Als Grundlage für die menschliche Kultur gelten gemeinhin die Fähigkeiten zu lernen, Symbole zu verwenden, Werkzeuge zu gebrauchen, Spiele zu benutzen, Wissen weiterzugeben. Wenn man dies in Betracht zieht, geht man mit einem völlig neuen Blick durch die Tierwelt, denn die scharfe Trennung von Natur und Kultur wirkt dann absurd. Außer den uns genetisch am nächsten stehenden Menschenaffen gibt es viele Tiere, die diese Fähigkeiten besitzen, wie Frans de Waal anhand zahlreicher Beispiele zeigt. Die »kulturelle Brille« des Westens kann auch blind machen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.02.2003Am besten liest sich's aufgewärmt
Frans de Waal rüttelt an den Grenzen zwischen Mensch und Tier
An den göttliche Impuls mag niemand mehr so recht glauben, und die Kultur, sagt Frans de Waal, taugt auch nicht mehr für eine Erklärung dessen, was das spezifisch Menschliche ausmacht. Eine gewitzte Kreatur bevölkert Labor und Wildnis und beeindruckt mit erstaunlichem Repertoire: raffinierten Beschaffungsstrategien, effektiven Bildungsmethoden, Diplomatie und Sinn für Ästhetik. "Die Vorstellung, wir seien die einzige Spezies, deren Überleben von einer Kultur abhängt, ist falsch", heißt es in dem neuem Buch des Primatologen Frans de Waal. Die Befunde aus dem Tierreich sprächen dafür, die "ganze mühsame Gegenüberstellung von Natur und Kultur" zu beenden.
De Waal, niederländischer Herkunft, hat jahrzehntelang die Kreatur studiert, immer mit dem Wunsch zu erfahren, "was in den Köpfen der Tiere vorgeht". Ergebnisse dieses Versuchs sind einfühlsame Porträts von Primaten-Gesellschaften. Wir sind es selbst, die mit den Beschreibungen eines sensiblen Geflechts aus Machtspiel, Kompromissen und Versöhnungstaktiken den Spiegel vorgehalten bekommen. 1994 setzte der Sprecher des amerikanischen Repräsentantenhauses de Waals "Chimpanzee Politics" (deutsch "Unsere haarigen Vettern") auf die Liste empfohlener Bücher für die neuen Abgeordneten.
Die Frage, inwieweit Tierverhalten bewußtes Handeln ist, scheint aufgegeben, nachdem das von der Wissenschaft ausgerufene Jahrzehnt der Hirnforschung ohne wesentlichen Aufschluß darüber verstrich, was Bewußtsein sei. Nun also die Frage, inwieweit das Verhalten von Tieren kulturelles Verhalten ist. De Waal breitet seinen Lesern dazu einen reichen Schatz eigener Erfahrungen und Literaturkenntnis aus.
Wir lesen, wie Schimpansen mit kiloschweren Steinen Nüsse öffnen, mit Zweigen Termiten ernten und Sitzflächen basteln, mit zerkauten Blättern Wasser aufsaugen. Wir lesen von jener berühmten Makakengruppe auf der Insel Koshima im Süden Japans, deren Mitglieder seit einem halben Jahrhundert Süßkartoffeln zunächst im Fluß, später auch im Meer waschen. Eine junge Affendame namens Imo hatte im Jahre 1953 diesen Brauch eingeführt, was, so de Waal, eine "Kulturrevolution in der Primatologie" auslöste. Wie anders ließe sich das Verhalten der Koshima-Makaken erklären, wenn nicht mit einer gewissen Kultur-Fähigkeit?
Und so schreibt de Waal vom Lernen und Erkennen, von Intentionen und sozialer Übermittlung. Bevor ein Schimpansenjunges im Taï-Wald an der Elfenbeinküste das erste Mal selbst eine Nuß mit dem Hammerstein aufschlägt, hat es, wie der Lehrling dem Sushimeister, seiner Mutter lange, lange dabei zugeschaut. Primaten-Mütter würden die ansonsten raschen Bewegungen betont langsam ausführen, dabei aufmerksam die Blickrichtung ihrer Jungen verfolgen und auch schon einmal beim Praxistest der lieben Kleinen die Lage einer Nuß korrigieren.
