Bekannt ist Raymond Roussel als Ingenieur delirierend-phantastischer Wortwelten, bekannt sind seine Romane voller exotischer Rituale, theatraler Maschinen und blutiger Szenen. Ein anderer Roussel bleibt in seinen frühen Versdichtungen zu entdecken: ein Zeitgenosse Marcel Prousts, ein scharfer Beobachter der Gesellschaft, ein Meister der Ekphrasis und ein großer Humorist. Ob es sich um die Photographie einer Strandszene, das illustrierte Etikett einer Mineralwasserflasche oder die Zeichnung eines Hotelbriefbogens handelt: Stets dringen die drei in Der Anblick versammelten Versepen in immer neue Dimensionen des Winzigen vor. Ihre minutiöse Beschreibungskunst hat die Ästhetik des Nouveau Roman vorweggenommen.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent und Literaturwissenschaftler Niklas Bender freut sich sehr über die sorgfältig editierte Herausgabe dreier Texte des französischen Avantgardisten Raymond Roussel, der der Öffentlichkeit (anders als der Forschung) noch kaum bekannt sei. Zu Unrecht, wie Bender findet: Beeindruckt ist er von den drei in Alexandrinern verfassten Texten, die jeweils von einem Miniaturbild - auf einem Briefkopf oder auf einer Evian-Flasche - ausgehen, sich dann aber zu ausschweifenden, detaillierten "tableaux vivants" ausfalten. Spannend findet der Kritiker, wie sich Roussel dabei zum einen als moderner Schriftsteller und Vorreiter des Nouveau Roman zeigt - trotz des klassischen Versmaßes, von dem er nur "unlyrischen Gebrauch mache". Vor allem lobt er aber die Übersetzung und das Nachwort von Maximilian Gilleßen und Stefan Ripplinger, die im Anhang (eine "Mini-Monografie", lobt Bender) eine präzise und kluge Kontextualisierung und Deutung liefern. Eine tolle Leistung des zero sharp-Verlags, schließt der Kritiker.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.12.2023Am liebsten in tausend Stücke zerreißen
Viel bewundert von Kollegen und viel gescholten von der Kritik: Drei frühe Texte von Raymond Roussel
"Der Anblick" enthält drei Texte von Raymond Roussel: "Der Anblick", "Das Konzert", "Die Quelle", schöne, spannende Werke, die man mit Vergnügen liest. Nur um was für Texte es sich genau handelt, ist schwer zu sagen: Verlag und Übersetzer sprechen von "Versepen", tatsächlich sind sie in paargereimten Alexandrinern abgefasst, in der französischen Klassik das Versmaß der Großformen Tragödie und Epos - eine originelle Wahl für Publikationen der Jahre 1903 und 1904, auch wenn Charles Baudelaire den Alexandriner in der Lyrik modernefähig gemacht hat. Um Epen allerdings handelt es sich mit Sicherheit nicht: Es gibt keine Helden, kein Kollektiv, keine zu erinnernden Taten, eher tableaux vivants, Szenen- und Sittenbeschreibungen prosaisch-moderner Art.
Roussel (1877 bis 1933) wird also weiterhin seinem Ruf gerecht, schwer fassbar zu sein. Mit Alfred Jarry gehört er zu jener frühen Avantgarde, die von Surrealisten und OuLiPo verehrt wurde, im Fall Roussel mehr noch vom Nouveau Roman, in der Öffentlichkeit aber nie recht ankam (in der Forschung sieht die Sache anders aus). Im Leben hingegen stand Roussel anders da als der arme Schlucker Jarry, eher wie sein mondäner Bekannter Marcel Proust: Als steinreicher Erbe musste er sich bis 1929 keine Sorgen machen. Nach erfolglosen Klavierstudien konnte Roussel literarischen Vorlieben frönen - und sexuellen, die strafbar waren. Anders als Proust führte er daher ein zurückgezogenes Leben. Sein Erstling, der Versroman "La Doublure" (Der Ersatzmann, 1897), wie alle Texte auf eigene Kosten gedruckt, war der erste Reinfall von vielen, im Programmtext "Wie ich einige meiner Bücher geschrieben habe" (1935) spricht Roussel von einem "fast generellen feindseligen Missverständnis". Die Folge: Roussel stürzte in eine tiefe Krise, missbrauchte Medikamente, konsultierte Psychiater, darunter Pierre Janet.
