Junge Amokschützen lernen voneinander: Die »Schule des Tötens« erstreckt sich vom australischen Port Arthur bis zum norwegischen Utoya. Die drei deutschen Tatorte Erfurt, Emsdetten und Winnenden stellt Ines Geipel in den Kontext der weltweiten Geschichte des Amoklaufs und sie zeigt, wie diese neue Form der Gewalt aus der Mitte unserer befriedeten westlichen Gesellschaften herausbricht. Was treibt junge Amokläufer an? Warum sind Waffen noch immer so mühelos verfügbar? Wie schützt die Polizei, was klärt die Politik, wer ist für die Hinterbliebenen da? Unveröffentlichte Akten und Materialien, Gespräche mit Augenzeugen, Angehörigen und Experten geben tiefe Einblicke in den AmokKomplex.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.04.2012Die Risikoerzählerin
Ines Geipel geht in ihren Büchern immer dorthin, wo es weh tut
Nerven können einem ganz schön auf die Nerven gehen. Anfang des Jahres erschien kaum eine Zeitung und Zeitschrift ohne große Reportagen oder detaillierte Dossiers über Depressionen, Stress und Schwermut: Da war sie, die neueste Belastungskrise des kapitalistischen Menschen, die sofort und genauestens analysiert werden musste. Prominente Patienten wurden befragt, Ärzte auch, bis auch der Letzte mitbekommen hatte, dass Phasen schlechter Laune das eine sind - und Depressionen etwas dramatisch anderes. Die Öffentlichkeit war das Interessanteste an diesem kurzen, lauten therapeutischen Gespräch: Wie man also das Innerste zur Sprache bringt und ob das überhaupt hilfreich ist und sich dieses Innerste, sobald es nach außen gekehrt wird, dabei vielleicht verändert. Der tote Torwart Robert Enke, aufgebahrt nach seinem Suizid in einem Fußballstadion: War das, auch wenn alle damals im November 2009 vom Innehalten redeten, noch ein intimer Moment?
Ines Geipel schreibt seit Jahren Bücher über solche Momente - und die Krisen, die ihnen vorausgehen. Sie schreibt über Gewalt in der Gesellschaft, bewaffnete und strukturelle, über Verzweiflung und einsame Ausweglosigkeit. Sie hat den Erfurter Amoklauf am Gutenberg-Gymnasium, der sich im April zum zehnten Mal jährt, 2004 literarisch rekonstruiert, was nicht unumstritten war. Sie engagiert sich - als ehemalige Leistungssportlerin der DDR - in der juristischen Aufarbeitung des staatsverordneten Dopings bis 1989 und hat auch darüber geschrieben und das Bundesverdienstkreuz dafür bekommen. Zuletzt, 2010, folgte sie in ihrem Buch "Seelenriss" depressiven Menschen in ihre Krankheit hinein - auch Robert Enke von der Kindheit in die Profikarriere bis hin zu dem Bahndamm bei Hannover, an dem er sich vor einen Zug warf.
Ines Geipel schreibt also über eine Gesellschaft mit Nervenleiden. Und bei alledem nervt sie selbst, sie kann am Ende gar nicht anders, und das muss vielleicht sogar so sein. Ines Geipel zu lesen heißt, sich zu winden unter einem Ton, der einem beim Lesen immer näher kommt. Auch beim "Amok-Komplex" ist das wieder so, ihrem neuen Buch, das sie zurück nach Erfurt geführt hat und zu vier anderen Schauplätzen von Amokläufen der jüngeren Vergangenheit: Port Arthur 1996, Emsdetten 2006, Winnenden 2009 und Utøya letztes Jahr. Fünf Fälle, fünf Jungs, fünf verstörte Gesellschaften.
Winden und wundern
Wir treffen uns an einem Frühjahrsfreitag in Kreuzberg, wo Ines Geipel lebt, um über den "Amok-Komplex" zu reden und vor allem über ihren speziellen Ton, der sich oft ins Elektrisch-Atemlose hochschraubt: "Das Unvorstellbare", so schreibt sie zum Beispiel über den 11. September 2001, als das große Nervenflattern begann, wie sie sagt, das bis heute anhält. "Ground Zero. Der neue Krieg. Das Verschwinden der Realität. Die Mega-Operation. Der Super-Crash. Der Live-live-Moment. Die Zäsur." Es wirkt, als schreibe Ines Geipel so lange über ein Phänomen, bis es, umstellt von so vielen Worten, gar nicht mehr anders kann als aufzugeben, sich preiszugeben. Und wenn man so will, dann bewegt sich auch diese Assoziationskraft an der Borderline - aber dann sitzt da im Café eine hochgewachsene, lebendige Frau vor einem, die urplötzlich sehr laut lachen kann und die von sich selbst sagt: "Sie müssen, wenn Sie an mich denken, an einen sehr glücklichen Menschen denken." Wenn das stimmt, dann aber auch an einen Menschen, der immer wieder vergeblich einen Stein einen Berg hinaufrollt, denn so hatte Albert Camus ja eigentlich mal über Sisyphos geschrieben.