Der Leser profitiert durchaus davon, daß Frans de Waal, anders als Kollegen, Anekdoten nicht scheut. Da ist die Schimpansin Georgia, "Lieblingsquälgeist" im Yerkes Primate Center bei Atlanta, die, wann immer sich Besuch sehen läßt, den Mund voll Wasser nimmt, sich unauffällig unter ihre Gruppe mischt und bei erstbester Gelegenheit, wenn man nur nah genug an das Gehege tritt, den einen oder anderen Gast mit offenkundigem Vergnügen naßspritzt. Einmal, berichtet der Autor, sei Georgia auch auf ihn zugekommen, nachdem sie sich schon am Wasserhahn versorgt hatte. "Ich sah ihr direkt in die Augen, zeigte mit dem Finger auf sie und sagte auf holländisch: ,Ich habe dich gesehen!'" Georgia ließ von ihrem Streich. Er meine nicht, daß Georgia Holländisch verstanden habe, schreibt der Autor, aber "sie muß gespürt haben, daß ich wußte, was sie vorhatte". Und daß folgerichtig der Streich nicht funktionieren würde. Georgia eine Absicht zu unterstellen, war zumindest sehr effektiv. De Waal fiel ihrer Boshaftigkeit nicht zum Opfer.
Natürlich darf, wer die Grenze zwischen Mensch und Tier niederreißen will, sie nicht zwischen Primaten und dem ganzen großen Rest der Fauna wieder aufbauen. Also kolportiert de Waal etwa die Geschichte von Rettungshunden, die 1985 nach einem großen Erdbeben in Mexiko die Lust am Retten verloren, weil sie nur noch Tote fanden. Von Orca-Müttern, die ihre Kälber im Jagen unterweisen. Von einer Rodrigues-Flughündin, die in einer Zuchtkolonie von Florida einer gebärenden Artgenossin in unglücklicher Lage als Hebamme zur Hilfe kommt.
Das Grundproblem von de Waals Buch ist sein monistischer Kulturbegriff. Es kann ja gar keine Frage sein, daß auch Tiere zu einer Art kulturellen - wörtlich: bebauenden - Verhalten fähig sind. Die von de Waals geschilderten Beispiele illustrieren ebendies zum Teil sehr treffend. Aber kann das schon bedeuten, daß die Grenze zwischen Tier und Mensch gefallen ist? Ist der Kulturbegriff beim Menschen nicht im Gegenteil erheblich vielschichtiger, mehrdimensionaler als beim Tier? Hier, bei der Analyse des kulturellen Spektrums, müßte ansetzen, wer etwas Aussagekräftiges über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Mensch und Tier sagen will. Wie das geht, hat jüngst Michael Tomasello mit seinem bahnbrechenden Buch "Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens" (F.A.Z. vom 8. Oktober 2002) gezeigt.
In bezug auf Konrad Lorenz bekennt de Waal "gemischte Gefühle". Er sehe keinen Anlaß, "die Bedeutung seiner Beiträge zum Tierverhalten in Frage zu stellen". Das klingt inkonsequent, weil der Autor viele Seiten dafür verwendet, uns zu zeigen, wie tiefgreifend vorherrschende Denkweisen und Ideologien die Art und Weise des Forschens beeinflussen. Die Kulturprimatologie etwa, für die de Waal so vehement eine Bresche schlägt, habe nur im Umfeld buddhistischen und konfuzianischen Denkens entstehen können - fern eines "Mensch-Tier-Dualismus der jüdisch-christlichen Tradition".
Wir blicken, sagt Frans de Waal, auf die Tiere als Geschöpfe, die uns etwas über uns selbst sagen, "woher wir kommen und wo unser Platz im umfassenden Plan des Lebens ist". Sei es dafür so wichtig zu wissen, ob das Verhalten der Schimpansenfrau Georgia auf Reflex, Programm oder Intention beruht? Zu ergründen, was "in den Köpfen der Tiere vorgeht", bleibt natürlich eine heikle Angelegenheit. Aber ist "heikel" ein Grund, sie als "sinnlos" abzutun, wie das de Waal für das Nachdenken über Tier und Mensch gleichermaßen fordert? Spricht aus de Waal nicht der Anachronismus einer längst überwunden geglaubten, lediglich von kalten Kriegern wie Edward Wilson wieder aufgewärmten "wissenschaftlichen Weltauffassung" - ganz im Stil des Wiener Kreises, welcher Anfang des vorigen Jahrhunderts für die "Einheit des Wissens" unter strikt empiristischer Prämisse warb?
De Waals Vorschlag, die von ihm sogenannten "letzten Fragen" auf sich beruhen und einfach alle möglichen Antworten gelten zu lassen, scheint mit intellektueller Generosität denn auch weniger zu tun zu haben als mit Denkfaulheit aus antimetaphysischem Affekt. Wir könnten uns doch darauf einigen, daß die Frage, ob Menschen im Innersten gut oder böse sind, sinnlos ist: Vielleicht, schreibt Frans de Waal, sind wir ja gerade nett genug. Vielleicht. Aber da hat die Geistesgeschichte schon anregendere Antworten hervorgebracht.
