Was wissen wir vom Balkan? Seit der Auflösung Jugoslawiens gilt Südosteuropa fast nur noch als Konfliktherd voller Streit, Gewalt und unversöhnlicher Feindschaft. Aber vielleicht spiegelt diese Vorstellung eher unsere Unkenntnis und unsere Vorurteile wieder als die Wirklichkeit.
Ist der Nachbar nebenan Freund oder Feind? Zu dieser Frage haben sich 22 der bekanntesten Autoren aus Albanien, Bulgarien und dem ehemaligen Jugoslawien in Form von biographischer Erinnerung, Erzählungen oder Essays zur Wort gemeldet. Das Buch erscheint gleichzeitig in fünf Ländern und allen Sprachen der Beiträger.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Ist der Nachbar nebenan Freund oder Feind? Zu dieser Frage haben sich 22 der bekanntesten Autoren aus Albanien, Bulgarien und dem ehemaligen Jugoslawien in Form von biographischer Erinnerung, Erzählungen oder Essays zur Wort gemeldet. Das Buch erscheint gleichzeitig in fünf Ländern und allen Sprachen der Beiträger.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.11.2007Das war, als Papa ein Monster wurde
Mein erster Serbe: Eine Anthologie versammelt Autoren vom Balkan und bringt damit unsere Begriffe auf schockierende Weise und hohem Niveau durcheinander.
Es ist eine tolle Sache, wenn Papa im Fernsehen ist - außer natürlich, wenn das Fernsehen ihn dabei zeigt, wie er gefesselte Männer erschießt und den Leichen noch einen Tritt versetzt. Das ist dann ein Familiendrama, und davon erzählt die kroatische Autorin Slavenka Drakulic in ihrer Geschichte "Drei Monologe über die anderen". Sie verfährt dabei so wie in "Keiner war dabei", ihrem 2004 erschienenen Buch über die Haager Kriegsverbrecherprozesse.
Am Anfang ihrer Geschichte steht ein sogenanntes wahres Ereignis. Die Bilder der von serbischen Freischärlern erschossenen jungen Männer - es waren bosnische Muslime - gibt es wirklich. Die Täter haben die Aufnahmen selbst gemacht, zur Erinnerung. Auf Umwegen gelangten sie ein Jahrzehnt später, im Jahr 2005, an den verdienstvollen serbischen Sender B92, der sie ausstrahlte und damit in Serbien eine Debatte über Schuld und Sühne in Gang setzte, wie das Land sie bis dahin nicht erlebt hatte. Slavenka Drakulic erzählt die Geschichte weiter, aus der Perspektive der Frau des Mörders, deren Tochter Schwierigkeiten in der Schule hat und mit niemandem mehr spricht, seit sie weiß, dass ihr Vater ein Monster ist.
Die Frau wirkt sympathisch. Sie liebt ihre Tochter, und außerdem ist auch sie ein Opfer, geflohen nach der kroatischen Rückeroberung der serbisch besetzten Krajina 1995. Aber bevor wir sie mögen können, zeigt Slavenka Drakulic uns das andere Gesicht der Frau. Sie ist nämlich auch eine ihrem Mann dümmlich ergebene Eheschranze, blind für das Leid, das dieser anderen zugefügt hat. Ihr Problem ist nicht, dass der Vater ihrer Tochter ein Menschenschlächter ist (es war halt Krieg), sondern, dass er sich beim Menschenschlachten erwischen ließ.
Diese Geschichte findet sich in dem Buch "Der andere nebenan", in dem einundzwanzig Autoren - zwei aus Slowenien, die anderen vom Balkan - vom Fremden schreiben. Die balkanische Verbindung einiger Schriftsteller ist freilich sehr vage, es sind Emigranten dabei, die schon keine Emigranten mehr sind. Charles Simic etwa lebt seit 1953 in den Vereinigten Staaten und schreibt über das Land mit der hellsichtigen Distanz eines kenntnisreichen Fremden, der sich über den Heimatstolz seiner Landsleute in Belgrad nicht genug wundern kann: "Da es so viele Orte auf der Welt gibt, die man ,Zuhause' nennen kann, verstand ich nie, warum sie so ein großes Theater darum machten, ganz haargenau an dem einen Ort geboren worden zu sein. Was mich betrifft: Ich kam 1938 in Belgrad zur Welt und verbrachte dort fünfzehn erlebnisreiche Jahre, bevor ich die Stadt auf immer verließ. Ich habe sie nie vermisst."