In ihrem neuen Buch geht Ines Geipel immer gleich vor: Auf ein psychoanalytisches Vorspiel über den Täter und seine Väter und Mütter und seine Welt folgt die Rekonstruktion des Verbrechens. Oft zitiert sie aus Ermittlungsakten, und da steht dann im Fall des Schützen von Winnenden, Tim K., der sich zu Hause bewaffnen konnte aus dem Arsenal seines Vater: "Folgende Munition befand sich außerhalb der vorgeschriebenen Sicherheitsbehältnisse: 40 Patronen im Kaliber 9mm Luger (Marke ,Sellier&Bellot'), in einem unverschlossenen Hängeschrank im Schlafzimmer, 2 Patronen im Kaliber 9mm Luger, 4 Patronen im Kaliber .357 Magnum und 1 Patrone im Kaliber .44 Magnum in der Schublade eines Schreibtisches im Werkstattraum, 177 Patronen im Kaliber .22 lr und 15 Patronen im Kaliber .357 Magnum in einer Sportpistolentasche im Werkstattraum" und immer so weiter. Ein paar Seiten später hat Tim K. acht Schülerinnen, einen Schüler, zwei Referendarinnen und eine Lehrerin erschossen. "Der Anblick der toten Mädchen", schreibt Ines Geipel. "Manche hatten noch ihre Stifte in der Hand." Man muss dieses Buch hin und wieder weglegen, sonst hält man es nicht aus.
Ines Geipel wurde 1960 in Dresden geboren, sie war Mitglied im selben Verein, in dem gut zehn Jahre später auch der kleine Robert Enke Fußball zu spielen begann, SC Motor Jena, mit ihrer Staffel lief sie 1984 die schnellste Zeit, die je eine Vereinsmannschaft über vier mal hundert Meter gelaufen ist, aber weil sie gedopt war, hat sie sich später, 2005, aus der Rekordliste streichen lassen. 1989 ist sie über Ungarn in den Westen geflohen, studierte, begann zu schreiben, Romane, Sachbücher, seit 2001 ist sie Professorin für Verssprache an der Schauspielschule "Ernst Busch" in Berlin.
"Dieses ewige Schauern vor Tabus geht mir auf den Wecker", sagt sie zum Beispiel. "Da habe ich sehr viel von meinen Schauspielstudenten gelernt, die ja immer ganz vorn an der Rampe stehen und genau diese Energie zwischen dem Publikum und dem Stoff aushalten müssen." Ines Geipel selbst ist angefeindet worden für ihr erstes Buch über den Erfurter Amoklauf, "Für heute reicht's" hieß es, also wie die letzten Worte Robert Steinhäusers, bevor der sich erschoss. Sie hat die Politik angegriffen (und tut das im neuen Buch wieder) und die Polizei und die Schule, und vor allem hat sie die Grenzen zwischen Fiktion und Journalismus hinter sich gelassen, indem sie als Erzählerin der Geschichte eine Mitschülerin des Täters erfand.
Das sei nicht legitim, hielt man ihr damals vor. Aber Ines Geipel schreibt ihre Bücher eben so, als könnten alle diese Geschichten, die von Robert aus Erfurt und die von Tim aus Winnenden und Sebastian aus Emsdetten und Anders aus Oslo, am Ende immer mit uns allen zu tun haben, weil wir doch alle eben diese Gesellschaft bilden, aus der sich die fünf jungen Männer offenbar ausgeschlossen fühlten, oder gegen die sie, wie Anders Breivik, vorgehen wollten. Es ist unter uns geschehen, also hängen wir mit drin, also dürfen wir nicht von uns halten, was uns angeht, auch nicht durch einen klinischen Ton in der Sprache.
Schweigen und sprechen
Dabei machen diese fünf fürchterlichen Amokläufe natürlich erst mal sprachlos. Nur nicht Ines Geipel. Sie versucht sich - wie die Schauspielstudenten an der Bühnenrampe - als Medium zwischen Publikum und Stoff. "Ich bin fürs Flagge-Zeigen", sagt sie. "Wenn ich gut recherchiert habe und weiß, wovon ich rede, kann es ruhig kontrovers zugehen." Sie fährt an die Tatorte und bohrt erst mal nach dem, was da noch im Verborgenen liegen könnte. Ererbte Schäden: die Chemielandschaft um Jena, in der Robert Enke aufwächst und wo die DDR ihre Dopingpräparate für den hochgezüchteten Leistungssport produziert; die mineralischen Böden um Winnenden, die angezapft nicht mehr zur Ruhe kommen.
"Ich vertraue darauf", sagt sie, "dass etwas passiert, wenn ich in so einem Ekelhotel in Winnenden sitze, nach der Recherche, und die Tage zu erzählen beginnen." Und sie assoziiert: Der Vater von Tim K. ist in der Verpackungsindustrie tätig, im Elternhaus stehen überall Tresore, Ines Geipel dichtet sich in die Welt des Amokläufers hinein, "blockierte Ängste, Wachstumsrisse, verschachtelte Sehnsüchte, Unsicherheiten, mitunter gar das Gefühl, von etwas bedroht zu werden." Nachträglich, das ist die Schwäche dieser Methode, kann man solche Verbindungen natürlich immer ziehen, zwischen einem Vater, der mit Kartons arbeitet, und einem Sohn, der seine eingepackten Aggressionen irgendwann auspackt. Und doch ist dieses Risikoerzählen offener für das, was am Ende so etwas wie eine Wahrheit sein könnte, oder wenigstens etwas mehr Fairness gegenüber den psychotischen Tätern als das geschlossene Talkshow-Erklärungsmuster: Egoshooter-Schulversager-Internet-keine-Freundin-Amok. "Diese Jungs sind keine Monster", sagt Ines Geipel. "Sie sind Zeichen, die wir lesen müssen, sonst wird das Schießen zur Spirale. Sieht man sich die Dokumente an, zeigt sich, dass diese Amokkinder alle an ihren Schulen handfest gemobbt wurden. Amok ist demnach auch ein Bericht über unsere Schule der Beschämung."