REGINE RACHOW
Frans de Waal: "Der Affe und der Sushimeister". Das kulturelle Leben der Tiere. Aus dem Englischen von Udo Rennert. Hanser Verlag, München 2002. 392 S., Abb., geb., 24,90 [Euro].
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Frans de Waal rüttelt an den Grenzen zwischen Mensch und Tier
An den göttliche Impuls mag niemand mehr so recht glauben, und die Kultur, sagt Frans de Waal, taugt auch nicht mehr für eine Erklärung dessen, was das spezifisch Menschliche ausmacht. Eine gewitzte Kreatur bevölkert Labor und Wildnis und beeindruckt mit erstaunlichem Repertoire: raffinierten Beschaffungsstrategien, effektiven Bildungsmethoden, Diplomatie und Sinn für Ästhetik. "Die Vorstellung, wir seien die einzige Spezies, deren Überleben von einer Kultur abhängt, ist falsch", heißt es in dem neuem Buch des Primatologen Frans de Waal. Die Befunde aus dem Tierreich sprächen dafür, die "ganze mühsame Gegenüberstellung von Natur und Kultur" zu beenden.
De Waal, niederländischer Herkunft, hat jahrzehntelang die Kreatur studiert, immer mit dem Wunsch zu erfahren, "was in den Köpfen der Tiere vorgeht". Ergebnisse dieses Versuchs sind einfühlsame Porträts von Primaten-Gesellschaften. Wir sind es selbst, die mit den Beschreibungen eines sensiblen Geflechts aus Machtspiel, Kompromissen und Versöhnungstaktiken den Spiegel vorgehalten bekommen. 1994 setzte der Sprecher des amerikanischen Repräsentantenhauses de Waals "Chimpanzee Politics" (deutsch "Unsere haarigen Vettern") auf die Liste empfohlener Bücher für die neuen Abgeordneten.
Die Frage, inwieweit Tierverhalten bewußtes Handeln ist, scheint aufgegeben, nachdem das von der Wissenschaft ausgerufene Jahrzehnt der Hirnforschung ohne wesentlichen Aufschluß darüber verstrich, was Bewußtsein sei. Nun also die Frage, inwieweit das Verhalten von Tieren kulturelles Verhalten ist. De Waal breitet seinen Lesern dazu einen reichen Schatz eigener Erfahrungen und Literaturkenntnis aus.
Wir lesen, wie Schimpansen mit kiloschweren Steinen Nüsse öffnen, mit Zweigen Termiten ernten und Sitzflächen basteln, mit zerkauten Blättern Wasser aufsaugen. Wir lesen von jener berühmten Makakengruppe auf der Insel Koshima im Süden Japans, deren Mitglieder seit einem halben Jahrhundert Süßkartoffeln zunächst im Fluß, später auch im Meer waschen. Eine junge Affendame namens Imo hatte im Jahre 1953 diesen Brauch eingeführt, was, so de Waal, eine "Kulturrevolution in der Primatologie" auslöste. Wie anders ließe sich das Verhalten der Koshima-Makaken erklären, wenn nicht mit einer gewissen Kultur-Fähigkeit?
Und so schreibt de Waal vom Lernen und Erkennen, von Intentionen und sozialer Übermittlung. Bevor ein Schimpansenjunges im Taï-Wald an der Elfenbeinküste das erste Mal selbst eine Nuß mit dem Hammerstein aufschlägt, hat es, wie der Lehrling dem Sushimeister, seiner Mutter lange, lange dabei zugeschaut. Primaten-Mütter würden die ansonsten raschen Bewegungen betont langsam ausführen, dabei aufmerksam die Blickrichtung ihrer Jungen verfolgen und auch schon einmal beim Praxistest der lieben Kleinen die Lage einer Nuß korrigieren.
Der Leser profitiert durchaus davon, daß Frans de Waal, anders als Kollegen, Anekdoten nicht scheut. Da ist die Schimpansin Georgia, "Lieblingsquälgeist" im Yerkes Primate Center bei Atlanta, die, wann immer sich Besuch sehen läßt, den Mund voll Wasser nimmt, sich unauffällig unter ihre Gruppe mischt und bei erstbester Gelegenheit, wenn man nur nah genug an das Gehege tritt, den einen oder anderen Gast mit offenkundigem Vergnügen naßspritzt. Einmal, berichtet der Autor, sei Georgia auch auf ihn zugekommen, nachdem sie sich schon am Wasserhahn versorgt hatte. "Ich sah ihr direkt in die Augen, zeigte mit dem Finger auf sie und sagte auf holländisch: ,Ich habe dich gesehen!'" Georgia ließ von ihrem Streich. Er meine nicht, daß Georgia Holländisch verstanden habe, schreibt der Autor, aber "sie muß gespürt haben, daß ich wußte, was sie vorhatte". Und daß folgerichtig der Streich nicht funktionieren würde. Georgia eine Absicht zu unterstellen, war zumindest sehr effektiv. De Waal fiel ihrer Boshaftigkeit nicht zum Opfer.
