Produktdetails
- Verlag: Philo
- ISBN-13: 9783825701390
- Artikelnr.: 21800458
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.03.2000Glut der Begeisterung
Die Autobiographie der ungarischen Philosophin Ágnes Heller
"Immer habe ich gern geredet", berichtet die Philosophin Ágnes Heller aus ihren zionistischen Jugendjahren, als sie im gleichgesinnten Kreis vom gemeinschaftlichen Leben im Kibbuz träumte. In Budapest 1929 geboren, war sie der Deportation in die Vernichtungslager und den Terrorkommandos der Pfeilkreuzer mehrmals nur knapp entkommen. Von der zionistischen Jugendbewegung der Nachkriegszeit führte ihr Weg zum Kommunismus, an dessen Ideen sie glaubte, ohne die Partei zu lieben. Im ungarischen Revolutionsjahr 1956 hatte die Schülerin und Assistentin von Georg Lukács bereits den Höhepunkt ihrer Karriere erreicht. Danach begann ihr Abstieg: Denunziation, Bespitzelung, Parteiausschluss, Verhaftungsdrohung, Schreib- und Berufsverbot. In den siebziger Jahren verließ sie ihre Heimat über Deutschland nach Australien und in die Vereinigten Staaten, wo sie an der New Yorker Emigrantenuniversität, der New School for Social Research, den Hannah-Arendt-Lehrstuhl innehatte.
Im Vertrauen auf die dialogischen Ideale ihres Lebens und ihrer Philosophie hat Heller ihre Memoiren nicht mit eigener Feder verfasst, sondern sie dem Landsmann János Köbányai auf Band gesprochen und zur Bearbeitung überlassen. Daraus sollte "eine Art Kollektivroman" der ungarisch-jüdischen Intelligenz entstehen, die "Biographie einer ganzen Generation": einer Generation von Waisen und Halbwaisen, die mit einem Trauma und mit Formen seiner Tabuisierung und Verdrängung aufwuchs. Gehörte es im Rückblick auf den Schrecken vor 1945 zum Sprachgebrauch, zu sagen, jemand aus dem trauten Kreise sei "nicht zurückgekommen", so sorgte der stalinistische Terror nach 1945 für neue Lücken in den Lebensläufen, über die niemand zu sprechen wagte. Vielleicht spricht Heller deshalb - anders als ihr Vorbild, die verschwiegene Hannah Arendt - auch über die privatesten Dinge des Lebens manchmal mehr, als man lesen möchte. Ihr nachträglich in einen Monolog gepresster Redefluss wird nur einmal in dem fünfhundert Seiten starken Buch durch Leerzeilen unterbrochen, zwischen denen es heißt: "János, dieses Tiefeninterview mit dir grenzt fast an eine Psychoanalyse."
Viel, vielleicht zu viel ist von "Berufung" die Rede - Berufung zur Wissenschaft, zur Philosophie und zum "Intellektuellendasein". Schon im Kinderwagen habe man sie "kleine Philosophin" gerufen, bis die Heranwachsende den Entschluss fasste: "Ich will Wissenschaftlerin werden." Ihr Lehrer Georg Lukács erschien ihr als "der menschgewordene Logos selbst", von seiner sanften, leisen Stimme ließ sie sich wie von Sirenentönen verzaubern.
Den Wunsch, das Leben so zu leben, als wäre es Philosophie, musste Heller mit unglücklichem Bewusstsein bezahlen. Der Antrieb, über eine Philosophie, die - aller jesuitischen "doppelten Wahrheiten" zum Trotz - unbedingte wissenschaftliche und weltanschauliche Geltung einklagte, in die intellektuelle Priesterkaste einzutreten, hieß einander ausschließenden Einsamkeits- und Gemeinschaftsidealen gleichzeitig nachzugehen. Solcher Zwiespalt wird im Augenblick des vermeintlichen Triumphs am deutlichsten: In den Revolutionstagen von 1956 sah sich die junge Gelehrte unversehens ins Rampenlicht versetzt. Nach vier Minuten war ihre Rede zwar vorbei, "aber das Publikum rief: ,Weiter, sprich weiter, wir wollen hören' und klatschte. Inmitten des Beifalls, wie aus einem wogenden Talkessel aufsteigend, erschien mir plötzlich ein Bild von mir selbst: Ich sitze in der Ecke meines Zimmers und lese Hegels Phänomenologie des Geistes. Dort war mein Platz, hier hatte ich nichts verloren."