In "Seelenriss" fällt ein kleiner Satz, es geht um die ehemalige Schwimmerin Ute Krause, ein Opfer der Doping-Diktatur DDR, die bis heute an Essstörungen leidet, an einem tiefen Seelenriss, der sich nicht kitten lässt: "Indem sie sich ein Wort aufsagte", steht dort also, "das bisher in ihr verborgen gelegen hatte, passierte etwas dabei." Am Ende beschreibt das auch das Verfahren von Ines Geipel. "Ich habe versucht, dieser Art Wüste eine Form abzuringen", sagt sie selbst über ihr Amok-Buch. Man muss ihren Innerlichkeitsstil nicht mögen, aber es wäre zynisch, ihn nur abzuwehren als freudianischen Jargon oder spekulativen Psychokitsch.
"Die beruhigten Räume in der Gesellschaft sind sukzessive weggebrochen", sagt Ines Geipel. "Kinder müssen aber in beruhigten, freien Räumen groß werden können." Was aber ist richtiger, wenn es um Erziehung geht oder um öffentliche Trauer: das Unausgesprochene zur Sprache zu bringen, wie bei der Burn-out-Diskussion? Oder zu schweigen, weil auch Schamgrenzen wichtig sind, wie es Theo Zwanziger, der DFB-Präsident, im Herbst nach dem Suizidversuch des Bundesliga-Schiedsrichters Babak Rafati genau nicht tat? Zwanziger redete und redete von Blutlachen und Leistungsdruck, wie um das Gefühl seiner Mitverantwortung zu verarbeiten. Ines Geipel schreibt und schreibt, um herauszufinden, ob es diese Mitverantwortung überhaupt gibt.
Dort, wo solche Analysen zum Ritual werden, werden sie auch zum Problem. Es ist nicht leicht. Nerven können einem ganz schön auf die Nerven gehen.
TOBIAS RÜTHER
Ines Geipel: "Der Amok-Komplex oder die Schule des Tötens". Klett-Cotta, 320 Seiten, 19,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ines Geipel geht in ihren Büchern immer dorthin, wo es weh tut
Nerven können einem ganz schön auf die Nerven gehen. Anfang des Jahres erschien kaum eine Zeitung und Zeitschrift ohne große Reportagen oder detaillierte Dossiers über Depressionen, Stress und Schwermut: Da war sie, die neueste Belastungskrise des kapitalistischen Menschen, die sofort und genauestens analysiert werden musste. Prominente Patienten wurden befragt, Ärzte auch, bis auch der Letzte mitbekommen hatte, dass Phasen schlechter Laune das eine sind - und Depressionen etwas dramatisch anderes. Die Öffentlichkeit war das Interessanteste an diesem kurzen, lauten therapeutischen Gespräch: Wie man also das Innerste zur Sprache bringt und ob das überhaupt hilfreich ist und sich dieses Innerste, sobald es nach außen gekehrt wird, dabei vielleicht verändert. Der tote Torwart Robert Enke, aufgebahrt nach seinem Suizid in einem Fußballstadion: War das, auch wenn alle damals im November 2009 vom Innehalten redeten, noch ein intimer Moment?
Ines Geipel schreibt seit Jahren Bücher über solche Momente - und die Krisen, die ihnen vorausgehen. Sie schreibt über Gewalt in der Gesellschaft, bewaffnete und strukturelle, über Verzweiflung und einsame Ausweglosigkeit. Sie hat den Erfurter Amoklauf am Gutenberg-Gymnasium, der sich im April zum zehnten Mal jährt, 2004 literarisch rekonstruiert, was nicht unumstritten war. Sie engagiert sich - als ehemalige Leistungssportlerin der DDR - in der juristischen Aufarbeitung des staatsverordneten Dopings bis 1989 und hat auch darüber geschrieben und das Bundesverdienstkreuz dafür bekommen. Zuletzt, 2010, folgte sie in ihrem Buch "Seelenriss" depressiven Menschen in ihre Krankheit hinein - auch Robert Enke von der Kindheit in die Profikarriere bis hin zu dem Bahndamm bei Hannover, an dem er sich vor einen Zug warf.
Ines Geipel schreibt also über eine Gesellschaft mit Nervenleiden. Und bei alledem nervt sie selbst, sie kann am Ende gar nicht anders, und das muss vielleicht sogar so sein. Ines Geipel zu lesen heißt, sich zu winden unter einem Ton, der einem beim Lesen immer näher kommt. Auch beim "Amok-Komplex" ist das wieder so, ihrem neuen Buch, das sie zurück nach Erfurt geführt hat und zu vier anderen Schauplätzen von Amokläufen der jüngeren Vergangenheit: Port Arthur 1996, Emsdetten 2006, Winnenden 2009 und Utøya letztes Jahr. Fünf Fälle, fünf Jungs, fünf verstörte Gesellschaften.
Winden und wundern
Wir treffen uns an einem Frühjahrsfreitag in Kreuzberg, wo Ines Geipel lebt, um über den "Amok-Komplex" zu reden und vor allem über ihren speziellen Ton, der sich oft ins Elektrisch-Atemlose hochschraubt: "Das Unvorstellbare", so schreibt sie zum Beispiel über den 11. September 2001, als das große Nervenflattern begann, wie sie sagt, das bis heute anhält. "Ground Zero. Der neue Krieg. Das Verschwinden der Realität. Die Mega-Operation. Der Super-Crash. Der Live-live-Moment. Die Zäsur." Es wirkt, als schreibe Ines Geipel so lange über ein Phänomen, bis es, umstellt von so vielen Worten, gar nicht mehr anders kann als aufzugeben, sich preiszugeben. Und wenn man so will, dann bewegt sich auch diese Assoziationskraft an der Borderline - aber dann sitzt da im Café eine hochgewachsene, lebendige Frau vor einem, die urplötzlich sehr laut lachen kann und die von sich selbst sagt: "Sie müssen, wenn Sie an mich denken, an einen sehr glücklichen Menschen denken." Wenn das stimmt, dann aber auch an einen Menschen, der immer wieder vergeblich einen Stein einen Berg hinaufrollt, denn so hatte Albert Camus ja eigentlich mal über Sisyphos geschrieben.
