Produktdetails
  • Verlag: bpb
  • ISBN-13: 9783838902371
  • Artikelnr.: 35320177
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.05.2012

Doch vitaler als erwartet . . .
Der Washingtoner Patient

Wer die öffentliche Meinung auf beiden Seiten des Atlantiks verfolgt, muss zu dem beunruhigenden Schluss kommen, dass der Westen dem Untergang nahe ist. Aus amerikanischer Sicht gefährden die Europäer die wirtschaftliche Zukunft der Welt, weil sie sich, angeführt von den verstockten Deutschen, weigern, so viel Geld zu drucken und Liquidität zu erzeugen, wie es die Finanzmärkte und verschuldeten Staaten verlangen. Militärisch seien unwillige Europäer schon lange zum Trittbrettfahrer der Weltgeschichte geworden.

Viele Europäer ihrerseits können beim Blick über den Atlantik nur eine hilflose, krisengeschüttelte Weltmacht im Untergang erkennen. Josef Bramls neuestes Buch "Der Amerikanische Patient" ist geeignet, diese Weltsicht zu verfestigen. Der gut informierte Amerika-Fachmann bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik erklärt den Deutschen, warum die Finanz- und Wirtschaftskrise die grundlegenden Strukturprobleme der Vereinigten Staaten vertieft und zur Blockade des politischen Systems geführt hat. Überdies beschäftigt sich fast die Hälfte des Buches mit den amerikanischen außenpolitischen Problemen auf fünf Kontinenten und sieben Weltmeeren.

Angesichts der von Braml diagnostizierten Gleichgewichtsstörungen, Ohnmachtsanfälle, Herzrhythmusprobleme und Antriebsschwächen des amerikanischen Patienten addieren sich diese Symptome fast zu einem multi-moribunden Siechtum, mit nur wenig Hoffnung auf Besserung und Heilung. Um stichwortartig einige, natürlich nicht nur von Braml diagnostizierten, Krankheitssymptome zu nennen: Die sozioökonomischen Konflikte haben das Land tief gespalten und den amerikanischen Traum vom unbegrenzten Wirtschaftswachstum durch Konsum auf Pump zerstört. Die Hälfte aller Amerikaner mit schlechter Ausbildung ist arbeitslos, das gilt besonders für Afro-Amerikaner und Latinos. Die Ungleichheit des Einkommens, noch mehr des Vermögens, hat seit den 1970er Jahren beständig zugenommen; 46 Millionen Amerikaner leben in Armut, 50 Millionen können sich keine Krankenversicherung leisten.

Das politische System, so Braml, sei blockiert und dysfunktional. Angesichts der totalen Blockade durch die Republikaner gehe im Kongress nichts mehr. Die in allen industrialisierten Fragen heißumstrittene Fundamental-Frage, was vom Staat und was vom Markt getan werden solle, sei in den Vereinigten Staaten zum Glaubenskrieg geworden. Der Einfluss des großen Geldes und der Interessengruppen auf die Wahlkämpfe und das politische System habe, mit Unterstützung des Obersten Bundesgerichts, noch einmal zugenommen (money talks). Die einzig verbliebene handlungsfähige Institution, die "Federal Reserve Bank", spiele Vabanque, weil sie Schulden mit immer neuen Schulden bekämpfen wolle. Zu den weiteren Krisensymptomen zählen Staatsverschuldung, Rekordhaushaltsdefizite, Arbeitslosigkeit, die Krisen der sozialen Sicherungssysteme, besonders des Gesundheitswesens.

Eine falsche Energiepolitik treibe Washington in die Katastrophe. Trotz anderslautender Zweck-Meldungen habe die Abhängigkeit vom Öl nicht abgenommen. Um die Energieressourcen und Handelswege zu sichern, seien die Vereinigten Staaten weiterhin auf kostspielige Militäraktionen angewiesen, ohne sie sich weiter leisten zu können. Eine Wende in der Energiepolitik und eine Abkehr von fossilen Brennstoffen seien nicht zu erkennen. Die Energiekosten würden weiter steigen. Aufgrund der weltweit steigenden Nachfrage, insbesondere aus China und Indien, würden Öl und weitere Rohstoffe knapper.

Auch in der Außenpolitik werde die Lage immer kritischer. Amerika sehe seine vitalen Interessen fast überall auf der Welt bedroht. Seine Handlungsfähigkeit dagegen sei, aufgrund der wirtschaftlichen Schwäche, "enorm eingeschränkt". Diesen Befund nimmt der Autor zum Ausgangspunkt einer globalen "tour d'horizon" über die weltweiten Herausforderungen und Probleme der amerikanischen Außenpolitik. In diesem Teil des Buches zeigt sich die besondere Kompetenz des Autors, der die Redaktion des "Jahrbuchs Internationale Politik" leitet.

Angesichts dieser sehr düsteren Diagnose überrascht das Schlusswort des Autors sehr: "So hege ich die Hoffnung, dass die hier vorgelegte Diagnose vielleicht doch etwas zu pessimistisch ausgefallen ist und dass sich der ,amerikanische Patient' als ungeahnt vital erweist und sich schneller erholen wird, als ich erwarte." Es wäre schön gewesen, wenn der Leser in einem Schlusskapitel erfahren hätte, auf welche Selbstheilungskräfte und mögliche Medizin sich diese Hoffnung stützen könnte. Der von Braml nachhaltig geforderte, verstärkte Gedankenaustausch mit den Amerikanern auf allen Ebenen, um die gegenwärtige transatlantische Sprachlosigkeit zu beenden, ist zwar lobenswert, wird aber wenig an unterschiedlichen Interessen und Ideologien ändern können.

DETLEF JUNKER

Josef Braml: Der Amerikanische Patient. Was der drohende Kollaps der USA für die Welt bedeutet. Siedler Verlag, München, 2012, 224 S., 19,99 [Euro].

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