Roussels Texte lassen wenig davon ahnen, jedenfalls nicht die Verserzählungen in "Der Anblick". Jeder der Texte, die in Original und Übersetzung präsentiert werden, geht von einem Bild aus - "Der Anblick" von einer "Miniaturfotografie", "Das Konzert" von der Abbildung auf einem Hotel-Briefkopf, "Die Quelle" vom Etikett einer Evian-Flasche - und beschreibt, was darauf zu sehen ist: Szenen am Meeresstrand, vor einem Hotel, an einer Quelle im Kurpark. Die Schilderung wird freilich erstens so detailliert, dass die Fülle an Einzelheiten Miniaturbildern wie den genannten kaum entspringen kann. Zweitens wirken die Figuren so lebendig, dass die Rahmenfiktion nur mehr als Vorwand erscheint, komplexe, in sich geschlossene, stets erweiterbare, aber zugleich in sich gespiegelte Miniaturwelten zu schaffen.
Roussels Beschreibungen hangeln sich von Element zu Element, meist Menschen, allein oder in Gruppen. Dabei lässt Roussel sich Zeit, beschreibt in "Der Anblick" auf 2056 Versen viele Details, selbst die Haartracht eines Begleiters: "Er ist ein Pudel, mittelgroß, von lockigem Haar. / Sein Fell wurde ihm erst kürzlich gestutzt, / Es haftet ihm dicht am Leib, aufgeputzt, / Kompakt und doch an den Enden gewellt. / Wobei die Stellen, an denen es sich aufstellt, / Sich von gestutzten unterscheiden. Das Tier / ist fett."
Man versteht, warum der Nouveau Roman Roussel als Vorbild reklamierte. "Der Anblick" nimmt eine observierende Haltung ein, beschreibt weitgehend das, was sich aus dem Sichtbaren ableiten lässt; die anderen beiden Erzählungen gehen weiter. Der Einstieg holt sein Wissen noch aus der Beobachtung: "Jung, aber stark gebeugt, steht ein armer Teufel / nachdenklich in der Menge neben seiner Mutter, / deren treue, heldenhafte Stütze er ist. / Beiden fehlt's an allem, sie leben von fast nichts." Rasch werden in der Passage aus "Die Quelle" dann intime Einzelheiten preisgegeben: "Zu einem grotesken, lächerlichen Preis / gibt er ein paar Lektionen", verbringt schlaflose Nächte, unterdrückt Begehren - hier weiß einer alles über seine Figuren. Manchmal lässt der Erzähler die letzte Zurückhaltung fahren: "Derweil verkrampft man die Finger und würde ihn / am liebsten in tausend Stücke zerreißen." Das moralistische Erbe ist in diesem zersetzenden Text spürbar, nur sucht der Detektor menschlicher Schwächen nicht mehr allein die gute Gesellschaft, sondern auch die Sänftenträger ab.
Die sprachliche Form ist kein Hindernis: In die Alexandriner, deren Reime die Übersetzung teils überträgt, liest man sich schnell ein. Roussel macht unlyrischen Gebrauch davon, respektiert die Zäsur kaum. So, wie die beschriebenen Bilder Fotografie und Druck, Reproduktionstechniken der Moderne also, entstammen, so wird die Sprache prosaisches Vehikel einer unspektakulären Lebenswelt. Der Vers hat höchstens den Reiz eines die Phantasie stimulierenden Widerstands der Art, wie ihn OuLiPo mit der "contrainte" kultivieren wird. Das merken die Übersetzer und Herausgeber Maximilian Gilleßen und Stefan Ripplinger so treffend an, wie sie die trotz oder vielmehr dank des Sprachkorsetts entwickelten Welten übertragen.