Er zog sich zu Beginn der neunziger Jahre den Zorn serbischer Extremisten zu, weil er vor dem anschwellenden Nationalismus und dessen Folgen warnte. Mancher Belgrader Scharfmacher sah ihn fortan als Vaterlandsverräter im Dienst der CIA: "Die Serben stellen sich immer gleich komplizierte Verschwörungen vor. Für sie sind alle Ereignisse bloße Kulissen, hinter denen irgendwelche geheimen Absichten stecken. Dass meine Meinung, das Ergebnis schlafloser Nächte und zahlloser Gewissenqualen, von mir selber stammte, war undenkbar für sie. Es gab Andeutungen bezüglich meiner Familie, Hinweise, dass wir ihnen schon seit Jahren verdächtig waren, dass wir Fremde seien, denen es über Jahrhunderte hinweg gelungen sei, als Serben durchzugehen."
David Albahari, ebenfalls ein Emigrant, schreibt von den geheimnisvollen Zeichen auf der Rückseite der Klingelknöpfe in einer (bosnischen) Kleinstadt. Sie sollen später über Leben und Tod entscheiden. Die Atmosphäre von Albaharis Geschichte erinnert auf frappierende Weise an die Berichte Überlebender von den letzten Wochen vor dem Ausbruch des Krieges in Bosnien, so, wie man sie heute oft in den Provinzstädten an der Drina zu hören bekommt: Die Welt schien noch dieselbe, Häuser und Straßen waren wie immer, bald würde es Frühling werden, nur aus Vukovar drang schon Schlachtenlärm herüber, und außerdem geschahen so seltsame Dinge. Die meisten Leute konnten sie nicht erklären, und die wenigen, die es gekonnt hätten, lebten schweigend und unentdeckt unter ihren Nachbarn, den Opfern von morgen. Erst als es zu spät war, sollten die Leute verstehen: Die unerklärlichen Vorgänge - das waren die Vorboten des Krieges. Bei Albahari sind es die Zeichen an den Sprechanlagen, die Unbekannte auf die Rückseite der Metallplatten ritzten, als Hinweise für die ortsfremden Mordtruppen - damit die Kämpfer wissen, wer Serbe ist, und nicht versehentlich die Falschen töten. Man kann die Leute sonst leicht verwechseln, und schon ist ein Unglück geschehen. Der Krieg in Bosnien, das war auch eine Zeit des Serbe-, Kroate- oder Muslim-sein-Müssens, etwas anderes war nicht länger erlaubt, und die ethnisch neutrale Ausrede, man sei "Jugoslawe", auf die sich nicht nur Muslime zurückgezogen hatten, wurde von den Kriegern aller Seiten nicht akzeptiert. Jenes naive Vertrauen, das die kommenden Opfer noch Anfang 1992 hatten, als es in Kroatien schon brannte ("Bei uns kann das nicht passieren, die jugoslawische Volksarmee wird uns beschützen"), erweckt Albahari auf raffinierte Weise auch in seinem Leser. Der Ich-Erzähler seiner Geschichte ist nämlich ein scheinbar sympathischer Außenseiter, ein harmloser Kleinstadtflaneur, der auf seinen nächtlichen Gängen die Klingelschilder abschraubt, um nachzusehen, woran die Unbekannten, die er tagsüber beobachtet hatte, sich zu schaffen gemacht haben.
Aber er findet nur die geheimnisvollen Punkte, Kreise und Kreuzchen neben den Namen. "In den folgenden Nächten sah ich mir die übrigen Hochhäuser an. Überall dasselbe: auf der Rückseite der Tafeln neben den Namen die gleichen Zeichen." Als dann der Krieg kommt, wird auch der naive Erzähler nicht verschont. Erst erbricht er sich, nachdem er eine blutige Leiche gesehen hat; wenig später foltert der sympathische Außenseiter ein Mädchen mit falschem Zeichen neben dem Klingelknopf, und Albahari lässt die Geschichte in lapidarem Grauen enden: "Ich musste tiefer hineinschneiden, das war mir inzwischen klar, und also drückte ich das Messer fester in ihren rechten Schenkel. Sie biss auf die Zähne, presste die Lippen zusammen und gab keinen Ton von sich, aber als ich endlich einen Streifen Haut abzog, schrie sie so laut auf, dass ich erstarrte. Während sie am ganzen Leib zitterte und das Blut an beiden Schenkeln herabfloss, blieb ich reglos zwischen ihnen stehen, bis ihre Stimme erklang. ,Warum tust du mir das an?' Und ich sagte: ,Ich weiß nicht'. Ich wusste es wirklich nicht."