Natürlich darf, wer die Grenze zwischen Mensch und Tier niederreißen will, sie nicht zwischen Primaten und dem ganzen großen Rest der Fauna wieder aufbauen. Also kolportiert de Waal etwa die Geschichte von Rettungshunden, die 1985 nach einem großen Erdbeben in Mexiko die Lust am Retten verloren, weil sie nur noch Tote fanden. Von Orca-Müttern, die ihre Kälber im Jagen unterweisen. Von einer Rodrigues-Flughündin, die in einer Zuchtkolonie von Florida einer gebärenden Artgenossin in unglücklicher Lage als Hebamme zur Hilfe kommt.
Das Grundproblem von de Waals Buch ist sein monistischer Kulturbegriff. Es kann ja gar keine Frage sein, daß auch Tiere zu einer Art kulturellen - wörtlich: bebauenden - Verhalten fähig sind. Die von de Waals geschilderten Beispiele illustrieren ebendies zum Teil sehr treffend. Aber kann das schon bedeuten, daß die Grenze zwischen Tier und Mensch gefallen ist? Ist der Kulturbegriff beim Menschen nicht im Gegenteil erheblich vielschichtiger, mehrdimensionaler als beim Tier? Hier, bei der Analyse des kulturellen Spektrums, müßte ansetzen, wer etwas Aussagekräftiges über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Mensch und Tier sagen will. Wie das geht, hat jüngst Michael Tomasello mit seinem bahnbrechenden Buch "Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens" (F.A.Z. vom 8. Oktober 2002) gezeigt.
In bezug auf Konrad Lorenz bekennt de Waal "gemischte Gefühle". Er sehe keinen Anlaß, "die Bedeutung seiner Beiträge zum Tierverhalten in Frage zu stellen". Das klingt inkonsequent, weil der Autor viele Seiten dafür verwendet, uns zu zeigen, wie tiefgreifend vorherrschende Denkweisen und Ideologien die Art und Weise des Forschens beeinflussen. Die Kulturprimatologie etwa, für die de Waal so vehement eine Bresche schlägt, habe nur im Umfeld buddhistischen und konfuzianischen Denkens entstehen können - fern eines "Mensch-Tier-Dualismus der jüdisch-christlichen Tradition".
Wir blicken, sagt Frans de Waal, auf die Tiere als Geschöpfe, die uns etwas über uns selbst sagen, "woher wir kommen und wo unser Platz im umfassenden Plan des Lebens ist". Sei es dafür so wichtig zu wissen, ob das Verhalten der Schimpansenfrau Georgia auf Reflex, Programm oder Intention beruht? Zu ergründen, was "in den Köpfen der Tiere vorgeht", bleibt natürlich eine heikle Angelegenheit. Aber ist "heikel" ein Grund, sie als "sinnlos" abzutun, wie das de Waal für das Nachdenken über Tier und Mensch gleichermaßen fordert? Spricht aus de Waal nicht der Anachronismus einer längst überwunden geglaubten, lediglich von kalten Kriegern wie Edward Wilson wieder aufgewärmten "wissenschaftlichen Weltauffassung" - ganz im Stil des Wiener Kreises, welcher Anfang des vorigen Jahrhunderts für die "Einheit des Wissens" unter strikt empiristischer Prämisse warb?
De Waals Vorschlag, die von ihm sogenannten "letzten Fragen" auf sich beruhen und einfach alle möglichen Antworten gelten zu lassen, scheint mit intellektueller Generosität denn auch weniger zu tun zu haben als mit Denkfaulheit aus antimetaphysischem Affekt. Wir könnten uns doch darauf einigen, daß die Frage, ob Menschen im Innersten gut oder böse sind, sinnlos ist: Vielleicht, schreibt Frans de Waal, sind wir ja gerade nett genug. Vielleicht. Aber da hat die Geistesgeschichte schon anregendere Antworten hervorgebracht.
REGINE RACHOW
Frans de Waal: "Der Affe und der Sushimeister". Das kulturelle Leben der Tiere. Aus dem Englischen von Udo Rennert. Hanser Verlag, München 2002. 392 S., Abb., geb., 24,90 [Euro].
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