Der Alltag: voller Wunder und Zumutungen. Die Welt: ein Ort, der noch zu entdecken ist. In seinem neuen Buch, einem persönlichen Tagebuch zur Zeitgeschichte, nimmt uns Karl-Markus Gauß mit in eine literarische Schule des Staunens. Vom Mai 2011 bis ins Frühjahr 2013 ist der Bogen dieser Gegenschrift zum Zeitgeist gespannt. Die erzählerischen Miniaturen, philosophischen Anmerkungen, historischen Anekdoten, die literarischen Porträts, politischen Widerreden und autobiografischen Entwürfe führen den Autor jedoch weit über diese Zeit hinaus. Ein mitreißendes Dokument geistiger Unabhängigkeit und schöpferischen Eigensinns.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Den Buchtitel hält Christoph Bartmann nicht gerade für bescheiden, erinnert er den Kritker doch an James Joyces Jahrhundertroman "Ulysses". Statt um einen Tag in Dublin gehe es hier allerdings um zwei Jahre in Salzburg. Auch Paul Valérys "Cahiers" kommen dem Rezensenten in den Sinn, er hält sie genauso wie Gauß' Buch für eine "intellektuelle Arbeit an der Gegenwart". Überraschen kann Bartmann nur wenig von dieser Welt- und Zeitanalyse, trotzdem kann er ihr etwas abgewinnen. Um Geistespraktiken wie das "Sinnen" drehe es sich darin, das für Gauß dem Verschwinden von Erinnerungen entgegenwirken könne. Die Überlegungen über dieses und jenes würden auch vor Trivialem nicht Halt machen, stellt Bartmann fest, und seien immer besonders dort lohnend, wo "der Autor die Fragen stellt, die ihn umtreiben, und nicht mit der Abwehr des verbleibenden Rests beschäftigt ist".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.02.2016Keine Träne für Thatcher
Das Verschwinden des Schreibmaschinenklapperns aus den Büros; die erst nach mehr als 350 Jahren im Druck erschienenen Reiseberichte eines jungen oberösterreichischen Adligen, der wohl als erster Alpenbewohner den Pazifik überquerte - was immer Karl-Markus Gauß zwischen den Jahren 2011 und 2013 besonders beeindruckt hat, was ihm ansonsten durch den Kopf gerauscht ist, stellt er in liebenswert-kauzigem, ungeniert mit Austriazismen gewürztem Plauderton vor. "Der Alltag der Welt" heißt das Büchlein - als Österreicher würde man hier sagen: "No, na ned!" In dieser Chronik, in der Gauß "gegen das Chronikalische" verstoßen will, "weil ich kein chronikalisches Leben führe", ist erstaunlich oft vom Tod die Rede. Nahe Verwandte, entfernte Freunde, verehrte Schriftsteller werden erwähnt, freilich auch der Tod von Margaret Thatcher. Ihr weint Gauß keine Träne nach. Anderen schon. Jean Améry bestand auf dem Wort "Freitod" statt "Selbstmord", über Stefan Zweigs mit seiner Frau verübten Suizid schüttelten ehemalige Freunde den Kopf - hätte er nicht noch ein paar Jahre durchhalten mögen? Diesen Vorwurf kreidet Gauß besonders streng an. Dazwischen immer wieder Florilegien des Seltsamen: Ob öffentliche Nacktheit (gratis Einkaufen, wenn man hüllenlos zur Supermarkteröffnung erscheint) oder atheistische Pastoren der dänischen Kirche, alles fließt ein in das charmante Sammelsurium. Vielleicht dieses noch: Eines Tages muss der Notierende, der stets für die Bettler und gegen die Bettelverbote in seiner Heimatstadt Salzburg eintritt, sich von einem jungen, wie er betont, hübschen schwarzhaarigen Bettelbuben als "Nazi, Nazi" beschimpfen und in einem darauf folgenden Anstarr-Duell weiter demütigen lassen. Wie peinlich ihm das war und ob es wohl jemand als Augenzeuge mitbekommen habe? Keine Angst, nun wissen es ja alle Leser.
lhotz.
Karl-Markus Gauß: "Der Alltag der Welt". Zwei Jahre, und viele mehr.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2015.
