Produktdetails
  • Steidl Taschenbücher Nr.165
  • Verlag: Steidl
  • Seitenzahl: 442
  • Deutsch
  • Abmessung: 180mm
  • Gewicht: 290g
  • ISBN-13: 9783882437959
  • ISBN-10: 3882437952
  • Artikelnr.: 09818596
Autorenporträt
Jürgen Alberts, geb. 1946, Studium in Tübingen und Bremen, Promotion über die BILD-Zeitung, lebt als Schriftsteller und Journalist in Bremen. Seine zahlreichen Romane, darunter auch Krimis, sind mehrfach ausgezeichnet worden. 2011 wurde Jürgen Alberts mit dem 'Ehrenglauser' ausgezeichnet, 'in Würdigung seines Engagements für die deutschsprachige Kriminalliteratur und für sein bisheriges literarisches Gesamtwerk im Bereich der Kriminalliteratur'.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.04.1995

Bomben und Devotionalien
Jürgen Alberts fordert Gerechtigkeit für die Anarchisten von Chicago

"Mein lieber Kamerad, hier sende ich Dir ein Stück vom Henkerstrick als Emblem unseres Kapitalismus und der Christlichen Zivilisation. Den Knoten habe ich selbst geknüpft, ganz wie er hier üblich ist. Ich übergebe ihn Dir als Gedenkzeichen unserer Zeit." So schrieb Albert Parsons, der wortgewaltige Führer der amerikanischen "Anarchisten", aus seinem Chicagoer Gefängnis, in dem er mit drei Gesinnungsgenossen auf seine Hinrichtung wartete. Als die angeblichen Übeltäter bald darauf ordnungsgemäß aufgehenkt waren, beruhigte sich zwar die öffentliche Hysterie, doch der Gerechtigkeit war keinesfalls Genüge getan. Einer der schärfsten Ankläger gestand später zerknirscht die Motive und Umstände eines der skandalösesten Fehlurteile der neueren Geschichte. Die Linke hatte ihre Märtyrer. Nach dem wahren Schuldigen forscht man bis heute vergebens.

Was war geschehen? Chicago wurde Anfang der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts von Streiks und Unruhen erschüttert, durch die sich die Herren vom Schlage eines Vanderbilt und McCormick durchaus gestört fühlten. Es ging um den Widerstand gegen entwürdigende Arbeitsbedingungen, um die Einführung des Achtstundentags und - zumal in den Köpfen mancher aus Deutschland stammender Handwerksgesellen - um den Aufbau einer "herrschaftsfreien" Welt im Sonnenlicht von Lust und Freiheit. Am 4. Mai 1886 wurde gegen Ende einer friedlich verlaufenden Kundgebung auf dem Chicagoer "Heumarkt" eine Bombe in die Reihen der anrückenden Polizei geworfen. Tote waren zu beklagen, und die gegen den eingewanderten "Mob" ohnedies aufgeputschten Polizisten feuerten aus allen Rohren in die fliehende Menge.

Was die historische Wissenschaft - auf der Suche nach dem Bombenwerfer - bislang eher als Leerstelle der Erkenntnis und Thema ausschweifender Spekulationen offenließ, versucht dieser Roman in den Schein des Möglichen zu rücken. In einer entlegenen Autobiographie stieß Jürgen Alberts, Jahrgang 1946, angeblich auf das Bekenntnis des Schustergesellen Franz Wilhelm: Er habe die Bombe gebaut und geworfen, im Alltag getarnt als ehemaliger katholischer Priester und Inhaber eines kleinen Ladens, in dem süßliche katholische Heiligenbilder bemerkenswerten Absatz fanden.

