalt. Gleichwohl kann die Verhältnismäßigkeit nach Leisner nach außen ungeheure integrierte Macht von Personen und deren sachlichen Belangen entfalten, nach innen gewaltige Ordnungskräfte legimitieren. Leisner schließt sein Buch mit dem am Bild der Justitia ausgerichteten Zuruf an den Staat: Stecke dein Schwert in die Scheide - in Waagschalen werfen es Barbaren!

Der Versuch von Leisner, ein bisher weitgehend als negativ bewertetes Phänomen ins Positive zu wenden, ist originell und verdient Beachtung. Er riskiert dabei allerdings, Angriffe sowohl von Anhängern als auch von Gegnern des Abwägungsprinzips auf sich zu ziehen. FRIEDRICH-CHRISTIAN SCHROEDER

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