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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.06.2020

Vom Glück der Hochseefischerei

Eine bisher unveröffentlichte Erzählung von Ernest Hemingway beschreibt die Jagd auf einen Riesenfisch. Erinnerungen an "Der alte Mann und das Meer" werden wach, doch existentielle Töne meidet der Erzähler diesmal.

Ernest Hemingway (1899 bis 1961) war in seinen frühen Jahren so revolutionär wie Proust und James Joyce. Ihn unmittelbar nach Thomas Mann zu lesen ist ein kleiner Schock. Nur wer in Hemingways beste Zeit zurückgeht, die ersten drei Story-Bände, kann die Knappheit und Poesie des Einfachen ungefähr so empfinden, wie die Zeitgenossen sie gesehen haben könnten: als Impressionismus der Wahrhaftigkeit.

Jetzt hat das Magazin "The New Yorker" eine bisher unveröffentlichte Hemingway-Erzählung aus dem Nachlass publiziert, und ein Teil des Zaubers ist wieder da. "Pursuit as Happiness", ein 18-Seiten-Text mit stark autobiographischen Zügen, ist im thematischen Umkreis von "Der alte Mann und das Meer" entstanden, die lange Erzählung, für die einem erschöpften, fast schon ausgeschriebenen Hemingway 1954 der Literaturnobelpreis verliehen wurde. Auch "Pursuit as Happiness" schildert die Jagd eines Fischers (und seiner kleinen Crew) nach einem riesigen Marlin vor der kubanischen Küste, und wie in der berühmten, mit Spencer Tracy verfilmten Novelle verlieren die Fischer den Kampf: Einer aus der Besatzung kappt im kritischen Augenblick die falsche Angelrute und lässt den Fünfhundert-Kilo-Fisch nach vierstündigem Ringen entkommen.

Doch die Unterschiede sind von Belang: Im "Alten Mann" trägt ein einsamer alter Kubaner mit der Natur selbst einen Kampf aus, der als Parabel auf das Leben verstanden werden kann - um es mit Rilke zu sagen: "Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles." "Pursuit" dagegen erzählt in lakonischem Ton vom Glück der Fischerei und der Leidenschaft für das Meer. Der Titel zitiert die bekannte Wendung aus der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung: "Life, Liberty, and the Pursuit of Happiness". Streben als Glück, so ließe sich also der Hemingway-Titel verstehen: Die Jagd ist das Ziel.

Die "Anita", das für neun Dollar am Tag gecharterte Boot, bildet hier außerdem ein Gegengewicht zum Handwerk des Schreibens, denn der Ich-Erzähler, der mit "Ernest" und "Hemingway" angesprochen wird, ist Schriftsteller mit gelegentlicher Ladehemmung. Sein Freund, Mr. Josie, erinnert ihn daran, wie gut er frühmorgens schreiben könnte, um sich den Rest des Tages der Hochseefischerei zu widmen. Und so erzählt "Ernest" von seinem Schreiben, bevor der Marlin gesichtet wird, und es ist der klassische Hemingway-Stil, natürlich wie ruhiger Atem: "I had the Anita in it and the waterfront and the things we knew that had happened and I tried to get into the feeling of the sea and the things we saw and smelled and heard and felt each day. I worked on the story every morning and we fished each day and caught good fish."

Hemingways Tierschilderungen gehören zum Besten ihres Genres, weil er selbst da, wo es ihm vor Staunen den Atem verschlägt, nichts davon in die Sprache dringen lässt. Der Marlin, den die drei Leute auf der Anita an der Rute haben und der sie dann stundenlang durchs Meer schleift - Hemingway muss das Ungetüm ächzend im Zaum halten - ist silberfarben im Sonnenlicht und um die Mitte dick wie ein Weinfass. Seine Brustflossen sehen aus wie zwei große Sensenblätter, seine Schnauze "wie ein abgesägter Billardstock". "I've never seen such a fish", sagt Carlos, der später alles versaut und sich dafür tagelang schämen wird. "Never. Never. Never." Natürlich gibt es auch den knappen Wortwitz echter Männer aus einer Zeit ungebrochener Maskulinität: "Kann ich Ihnen irgendwas besorgen, Cap?", fragt Mr. Josie den Autor. Antwort: "Zwei Hände und einen neuen Rücken."

Das jetzt aufgetauchte Typoskript stammt aus dem Nachlassmaterial der John F. Kennedy Library in Boston und soll noch in diesem Jahr in einer Neuausgabe von "The Old Man and the Sea" erstmals gedruckt werden. In einem Interview mit dem "New Yorker" datierte Seán Hemingway, der Enkel des Autors, die Entstehung zwischen 1936 und 1956. Die Story spielt 1933, als in Havanna das Machado-Regime an der Macht war und die Stadt von sozialen Unruhen erschüttert wurde. An zwei Stellen ist von aggressiven oder schießwütigen Polizisten des Regimes die Rede. Das Meer und die Fischerei werden so zum Rückzugsort vor der korrupten Politik. Hemingway selbst gab die Finca Vigía in San Francisco de Paula bei Havanna schon kurz nach der kubanischen Revolution auf und kehrte in die Vereinigten Staaten zurück. Im Badezimmer der Finca kann man bis heute seine depressiven Bleistiftnotizen an der Wand lesen. 1955 wog er 240 Pfund, im Juli 1960 nur noch 190 Pfund. Einmal steht da: "mit Pantoffeln und Schlafanzug". Ein anderes Mal: "17 Tage ohne Diät - 5 getrunken."

PAUL INGENDAAY

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