In ihrem neuen Buch geht Ines Geipel immer gleich vor: Auf ein psychoanalytisches Vorspiel über den Täter und seine Väter und Mütter und seine Welt folgt die Rekonstruktion des Verbrechens. Oft zitiert sie aus Ermittlungsakten, und da steht dann im Fall des Schützen von Winnenden, Tim K., der sich zu Hause bewaffnen konnte aus dem Arsenal seines Vater: "Folgende Munition befand sich außerhalb der vorgeschriebenen Sicherheitsbehältnisse: 40 Patronen im Kaliber 9mm Luger (Marke ,Sellier&Bellot'), in einem unverschlossenen Hängeschrank im Schlafzimmer, 2 Patronen im Kaliber 9mm Luger, 4 Patronen im Kaliber .357 Magnum und 1 Patrone im Kaliber .44 Magnum in der Schublade eines Schreibtisches im Werkstattraum, 177 Patronen im Kaliber .22 lr und 15 Patronen im Kaliber .357 Magnum in einer Sportpistolentasche im Werkstattraum" und immer so weiter. Ein paar Seiten später hat Tim K. acht Schülerinnen, einen Schüler, zwei Referendarinnen und eine Lehrerin erschossen. "Der Anblick der toten Mädchen", schreibt Ines Geipel. "Manche hatten noch ihre Stifte in der Hand." Man muss dieses Buch hin und wieder weglegen, sonst hält man es nicht aus.
Ines Geipel wurde 1960 in Dresden geboren, sie war Mitglied im selben Verein, in dem gut zehn Jahre später auch der kleine Robert Enke Fußball zu spielen begann, SC Motor Jena, mit ihrer Staffel lief sie 1984 die schnellste Zeit, die je eine Vereinsmannschaft über vier mal hundert Meter gelaufen ist, aber weil sie gedopt war, hat sie sich später, 2005, aus der Rekordliste streichen lassen. 1989 ist sie über Ungarn in den Westen geflohen, studierte, begann zu schreiben, Romane, Sachbücher, seit 2001 ist sie Professorin für Verssprache an der Schauspielschule "Ernst Busch" in Berlin.
"Dieses ewige Schauern vor Tabus geht mir auf den Wecker", sagt sie zum Beispiel. "Da habe ich sehr viel von meinen Schauspielstudenten gelernt, die ja immer ganz vorn an der Rampe stehen und genau diese Energie zwischen dem Publikum und dem Stoff aushalten müssen." Ines Geipel selbst ist angefeindet worden für ihr erstes Buch über den Erfurter Amoklauf, "Für heute reicht's" hieß es, also wie die letzten Worte Robert Steinhäusers, bevor der sich erschoss. Sie hat die Politik angegriffen (und tut das im neuen Buch wieder) und die Polizei und die Schule, und vor allem hat sie die Grenzen zwischen Fiktion und Journalismus hinter sich gelassen, indem sie als Erzählerin der Geschichte eine Mitschülerin des Täters erfand.
Das sei nicht legitim, hielt man ihr damals vor. Aber Ines Geipel schreibt ihre Bücher eben so, als könnten alle diese Geschichten, die von Robert aus Erfurt und die von Tim aus Winnenden und Sebastian aus Emsdetten und Anders aus Oslo, am Ende immer mit uns allen zu tun haben, weil wir doch alle eben diese Gesellschaft bilden, aus der sich die fünf jungen Männer offenbar ausgeschlossen fühlten, oder gegen die sie, wie Anders Breivik, vorgehen wollten. Es ist unter uns geschehen, also hängen wir mit drin, also dürfen wir nicht von uns halten, was uns angeht, auch nicht durch einen klinischen Ton in der Sprache.
Schweigen und sprechen
Dabei machen diese fünf fürchterlichen Amokläufe natürlich erst mal sprachlos. Nur nicht Ines Geipel. Sie versucht sich - wie die Schauspielstudenten an der Bühnenrampe - als Medium zwischen Publikum und Stoff. "Ich bin fürs Flagge-Zeigen", sagt sie. "Wenn ich gut recherchiert habe und weiß, wovon ich rede, kann es ruhig kontrovers zugehen." Sie fährt an die Tatorte und bohrt erst mal nach dem, was da noch im Verborgenen liegen könnte. Ererbte Schäden: die Chemielandschaft um Jena, in der Robert Enke aufwächst und wo die DDR ihre Dopingpräparate für den hochgezüchteten Leistungssport produziert; die mineralischen Böden um Winnenden, die angezapft nicht mehr zur Ruhe kommen.