Aus dem Schatten dieses ominösen Franz Wilhelm tritt nun Karl Schasler alias Franz Weissenbach, der Held dieses biographischen Romans. Der Leser wird gleich medias in res geführt, nämlich in den Laden des Bombenbastlers, wo die Düfte von Nitroglycerin um die gemalten Heiligen schweben, darunter eine Hildegard von Bingen (doch eher eine Kultfigur unserer Tage als ein Modeartikel des späten neunzehnten Jahrhunderts). In Rückblenden rollt Alberts dann die abenteuerlichen Lebens- und Leidensstationen des ehemaligen Schustergesellen auf: den verehrungsvollen, doch enttäuschenden Besuch bei Stirner in Berlin (Inbegriff eines schwächlichen Schreibtischhelden), die Wanderungen durch die anarchistischen Zirkel Europas, Begegnungen mit dem Maler Courbet in Paris und das tollkühne Wagnis, ausgerechnet auf dem Berner Rathaus die Fahne der Commune zu hissen.

Auf der Flucht schlüpft Schasler in die Kleider eines katholischen Priesters und verkündet in einem Bergdorf das kommende anarchistische Himmelreich, in dem sich die wahren Gebote des Christentums erfüllen. Nach Amerika entwichen, schlägt sich Schasler zunächst als Wanderprediger durch, muß aber schmerzliche Bekanntschaft mit den keineswegs freiheitsdurstigen Vorstellungen frommer Farmer machen. Immerhin entspinnt sich dann zwischen dem Heiligenverkäufer und einer emanzipierten, ebenfalls nach einer besseren Welt lechzenden Malerin ein solidarisches Verhältnis, das auch erotische Genüsse einschließt. Doch als der Bombenleger sich schließlich der Polizei stellt, um seine Gefährten zu retten, wird er mit Hohn überschüttet, und selbst die Freundin hat Mühe, die wirklichen und die erfundenen Masken und Rollen des seltsamen Heiligenspezialisten auseinanderzuhalten.

An fabulösem Stoff, an schillerndem Kolorit und an mancherlei Verwicklungen mangelt es also diesem Buch gewiß nicht. Eher an Atmosphäre. Indem sich Alberts auf seine Hauptfigur konzentriert, verengt sich das Panorama erzählter Geschichte. Manchmal erscheinen die Figuren nur auf dem Reißbrett der politischen Konfrontationen und Programme entworfen. Kompliziertere seelische Konflikte kommen nicht vor, und auch die Sprache paßt sich oft genug in berichtender Konzentration auf das Faktische dem nicht besonders ausgeprägten Kunstanspruch eines Autors an, der sich eigentlich als verhinderter Historiker präsentiert. Gewiß, mancherlei Szenen und epische Lokale vermögen den Leser durchaus zu fesseln, und erst recht ist Alberts ganz bei sich, wenn er den Lebensstil amerikanischer Millionäre mit dem bitterbösen Blick des Satirikers bis ins Groteske überzeichnen kann. Hier gelingen auch Schattierungen, etwa im Porträt eines geschäftstüchtigen Schokoladenfabrikanten, der sich in die Malerin vergafft und mit den räuberischen Methoden seiner Geschäftskollegen nicht ganz einverstanden ist.

Doch der Historiker kommt dem Romancier in die Quere, denn Alberts fügt in den Text zahlreiche Originaldokumente ein, die fatalerweise manchmal größeren Eindruck machen als der einrahmende Erzähltext. Das Verfahren erinnert an professorale Techniken des neunzehnten Jahrhunderts und bleibt in seiner oft unbeholfenen Manier deutlich hinter jenen Leistungen der halbhistorischen Fiktion zurück, wie wir sie etwa bei Ricarda Huch oder neuerdings bei Walter Umminger ("Der Winterkönig") finden. Geradezu verhängnisvoll für Alberts wirkt sich aber die Versuchung aus, der mancher Leser erliegen wird, nämlich eine der großen historischen Darstellungen des amerikanischen Anarchismus und der Chicagoer Ereignisse zu Rate zu ziehen (etwa die Darstellung von Paul Avich, Princeton 1984). Im Wettstreit von res fictae und res factae kann es dann geschehen, daß die Einbildungskraft des Romanautors gegenüber den Tollheiten der Geschichte geradezu bläßlich wirkt. WILHELM KÜHLMANN

Jürgen Alberts: "Der Anarchist von Chicago". Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 1995. 443 S., geb., 42,- DM.

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