335 S., geb., 23,60 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Verschwinden des Schreibmaschinenklapperns aus den Büros; die erst nach mehr als 350 Jahren im Druck erschienenen Reiseberichte eines jungen oberösterreichischen Adligen, der wohl als erster Alpenbewohner den Pazifik überquerte - was immer Karl-Markus Gauß zwischen den Jahren 2011 und 2013 besonders beeindruckt hat, was ihm ansonsten durch den Kopf gerauscht ist, stellt er in liebenswert-kauzigem, ungeniert mit Austriazismen gewürztem Plauderton vor. "Der Alltag der Welt" heißt das Büchlein - als Österreicher würde man hier sagen: "No, na ned!" In dieser Chronik, in der Gauß "gegen das Chronikalische" verstoßen will, "weil ich kein chronikalisches Leben führe", ist erstaunlich oft vom Tod die Rede. Nahe Verwandte, entfernte Freunde, verehrte Schriftsteller werden erwähnt, freilich auch der Tod von Margaret Thatcher. Ihr weint Gauß keine Träne nach. Anderen schon. Jean Améry bestand auf dem Wort "Freitod" statt "Selbstmord", über Stefan Zweigs mit seiner Frau verübten Suizid schüttelten ehemalige Freunde den Kopf - hätte er nicht noch ein paar Jahre durchhalten mögen? Diesen Vorwurf kreidet Gauß besonders streng an. Dazwischen immer wieder Florilegien des Seltsamen: Ob öffentliche Nacktheit (gratis Einkaufen, wenn man hüllenlos zur Supermarkteröffnung erscheint) oder atheistische Pastoren der dänischen Kirche, alles fließt ein in das charmante Sammelsurium. Vielleicht dieses noch: Eines Tages muss der Notierende, der stets für die Bettler und gegen die Bettelverbote in seiner Heimatstadt Salzburg eintritt, sich von einem jungen, wie er betont, hübschen schwarzhaarigen Bettelbuben als "Nazi, Nazi" beschimpfen und in einem darauf folgenden Anstarr-Duell weiter demütigen lassen. Wie peinlich ihm das war und ob es wohl jemand als Augenzeuge mitbekommen habe? Keine Angst, nun wissen es ja alle Leser.
lhotz.
Karl-Markus Gauß: "Der Alltag der Welt". Zwei Jahre, und viele mehr.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2015.
335 S., geb., 23,60 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Gauß könnte über umgefallene Streichholzschachteln schreiben, und es wäre bereichernd." Peter Pisa, Kurier, 22.08.15
"Jenseits von Moden und Trends schreibt Gauß an seiner Chronik der Welt- und Selbstbeobachtung - mit erfrischender Treffsicherheit, immer wieder unterlegt mit Ironie oder auch polemisch zugespitzt." Kristina Pfoser, Ö1, 24.08.15
"Ein Kompendium gepflegter Zeitkritik." Günter Kaindlstorfer, WDR5, 11.10.15
"Eine unbekümmert anmutende Mischung aus zeitgeschichtlichem Kommentar, satirischen Zuspitzungen, literarischen Porträts, Medienkritik, Philosophie, kulturhistorischen Exkursen, poetologischen Reflexionen und autobiografischer Erzählung." Gerhard Melzer, Neue Zürcher Zeitung, 20.10.15
"Ein Textgeflecht der Sonderklasse, das die intellektuelle Anregung zum Lesevergnügen macht." Christian Schacherreiter, Oberösterreichische Nachrichten, 21.10.15
"Gauß' Sätze, seine hellsichtigen Betrachtungen zur Zeit, sein wunderbar durchkomponiertes Zweifeln an dem, was man den "common sense" nennen könnte, sind ein Geschenk." Joachim Leitner, Tiroler Tageszeitung, 13.11.2015
"Eine radikale, streitbare Gegenschrift zum Zeitgeist." Rainer Kasselt, Sächsische Zeitung, 09.06.16
"Jenseits von Moden und Trends schreibt Gauß an seiner Chronik der Welt- und Selbstbeobachtung - mit erfrischender Treffsicherheit, immer wieder unterlegt mit Ironie oder auch polemisch zugespitzt." Kristina Pfoser, Ö1, 24.08.15
"Ein Kompendium gepflegter Zeitkritik." Günter Kaindlstorfer, WDR5, 11.10.15
"Eine unbekümmert anmutende Mischung aus zeitgeschichtlichem Kommentar, satirischen Zuspitzungen, literarischen Porträts, Medienkritik, Philosophie, kulturhistorischen Exkursen, poetologischen Reflexionen und autobiografischer Erzählung." Gerhard Melzer, Neue Zürcher Zeitung, 20.10.15
"Ein Textgeflecht der Sonderklasse, das die intellektuelle Anregung zum Lesevergnügen macht." Christian Schacherreiter, Oberösterreichische Nachrichten, 21.10.15
"Gauß' Sätze, seine hellsichtigen Betrachtungen zur Zeit, sein wunderbar durchkomponiertes Zweifeln an dem, was man den "common sense" nennen könnte, sind ein Geschenk." Joachim Leitner, Tiroler Tageszeitung, 13.11.2015
"Eine radikale, streitbare Gegenschrift zum Zeitgeist." Rainer Kasselt, Sächsische Zeitung, 09.06.16