"Ich vertraue darauf", sagt sie, "dass etwas passiert, wenn ich in so einem Ekelhotel in Winnenden sitze, nach der Recherche, und die Tage zu erzählen beginnen." Und sie assoziiert: Der Vater von Tim K. ist in der Verpackungsindustrie tätig, im Elternhaus stehen überall Tresore, Ines Geipel dichtet sich in die Welt des Amokläufers hinein, "blockierte Ängste, Wachstumsrisse, verschachtelte Sehnsüchte, Unsicherheiten, mitunter gar das Gefühl, von etwas bedroht zu werden." Nachträglich, das ist die Schwäche dieser Methode, kann man solche Verbindungen natürlich immer ziehen, zwischen einem Vater, der mit Kartons arbeitet, und einem Sohn, der seine eingepackten Aggressionen irgendwann auspackt. Und doch ist dieses Risikoerzählen offener für das, was am Ende so etwas wie eine Wahrheit sein könnte, oder wenigstens etwas mehr Fairness gegenüber den psychotischen Tätern als das geschlossene Talkshow-Erklärungsmuster: Egoshooter-Schulversager-Internet-keine-Freundin-Amok. "Diese Jungs sind keine Monster", sagt Ines Geipel. "Sie sind Zeichen, die wir lesen müssen, sonst wird das Schießen zur Spirale. Sieht man sich die Dokumente an, zeigt sich, dass diese Amokkinder alle an ihren Schulen handfest gemobbt wurden. Amok ist demnach auch ein Bericht über unsere Schule der Beschämung."
In "Seelenriss" fällt ein kleiner Satz, es geht um die ehemalige Schwimmerin Ute Krause, ein Opfer der Doping-Diktatur DDR, die bis heute an Essstörungen leidet, an einem tiefen Seelenriss, der sich nicht kitten lässt: "Indem sie sich ein Wort aufsagte", steht dort also, "das bisher in ihr verborgen gelegen hatte, passierte etwas dabei." Am Ende beschreibt das auch das Verfahren von Ines Geipel. "Ich habe versucht, dieser Art Wüste eine Form abzuringen", sagt sie selbst über ihr Amok-Buch. Man muss ihren Innerlichkeitsstil nicht mögen, aber es wäre zynisch, ihn nur abzuwehren als freudianischen Jargon oder spekulativen Psychokitsch.
"Die beruhigten Räume in der Gesellschaft sind sukzessive weggebrochen", sagt Ines Geipel. "Kinder müssen aber in beruhigten, freien Räumen groß werden können." Was aber ist richtiger, wenn es um Erziehung geht oder um öffentliche Trauer: das Unausgesprochene zur Sprache zu bringen, wie bei der Burn-out-Diskussion? Oder zu schweigen, weil auch Schamgrenzen wichtig sind, wie es Theo Zwanziger, der DFB-Präsident, im Herbst nach dem Suizidversuch des Bundesliga-Schiedsrichters Babak Rafati genau nicht tat? Zwanziger redete und redete von Blutlachen und Leistungsdruck, wie um das Gefühl seiner Mitverantwortung zu verarbeiten. Ines Geipel schreibt und schreibt, um herauszufinden, ob es diese Mitverantwortung überhaupt gibt.
Dort, wo solche Analysen zum Ritual werden, werden sie auch zum Problem. Es ist nicht leicht. Nerven können einem ganz schön auf die Nerven gehen.
TOBIAS RÜTHER
Ines Geipel: "Der Amok-Komplex oder die Schule des Tötens". Klett-Cotta, 320 Seiten, 19,95 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Zum zehnten Jahrestag des Amoklaufs von Erfurt hat sich Verena Mayer sehr interessiert mit Ines Geipels vergleichender Studie über Amokläufe befasst. Die These der Autorin, dass nämlich Amokschützen sich an Vorbildern orientieren und also jeder Amoklauf als "Blaupause" für folgende Täter verwendet wird, leuchtet der Rezensentin ein. Die Stärke des Buches sieht Mayer in der beeindruckenden Fülle der Quellen, die die Autorin herangezogen hat. Sie untersucht fünf Fälle und wertet dabei Polizeiprotokolle, das Waffenarsenal der Familie der Täter, deren Tagebücher und Lieblingsbeschäftigungen aus, so Mayer. Am meisten hat sie die Aussagen der Familien der Amokläufer gefesselt, denn bei Geipel wird erschreckend deutlich, dass es hier keinen Austausch über das Oberflächliche hinaus gab, meint die Rezensentin. Methodisch könne man dem Buch zwar vorhalten, dass es Schul-Amokläufe und Fälle von wahllosen Amokläufen auf öffentlichen Plätzen zusammenwirft. Für die Rezensentin aber sind diese Taten durchaus vergleichbar und es erschließt sich ihr hier eine "verblüffende" Ähnlichkeit der Fälle. Einzig dem "Furor" der Autorin, die sich mitunter in verquasten Verschwörungstheorien ergeht, kann Mayer überhaupt nichts abgewinnen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.04.2012Sehr nahe Abgründe
Littleton, Erfurt, Emsdetten, Winnenden, Utøya: Ines Geipel zeigt, wie die Amokschützen voneinander lernen
Seit der Schüler Robert S. vor genau zehn Jahren am Erfurter Gutenberg-Gymnasium sechzehn Menschen und sich selbst erschoss, ist viel passiert. Schulen erhielten Pager, um Alarm auszulösen. Es gibt Notfallpläne, wie sich Schüler und Lehrer „bei Amoklage“ zu verhalten haben. Sie sollen die Türen verschließen, nicht versuchen zu fliehen. Sie sollen Polizei und Schulleitung verständigen, notfalls mit einem Plakat auf sich aufmerksam machen. Der Zettel, den die Schüler am 26. April 2002 an eine Fensterscheibe klebten, ist zum Symbol des Chaos und der Ausweglosigkeit dieses Tages geworden. „Hilfe“ war in krakeliger Schrift darauf gemalt.