Die sorgfältige Kontextualisierung und Deutung, welche das "Abc der Anblicke" im Anhang - eine Mini-Monographie - leistet, bringen Autor und Werk dem deutschen Publikum näher. Bei so viel Wissen und Präzision fallen ein paar kleine Haken doppelt auf, etwa jener "Kokosnussverkäufer", der einen Metallbehälter auf dem Rücken trägt und seine Ware in Becher gießt: Kokosnüsse aus dem "schmalen, geöffneten Hahn"? Tatsächlich war ein "marchand de coco" ein ambulanter Limonadenverkäufer, der in der Belle Époque ein beliebtes Lakritz-Zitronen-Getränk feilbot. Ein Detail, sicher: Aber Roussel bringt einen dazu, diese zu suchen und unter die Lupe zu nehmen. Man kann dem Berliner Kleinverlag zero sharp, der Avantgardisten ausgräbt und in schönen, klugen Bänden präsentiert, darunter mehrere von Raymond Roussel, für diese Entdeckung nur danken. NIKLAS BENDER
Raymond Roussel: "Der Anblick".
Aus dem Französischen und mit einem Abc der Anblicke versehen von Maximilian Gilleßen und Stefan Ripplinger. Zero sharp, Berlin 2022. 164 S., br., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Viel bewundert von Kollegen und viel gescholten von der Kritik: Drei frühe Texte von Raymond Roussel
"Der Anblick" enthält drei Texte von Raymond Roussel: "Der Anblick", "Das Konzert", "Die Quelle", schöne, spannende Werke, die man mit Vergnügen liest. Nur um was für Texte es sich genau handelt, ist schwer zu sagen: Verlag und Übersetzer sprechen von "Versepen", tatsächlich sind sie in paargereimten Alexandrinern abgefasst, in der französischen Klassik das Versmaß der Großformen Tragödie und Epos - eine originelle Wahl für Publikationen der Jahre 1903 und 1904, auch wenn Charles Baudelaire den Alexandriner in der Lyrik modernefähig gemacht hat. Um Epen allerdings handelt es sich mit Sicherheit nicht: Es gibt keine Helden, kein Kollektiv, keine zu erinnernden Taten, eher tableaux vivants, Szenen- und Sittenbeschreibungen prosaisch-moderner Art.
Roussel (1877 bis 1933) wird also weiterhin seinem Ruf gerecht, schwer fassbar zu sein. Mit Alfred Jarry gehört er zu jener frühen Avantgarde, die von Surrealisten und OuLiPo verehrt wurde, im Fall Roussel mehr noch vom Nouveau Roman, in der Öffentlichkeit aber nie recht ankam (in der Forschung sieht die Sache anders aus). Im Leben hingegen stand Roussel anders da als der arme Schlucker Jarry, eher wie sein mondäner Bekannter Marcel Proust: Als steinreicher Erbe musste er sich bis 1929 keine Sorgen machen. Nach erfolglosen Klavierstudien konnte Roussel literarischen Vorlieben frönen - und sexuellen, die strafbar waren. Anders als Proust führte er daher ein zurückgezogenes Leben. Sein Erstling, der Versroman "La Doublure" (Der Ersatzmann, 1897), wie alle Texte auf eigene Kosten gedruckt, war der erste Reinfall von vielen, im Programmtext "Wie ich einige meiner Bücher geschrieben habe" (1935) spricht Roussel von einem "fast generellen feindseligen Missverständnis". Die Folge: Roussel stürzte in eine tiefe Krise, missbrauchte Medikamente, konsultierte Psychiater, darunter Pierre Janet.
Roussels Texte lassen wenig davon ahnen, jedenfalls nicht die Verserzählungen in "Der Anblick". Jeder der Texte, die in Original und Übersetzung präsentiert werden, geht von einem Bild aus - "Der Anblick" von einer "Miniaturfotografie", "Das Konzert" von der Abbildung auf einem Hotel-Briefkopf, "Die Quelle" vom Etikett einer Evian-Flasche - und beschreibt, was darauf zu sehen ist: Szenen am Meeresstrand, vor einem Hotel, an einer Quelle im Kurpark. Die Schilderung wird freilich erstens so detailliert, dass die Fülle an Einzelheiten Miniaturbildern wie den genannten kaum entspringen kann. Zweitens wirken die Figuren so lebendig, dass die Rahmenfiktion nur mehr als Vorwand erscheint, komplexe, in sich geschlossene, stets erweiterbare, aber zugleich in sich gespiegelte Miniaturwelten zu schaffen.