Dieses Bild der Einsamkeit in der Menge flackert nur für einen Augenblick auf, um in die "Glut der Begeisterung" überzugehen, in das Bekenntnis: "Zum ersten Mal fühlte ich mich irgendwo heimisch." War es Liebe auf den letzten Blick? Im Sommer 1968 wurde Heller ein neues Schlüsselerlebnis zuteil. Wie jedes Jahr trafen sich Alt- und Neulinke aus Ost und West auf der Adriainsel Korcula zur "Internationalen Sommeruniversität", als aus Prag die Nachricht vom Einmarsch der Armeen des Warschauer Pakts eintraf. Während Heller eine Protesterklärung ihrer ungarischen Delegation verlas, wurde es still: "In der ersten Reihe saß der alte Ernst Bloch. Er kam zu mir aufs Podium, genauer gesagt, er ließ sich hinaufführen, denn er war blind. Und er gab mir vor aller Augen einen Kuß. Wahnsinniger Beifall. Ein Kuß von Ernst Bloch. Die alte Generation der Linken übergab der jungen die Fackel des Widerstands."
Was Heller bei allem Erwähltheitspathos sowohl von der noch vor der ersten Jahrhundertkatastrophe als auch von jener nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen Generation mitteleuropäischer Intellektueller unterscheidet, ist das Bewusstsein von der existentiellen Gebrochenheit solcher Berufung. Zur Fackelträgerin ist die Philosophin nicht ausgezeichnet, sondern auf ihr lastet eine Bürde, eine gegenüber den Opfern der Geschichte abzugeltende Schuld, die lautet: "davongekommen, aber was heißt das im Hinblick auf die, die nicht überlebt hatten?"
Über die Fäden des Lebens, Wirkens und der Überlieferung ist Heller dabei so eng mit der mitteleuropäischen Intellektuellenkaste und mit deren Pathogenese verbunden, dass ihre Biographie zusammen mit den beiden Hälften des Jahrhunderts auch dessen nahe beieinander liegenden geistigen Höhen und Abgründe überspannt. Dass Heller eine exponierte Mitstreiterin des Aufbruchs von 1968 war, macht ihre Autobiographie für Deutschland besonders beachtenswert. Dort hatte man in den Jahren nach 1968 auch den Lukács des "Lenin"-Essays und Autor von "Geschichte und Klassenbewußtsein" (1921) wieder entdeckt und die Wege des Philosophen von Heidelberg nach Moskau und zurück nach Budapest verfolgt.
Es bleibt ein Unbehagen gegenüber dem Antrieb, Denken so zu erzählen, als wäre es Leben, und das Leben in der Erzählung so wiederzugeben, als wäre es Denken. Darüber, wie sich das Leben an der Form dadurch rächt, "dass es sie verwirklicht", hat Ágnes Heller am Beispiel der Zerrissenheit des jungen Lukács einen ihrer schönsten Essays verfasst. Er hieß "Das Zerschellen des Lebens an der Form" und schloss mit der Frage: "Aber kann sich auch die Form am Leben rächen? Und wenn ja, für wen gilt dieses Urteil?" So hoch wie die Gedanken fliegen, kann das Leben nicht gelangen, und bis in die letzten Niederungen vermögen die Gedanken dem Leben selten zu folgen.
Hellers Autobiographie wird nicht der letzte intellektuelle Lebensbericht aus dem verflossenen Jahrhundert sein. Man hätte dem Buch, das sich streckenweise wie ein "Who's who" des internationalen intellektuellen und akademischen Jet-Set liest, neben einem Register auch ein sach- und sprachkundiges Lektorat gewünscht.