Die penible Aufarbeitung der Tat hatte nicht zuletzt jene gespenstische Routine zur Folge, die am 11. März 2009 in Winnenden zu beobachten war. Der Schüler Tim K. tötete an der Albertville-Realschule acht Mädchen, einen Jungen und drei Lehrerinnen, flüchtete und erschoss drei Menschen und sich selbst. Sofort waren Psychologen und Kriseninterventionsteams zur Stelle, dazu die Medien und Vertreter der Stadtverwaltung von Erfurt, die die Behörden berieten. Sie stellten fest, dass man in Winnenden nach 24 Stunden so weit sei, „wie wir nach 14 Tagen“. Amokläufe sind in Deutschland zur Bedrohung geworden, mit der man rechnet.
Und jeder Amoklauf birgt die Gefahr, Vorbild für den nächsten zu sein. Dieser These widmet die Autorin und ehemalige DDR-Spitzensportlerin Ines Geipel ihr neues Buch. „Der Amok-Komplex oder die Schule des Tötens“ heißt es. Fünf Fälle arbeitet Geipel darin auf, einen aus Tasmanien, drei aus Deutschland, und am Ende sogar topaktuell die Tat von Anders Breivik in Norwegen. Tatsächlich sind Amokläufe eine Art Lehrbuch – für die Täter. Tim K. googelte nächtelang „Erfurt“ und „Massaker“, ehe er mit der Beretta seines Vaters in den Schulbus stieg. Sebastian B., der 2006 an der Geschwister-Scholl-Realschule in Emsdetten schoss, Rauchbomben zündete und fünf Menschen schwer verletzte, verfolgte auf N24 Live-Berichte über einen Amoklauf in Montreal. Alle Amokläufer beschäftigten sich mit Eric Harris und Dylan Klebold, die 1999 an der Columbine High School zwölf Lehrer und einen Schüler töteten. Der Amoklauf von Littleton wurde seither nicht nur in Filmen und Büchern verarbeitet. Er ist auch zur Blaupause aller Amokläufe geworden.
„Der Amok-Komplex“ besticht durch seine Materialfülle. Unzählige Details hat Geipel zusammengetragen. Die Aufzeichnungen der Notrufe von Erfurt etwa. Panische Schüler und Lehrer wählen 110 („Ja, hallo, hier ist Suse aus der Schule. Hier wird, hier wird geschossen.“), die Polizei versucht, Herr der Lage zu werden („Wir brauchen einen Notarzt und mehr Kräfte. Wir sind völlig ohne Deckung.“). Dazwischen ruft dauernd ein Busfahrer an, dem ein Auto die Vorfahrt genommen hat. („Wir haben einen Amokschützen, und da kommen wir jetzt nicht“ – „Das kann doch nicht wahr sein!“). Protokolle, die das ganze Ausmaß der Hilflosigkeit und Überforderung zutage bringen.
Aufschlussreich ist auch die Liste der Waffen, die die Familie des Amokläufers von Winnenden im Einfamilienhaus hatte. Oder die Tagebücher des Amokläufers von Emsdetten, der immerzu die Buchstaben „S.A.A.R.T.“ notierte. „Schule, Ausbildung, Arbeit, Rente, Tod. Das ist der Lebenslauf eines normalen Menschen heutzutage.“ Geipel wertet das psychiatrische Gutachten über das „bizarre, paranoide Wahnvorstellungssystem“ von Anders Breivik aus, notiert die vielen Neologismen, die er erfand. „Ritter-Justitiarius“ oder „Ritter-Justitiarius-Großmeister“, Hierarchien aus einer Fantasy-Welt, ähnlich dem Spiel „World of Warcraft“, mit dem Breivik sich die Zeit vertrieb.
Am interessantesten sind allerdings die Zeugenaussagen von Eltern, Verwandten und Geschwistern der Täter. Ob es nun um Robert, Tim oder Sebastian geht – es läuft immer auf das große Schweigen hinaus. Nichts wurde in den Familien ausgesprochen, schon gar nicht das Offensichtliche, die Außenseiterrolle der Täter, ihr fanatisches Interesse für Waffen. Geredet haben Eltern und Kinder höchstens über das Essen. Tim K. lobte den Rührkuchen seiner Mutter, ehe er sich mit einem Rucksack voller Munition auf den Weg machte.
Methodisch kann man Geipel vorwerfen, dass sie nicht die gängige Unterscheidung trifft zwischen „School Shootern“, die auf ihre Schule abzielen, und „Spray Shootern“, die wahllos auf öffentlichen Plätzen töten. Die Geschichte des geistig Behinderten Martin Bryant, der 1996 in einem Café im tasmanischen Port Arthur 35 Menschen erschoss, steht neben den Amokläufen an deutschen Schulen, am Ende geht es um die Anschläge und Morde von Anders Breivik. Andererseits erschließt sich dadurch eine verblüffende Austauschbarkeit der Fälle. Das kleinbürgerliche Milieu, der Erfolgsdruck der Väter, der sich auf die versagenden Söhne überträgt. Sowohl Sebastian B. als auch Tim K. bekamen von ihren Vätern das Schießen beigebracht. Alle Amokläufer waren zudem fasziniert von Theater und Rollenspielen. Eric Harris’ Lieblingsbuch war „Cyrano de Bergerac“, Sebastian B. schrieb Theaterstücke. Der sonst schwache Schüler Robert S. fiel durch sein Engagement für die Schulaufführung von „Antigone“ auf.