Roussels Beschreibungen hangeln sich von Element zu Element, meist Menschen, allein oder in Gruppen. Dabei lässt Roussel sich Zeit, beschreibt in "Der Anblick" auf 2056 Versen viele Details, selbst die Haartracht eines Begleiters: "Er ist ein Pudel, mittelgroß, von lockigem Haar. / Sein Fell wurde ihm erst kürzlich gestutzt, / Es haftet ihm dicht am Leib, aufgeputzt, / Kompakt und doch an den Enden gewellt. / Wobei die Stellen, an denen es sich aufstellt, / Sich von gestutzten unterscheiden. Das Tier / ist fett."
Man versteht, warum der Nouveau Roman Roussel als Vorbild reklamierte. "Der Anblick" nimmt eine observierende Haltung ein, beschreibt weitgehend das, was sich aus dem Sichtbaren ableiten lässt; die anderen beiden Erzählungen gehen weiter. Der Einstieg holt sein Wissen noch aus der Beobachtung: "Jung, aber stark gebeugt, steht ein armer Teufel / nachdenklich in der Menge neben seiner Mutter, / deren treue, heldenhafte Stütze er ist. / Beiden fehlt's an allem, sie leben von fast nichts." Rasch werden in der Passage aus "Die Quelle" dann intime Einzelheiten preisgegeben: "Zu einem grotesken, lächerlichen Preis / gibt er ein paar Lektionen", verbringt schlaflose Nächte, unterdrückt Begehren - hier weiß einer alles über seine Figuren. Manchmal lässt der Erzähler die letzte Zurückhaltung fahren: "Derweil verkrampft man die Finger und würde ihn / am liebsten in tausend Stücke zerreißen." Das moralistische Erbe ist in diesem zersetzenden Text spürbar, nur sucht der Detektor menschlicher Schwächen nicht mehr allein die gute Gesellschaft, sondern auch die Sänftenträger ab.
Die sprachliche Form ist kein Hindernis: In die Alexandriner, deren Reime die Übersetzung teils überträgt, liest man sich schnell ein. Roussel macht unlyrischen Gebrauch davon, respektiert die Zäsur kaum. So, wie die beschriebenen Bilder Fotografie und Druck, Reproduktionstechniken der Moderne also, entstammen, so wird die Sprache prosaisches Vehikel einer unspektakulären Lebenswelt. Der Vers hat höchstens den Reiz eines die Phantasie stimulierenden Widerstands der Art, wie ihn OuLiPo mit der "contrainte" kultivieren wird. Das merken die Übersetzer und Herausgeber Maximilian Gilleßen und Stefan Ripplinger so treffend an, wie sie die trotz oder vielmehr dank des Sprachkorsetts entwickelten Welten übertragen.
Die sorgfältige Kontextualisierung und Deutung, welche das "Abc der Anblicke" im Anhang - eine Mini-Monographie - leistet, bringen Autor und Werk dem deutschen Publikum näher. Bei so viel Wissen und Präzision fallen ein paar kleine Haken doppelt auf, etwa jener "Kokosnussverkäufer", der einen Metallbehälter auf dem Rücken trägt und seine Ware in Becher gießt: Kokosnüsse aus dem "schmalen, geöffneten Hahn"? Tatsächlich war ein "marchand de coco" ein ambulanter Limonadenverkäufer, der in der Belle Époque ein beliebtes Lakritz-Zitronen-Getränk feilbot. Ein Detail, sicher: Aber Roussel bringt einen dazu, diese zu suchen und unter die Lupe zu nehmen. Man kann dem Berliner Kleinverlag zero sharp, der Avantgardisten ausgräbt und in schönen, klugen Bänden präsentiert, darunter mehrere von Raymond Roussel, für diese Entdeckung nur danken. NIKLAS BENDER
Raymond Roussel: "Der Anblick".
Aus dem Französischen und mit einem Abc der Anblicke versehen von Maximilian Gilleßen und Stefan Ripplinger. Zero sharp, Berlin 2022. 164 S., br., 22,- Euro.
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