VOLKER BREIDECKER
Ágnes Heller: "Der Affe auf dem Fahrrad. Eine Lebensgeschichte". Bearbeitet von János Köbányai. Aus dem Ungarischen übersetzt von Christian Polzin und Irene Rübberdt. Philo Verlag, Berlin 1999. 508 S., geb., 64,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Autobiographie der ungarischen Philosophin Ágnes Heller
"Immer habe ich gern geredet", berichtet die Philosophin Ágnes Heller aus ihren zionistischen Jugendjahren, als sie im gleichgesinnten Kreis vom gemeinschaftlichen Leben im Kibbuz träumte. In Budapest 1929 geboren, war sie der Deportation in die Vernichtungslager und den Terrorkommandos der Pfeilkreuzer mehrmals nur knapp entkommen. Von der zionistischen Jugendbewegung der Nachkriegszeit führte ihr Weg zum Kommunismus, an dessen Ideen sie glaubte, ohne die Partei zu lieben. Im ungarischen Revolutionsjahr 1956 hatte die Schülerin und Assistentin von Georg Lukács bereits den Höhepunkt ihrer Karriere erreicht. Danach begann ihr Abstieg: Denunziation, Bespitzelung, Parteiausschluss, Verhaftungsdrohung, Schreib- und Berufsverbot. In den siebziger Jahren verließ sie ihre Heimat über Deutschland nach Australien und in die Vereinigten Staaten, wo sie an der New Yorker Emigrantenuniversität, der New School for Social Research, den Hannah-Arendt-Lehrstuhl innehatte.
Im Vertrauen auf die dialogischen Ideale ihres Lebens und ihrer Philosophie hat Heller ihre Memoiren nicht mit eigener Feder verfasst, sondern sie dem Landsmann János Köbányai auf Band gesprochen und zur Bearbeitung überlassen. Daraus sollte "eine Art Kollektivroman" der ungarisch-jüdischen Intelligenz entstehen, die "Biographie einer ganzen Generation": einer Generation von Waisen und Halbwaisen, die mit einem Trauma und mit Formen seiner Tabuisierung und Verdrängung aufwuchs. Gehörte es im Rückblick auf den Schrecken vor 1945 zum Sprachgebrauch, zu sagen, jemand aus dem trauten Kreise sei "nicht zurückgekommen", so sorgte der stalinistische Terror nach 1945 für neue Lücken in den Lebensläufen, über die niemand zu sprechen wagte. Vielleicht spricht Heller deshalb - anders als ihr Vorbild, die verschwiegene Hannah Arendt - auch über die privatesten Dinge des Lebens manchmal mehr, als man lesen möchte. Ihr nachträglich in einen Monolog gepresster Redefluss wird nur einmal in dem fünfhundert Seiten starken Buch durch Leerzeilen unterbrochen, zwischen denen es heißt: "János, dieses Tiefeninterview mit dir grenzt fast an eine Psychoanalyse."
Viel, vielleicht zu viel ist von "Berufung" die Rede - Berufung zur Wissenschaft, zur Philosophie und zum "Intellektuellendasein". Schon im Kinderwagen habe man sie "kleine Philosophin" gerufen, bis die Heranwachsende den Entschluss fasste: "Ich will Wissenschaftlerin werden." Ihr Lehrer Georg Lukács erschien ihr als "der menschgewordene Logos selbst", von seiner sanften, leisen Stimme ließ sie sich wie von Sirenentönen verzaubern.
Den Wunsch, das Leben so zu leben, als wäre es Philosophie, musste Heller mit unglücklichem Bewusstsein bezahlen. Der Antrieb, über eine Philosophie, die - aller jesuitischen "doppelten Wahrheiten" zum Trotz - unbedingte wissenschaftliche und weltanschauliche Geltung einklagte, in die intellektuelle Priesterkaste einzutreten, hieß einander ausschließenden Einsamkeits- und Gemeinschaftsidealen gleichzeitig nachzugehen. Solcher Zwiespalt wird im Augenblick des vermeintlichen Triumphs am deutlichsten: In den Revolutionstagen von 1956 sah sich die junge Gelehrte unversehens ins Rampenlicht versetzt. Nach vier Minuten war ihre Rede zwar vorbei, "aber das Publikum rief: ,Weiter, sprich weiter, wir wollen hören' und klatschte. Inmitten des Beifalls, wie aus einem wogenden Talkessel aufsteigend, erschien mir plötzlich ein Bild von mir selbst: Ich sitze in der Ecke meines Zimmers und lese Hegels Phänomenologie des Geistes. Dort war mein Platz, hier hatte ich nichts verloren."