In deprimierender Deutlichkeit macht „Der Amok-Komplex“ klar, wie sehr sich Amokläufe auf der ganzen Welt ähneln. Immer wurden sie von langer Hand vorbereitet, nie schenkte jemand den Anzeichen Beachtung. Die Mutter von Robert S. dachte sich nichts dabei, als sie im Zimmer ihres Sohnes über eine Tasche mit Munition stolperte. Als Psychiater bei Tim K. eine Persönlichkeitsstörung abklären wollten, lehnte der Vater ab. Stattdessen nahm er den Sohn mit zum Schießstand, damit er unter Leute kommt. Doch genau dies macht Hoffnung. Die Prävention von Amokläufen ist offenbar nicht besonders schwer. Man muss nicht einmal Computerspiele verbieten oder sämtliche Schützenvereine schließen. Es reicht, auf die unzähligen Hinweise zu achten, die die Jugendlichen selbst geben.
Der einzige Schwachpunkt des Buches ist, dass Ines Geipel nicht mit ihrem Furor hintanhalten kann. Statt der Aussagekraft ihrer Quellen zu vertrauen, macht sie ein riesiges Fass auf, wenn es um die Ursachen geht. Geipel schwadroniert über „Angstkultur“ und ein „Topsystem der Destruktion“, über den Nationalsozialismus, die DDR und die Folgen, die der Erste Weltkrieg in der deutschen Psyche hinterließ. Die Tat von Erfurt ist flankiert von einem wirren Kapitel über die politischen Seilschaften in Thüringen. Unfreiwillig bedient Geipel damit ein Muster der Verdrängung, wie man es nach vielen spektakulären Verbrechen beobachten kann. Der Mensch sieht eben lieber eine politische Verschwörung am Werk, das System oder das kollektive Unbewusste. Weil man dadurch ausblenden kann, wie nahe einem die Abgründe stehen, in Gestalt des Mitschülers, Sohnes, Nachbarn.
VERENA MAYER
INES GEIPEL: Der Amok-Komplex oder die Schule des Tötens. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2012. 343 S., 19,90 Euro.
„Ja, hallo, hier ist Suse
aus der Schule.
Hier wird, hier wird geschossen.“
Immer wurden die Taten lange
vorbereitet, nie schenkte
jemand den Anzeichen Beachtung
Vor genau zehn Jahren, am 26. April 2002, vormittags, kam der Amokschütze: Ein Hilferuf im Fenster des Gutenberg-Gymnasiums in Erfurt. Foto: AP
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Littleton, Erfurt, Emsdetten, Winnenden, Utøya: Ines Geipel zeigt, wie die Amokschützen voneinander lernen
Seit der Schüler Robert S. vor genau zehn Jahren am Erfurter Gutenberg-Gymnasium sechzehn Menschen und sich selbst erschoss, ist viel passiert. Schulen erhielten Pager, um Alarm auszulösen. Es gibt Notfallpläne, wie sich Schüler und Lehrer „bei Amoklage“ zu verhalten haben. Sie sollen die Türen verschließen, nicht versuchen zu fliehen. Sie sollen Polizei und Schulleitung verständigen, notfalls mit einem Plakat auf sich aufmerksam machen. Der Zettel, den die Schüler am 26. April 2002 an eine Fensterscheibe klebten, ist zum Symbol des Chaos und der Ausweglosigkeit dieses Tages geworden. „Hilfe“ war in krakeliger Schrift darauf gemalt.
Die penible Aufarbeitung der Tat hatte nicht zuletzt jene gespenstische Routine zur Folge, die am 11. März 2009 in Winnenden zu beobachten war. Der Schüler Tim K. tötete an der Albertville-Realschule acht Mädchen, einen Jungen und drei Lehrerinnen, flüchtete und erschoss drei Menschen und sich selbst. Sofort waren Psychologen und Kriseninterventionsteams zur Stelle, dazu die Medien und Vertreter der Stadtverwaltung von Erfurt, die die Behörden berieten. Sie stellten fest, dass man in Winnenden nach 24 Stunden so weit sei, „wie wir nach 14 Tagen“. Amokläufe sind in Deutschland zur Bedrohung geworden, mit der man rechnet.
Und jeder Amoklauf birgt die Gefahr, Vorbild für den nächsten zu sein. Dieser These widmet die Autorin und ehemalige DDR-Spitzensportlerin Ines Geipel ihr neues Buch. „Der Amok-Komplex oder die Schule des Tötens“ heißt es. Fünf Fälle arbeitet Geipel darin auf, einen aus Tasmanien, drei aus Deutschland, und am Ende sogar topaktuell die Tat von Anders Breivik in Norwegen. Tatsächlich sind Amokläufe eine Art Lehrbuch – für die Täter. Tim K. googelte nächtelang „Erfurt“ und „Massaker“, ehe er mit der Beretta seines Vaters in den Schulbus stieg. Sebastian B., der 2006 an der Geschwister-Scholl-Realschule in Emsdetten schoss, Rauchbomben zündete und fünf Menschen schwer verletzte, verfolgte auf N24 Live-Berichte über einen Amoklauf in Montreal. Alle Amokläufer beschäftigten sich mit Eric Harris und Dylan Klebold, die 1999 an der Columbine High School zwölf Lehrer und einen Schüler töteten. Der Amoklauf von Littleton wurde seither nicht nur in Filmen und Büchern verarbeitet. Er ist auch zur Blaupause aller Amokläufe geworden.
„Der Amok-Komplex“ besticht durch seine Materialfülle. Unzählige Details hat Geipel zusammengetragen. Die Aufzeichnungen der Notrufe von Erfurt etwa. Panische Schüler und Lehrer wählen 110 („Ja, hallo, hier ist Suse aus der Schule. Hier wird, hier wird geschossen.“), die Polizei versucht, Herr der Lage zu werden („Wir brauchen einen Notarzt und mehr Kräfte. Wir sind völlig ohne Deckung.“). Dazwischen ruft dauernd ein Busfahrer an, dem ein Auto die Vorfahrt genommen hat. („Wir haben einen Amokschützen, und da kommen wir jetzt nicht“ – „Das kann doch nicht wahr sein!“). Protokolle, die das ganze Ausmaß der Hilflosigkeit und Überforderung zutage bringen.
Aufschlussreich ist auch die Liste der Waffen, die die Familie des Amokläufers von Winnenden im Einfamilienhaus hatte. Oder die Tagebücher des Amokläufers von Emsdetten, der immerzu die Buchstaben „S.A.A.R.T.“ notierte. „Schule, Ausbildung, Arbeit, Rente, Tod. Das ist der Lebenslauf eines normalen Menschen heutzutage.“ Geipel wertet das psychiatrische Gutachten über das „bizarre, paranoide Wahnvorstellungssystem“ von Anders Breivik aus, notiert die vielen Neologismen, die er erfand. „Ritter-Justitiarius“ oder „Ritter-Justitiarius-Großmeister“, Hierarchien aus einer Fantasy-Welt, ähnlich dem Spiel „World of Warcraft“, mit dem Breivik sich die Zeit vertrieb.
Am interessantesten sind allerdings die Zeugenaussagen von Eltern, Verwandten und Geschwistern der Täter. Ob es nun um Robert, Tim oder Sebastian geht – es läuft immer auf das große Schweigen hinaus. Nichts wurde in den Familien ausgesprochen, schon gar nicht das Offensichtliche, die Außenseiterrolle der Täter, ihr fanatisches Interesse für Waffen. Geredet haben Eltern und Kinder höchstens über das Essen. Tim K. lobte den Rührkuchen seiner Mutter, ehe er sich mit einem Rucksack voller Munition auf den Weg machte.
Methodisch kann man Geipel vorwerfen, dass sie nicht die gängige Unterscheidung trifft zwischen „School Shootern“, die auf ihre Schule abzielen, und „Spray Shootern“, die wahllos auf öffentlichen Plätzen töten. Die Geschichte des geistig Behinderten Martin Bryant, der 1996 in einem Café im tasmanischen Port Arthur 35 Menschen erschoss, steht neben den Amokläufen an deutschen Schulen, am Ende geht es um die Anschläge und Morde von Anders Breivik. Andererseits erschließt sich dadurch eine verblüffende Austauschbarkeit der Fälle. Das kleinbürgerliche Milieu, der Erfolgsdruck der Väter, der sich auf die versagenden Söhne überträgt. Sowohl Sebastian B. als auch Tim K. bekamen von ihren Vätern das Schießen beigebracht. Alle Amokläufer waren zudem fasziniert von Theater und Rollenspielen. Eric Harris’ Lieblingsbuch war „Cyrano de Bergerac“, Sebastian B. schrieb Theaterstücke. Der sonst schwache Schüler Robert S. fiel durch sein Engagement für die Schulaufführung von „Antigone“ auf.
In deprimierender Deutlichkeit macht „Der Amok-Komplex“ klar, wie sehr sich Amokläufe auf der ganzen Welt ähneln. Immer wurden sie von langer Hand vorbereitet, nie schenkte jemand den Anzeichen Beachtung. Die Mutter von Robert S. dachte sich nichts dabei, als sie im Zimmer ihres Sohnes über eine Tasche mit Munition stolperte. Als Psychiater bei Tim K. eine Persönlichkeitsstörung abklären wollten, lehnte der Vater ab. Stattdessen nahm er den Sohn mit zum Schießstand, damit er unter Leute kommt. Doch genau dies macht Hoffnung. Die Prävention von Amokläufen ist offenbar nicht besonders schwer. Man muss nicht einmal Computerspiele verbieten oder sämtliche Schützenvereine schließen. Es reicht, auf die unzähligen Hinweise zu achten, die die Jugendlichen selbst geben.
Der einzige Schwachpunkt des Buches ist, dass Ines Geipel nicht mit ihrem Furor hintanhalten kann. Statt der Aussagekraft ihrer Quellen zu vertrauen, macht sie ein riesiges Fass auf, wenn es um die Ursachen geht. Geipel schwadroniert über „Angstkultur“ und ein „Topsystem der Destruktion“, über den Nationalsozialismus, die DDR und die Folgen, die der Erste Weltkrieg in der deutschen Psyche hinterließ. Die Tat von Erfurt ist flankiert von einem wirren Kapitel über die politischen Seilschaften in Thüringen. Unfreiwillig bedient Geipel damit ein Muster der Verdrängung, wie man es nach vielen spektakulären Verbrechen beobachten kann. Der Mensch sieht eben lieber eine politische Verschwörung am Werk, das System oder das kollektive Unbewusste. Weil man dadurch ausblenden kann, wie nahe einem die Abgründe stehen, in Gestalt des Mitschülers, Sohnes, Nachbarn.
VERENA MAYER
INES GEIPEL: Der Amok-Komplex oder die Schule des Tötens. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2012. 343 S., 19,90 Euro.
„Ja, hallo, hier ist Suse
aus der Schule.
Hier wird, hier wird geschossen.“
Immer wurden die Taten lange
vorbereitet, nie schenkte
jemand den Anzeichen Beachtung
Vor genau zehn Jahren, am 26. April 2002, vormittags, kam der Amokschütze: Ein Hilferuf im Fenster des Gutenberg-Gymnasiums in Erfurt. Foto: AP
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