Dieses Bild der Einsamkeit in der Menge flackert nur für einen Augenblick auf, um in die "Glut der Begeisterung" überzugehen, in das Bekenntnis: "Zum ersten Mal fühlte ich mich irgendwo heimisch." War es Liebe auf den letzten Blick? Im Sommer 1968 wurde Heller ein neues Schlüsselerlebnis zuteil. Wie jedes Jahr trafen sich Alt- und Neulinke aus Ost und West auf der Adriainsel Korcula zur "Internationalen Sommeruniversität", als aus Prag die Nachricht vom Einmarsch der Armeen des Warschauer Pakts eintraf. Während Heller eine Protesterklärung ihrer ungarischen Delegation verlas, wurde es still: "In der ersten Reihe saß der alte Ernst Bloch. Er kam zu mir aufs Podium, genauer gesagt, er ließ sich hinaufführen, denn er war blind. Und er gab mir vor aller Augen einen Kuß. Wahnsinniger Beifall. Ein Kuß von Ernst Bloch. Die alte Generation der Linken übergab der jungen die Fackel des Widerstands."
Was Heller bei allem Erwähltheitspathos sowohl von der noch vor der ersten Jahrhundertkatastrophe als auch von jener nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen Generation mitteleuropäischer Intellektueller unterscheidet, ist das Bewusstsein von der existentiellen Gebrochenheit solcher Berufung. Zur Fackelträgerin ist die Philosophin nicht ausgezeichnet, sondern auf ihr lastet eine Bürde, eine gegenüber den Opfern der Geschichte abzugeltende Schuld, die lautet: "davongekommen, aber was heißt das im Hinblick auf die, die nicht überlebt hatten?"
Über die Fäden des Lebens, Wirkens und der Überlieferung ist Heller dabei so eng mit der mitteleuropäischen Intellektuellenkaste und mit deren Pathogenese verbunden, dass ihre Biographie zusammen mit den beiden Hälften des Jahrhunderts auch dessen nahe beieinander liegenden geistigen Höhen und Abgründe überspannt. Dass Heller eine exponierte Mitstreiterin des Aufbruchs von 1968 war, macht ihre Autobiographie für Deutschland besonders beachtenswert. Dort hatte man in den Jahren nach 1968 auch den Lukács des "Lenin"-Essays und Autor von "Geschichte und Klassenbewußtsein" (1921) wieder entdeckt und die Wege des Philosophen von Heidelberg nach Moskau und zurück nach Budapest verfolgt.
Es bleibt ein Unbehagen gegenüber dem Antrieb, Denken so zu erzählen, als wäre es Leben, und das Leben in der Erzählung so wiederzugeben, als wäre es Denken. Darüber, wie sich das Leben an der Form dadurch rächt, "dass es sie verwirklicht", hat Ágnes Heller am Beispiel der Zerrissenheit des jungen Lukács einen ihrer schönsten Essays verfasst. Er hieß "Das Zerschellen des Lebens an der Form" und schloss mit der Frage: "Aber kann sich auch die Form am Leben rächen? Und wenn ja, für wen gilt dieses Urteil?" So hoch wie die Gedanken fliegen, kann das Leben nicht gelangen, und bis in die letzten Niederungen vermögen die Gedanken dem Leben selten zu folgen.
Hellers Autobiographie wird nicht der letzte intellektuelle Lebensbericht aus dem verflossenen Jahrhundert sein. Man hätte dem Buch, das sich streckenweise wie ein "Who's who" des internationalen intellektuellen und akademischen Jet-Set liest, neben einem Register auch ein sach- und sprachkundiges Lektorat gewünscht.
VOLKER BREIDECKER
Ágnes Heller: "Der Affe auf dem Fahrrad. Eine Lebensgeschichte". Bearbeitet von János Köbányai. Aus dem Ungarischen übersetzt von Christian Polzin und Irene Rübberdt. Philo Verlag, Berlin 1999. 508 S., geb., 64,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main