Natürlich sind nicht alle Texte gelungen. Der Beitrag von Ismail Kadaré wäre in dessen Interesse besser ungedruckt geblieben. Hier und da geht es arg bunt zu - ein wenig bemüht in der Rolle des bulgarischen Bauerndichters: Dimitré Dinev -, und der hochgelobte Nachwuchsautor Sasa Stanisic platzt fast vor Stilwillen: Kaum ein Satz ohne Stuck und Schnörkel, Stanisic weiß nichts zu erzählen, und so schreibt er denn von einem unterirdischen See, "über dessen Süße und dessen Grün die Tiere und die Bäume so manches zu erzählen wussten", und von einem Gelb, "das die Sonne selbst neidisch machte". Das verstimmt, doch andere Autoren lassen derlei schnell vergessen. Bei dem Albaner Fatos Kongoli etwa, der über seinen ersten Serben schreibt, dem er 1998 begegnete, und sich bei dem Gedanken ertappt, man könne ihn für einen Kosmopoliten halten, was unter Enver Hodscha das abscheulichste aller Verbrechen war, ungefähr so wie Pädophilie heute. Aleksandar Hemon und Miljenko Jergovic, beide gebürtig aus Sarajevo, erweisen sich wie viele Schriftsteller aus dieser Stadt als meisterhaft in der Dekonstruktion von Identitäten. Jergovic, der heute überwiegend in Zagreb lebt, hat dazu Sätze geschrieben, die man all jenen unter die Nase halten sollte, die vor allem den (muslimischen) Bosniaken immer noch vorschreiben wollen, sie sollten sich gefälligst entscheiden, wer sie seien: "Meine eigene Situation ist - das weiß ich heute - etwas komplizierter, weil meine eigene Identität größtenteils aus dem zusammengesetzt ist, was ich nicht bin. Indem wir mit dem, was wir sind, unseren Frieden gemacht haben und indem wir auch den Sinn dessen in uns tragen, was wir nicht sind, stellen wir Identitäten dar, die man nicht mit einem Wort definieren kann, nicht mit einem Reisepass, einem Personalausweis, einem Passierschein. Der Pöbel definiert sich über Wappen, Flagge und Namen (Letzterer wird auch gern skandiert) - und uns bleiben nur lange und diffuse Erklärungen."
Kann dieses Buch also helfen, den Balkan zu verstehen? Natürlich nicht. Aber Herausgeber Richard Swartz, dessen Nachwort einer der besten Beiträge dieser Anthologie ist, hat wichtige Arbeit geleistet. Auf höherem Niveau als in diesen Texten kann man sich nämlich kaum verwirren lassen vom Balkan.
MICHAEL MARTENS.
Richard Swartz (Hrsg.): "Der andere nebenan". Eine Anthologie aus dem Südosten Europas. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007. 342 S., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mein erster Serbe: Eine Anthologie versammelt Autoren vom Balkan und bringt damit unsere Begriffe auf schockierende Weise und hohem Niveau durcheinander.
Es ist eine tolle Sache, wenn Papa im Fernsehen ist - außer natürlich, wenn das Fernsehen ihn dabei zeigt, wie er gefesselte Männer erschießt und den Leichen noch einen Tritt versetzt. Das ist dann ein Familiendrama, und davon erzählt die kroatische Autorin Slavenka Drakulic in ihrer Geschichte "Drei Monologe über die anderen". Sie verfährt dabei so wie in "Keiner war dabei", ihrem 2004 erschienenen Buch über die Haager Kriegsverbrecherprozesse.
Am Anfang ihrer Geschichte steht ein sogenanntes wahres Ereignis. Die Bilder der von serbischen Freischärlern erschossenen jungen Männer - es waren bosnische Muslime - gibt es wirklich. Die Täter haben die Aufnahmen selbst gemacht, zur Erinnerung. Auf Umwegen gelangten sie ein Jahrzehnt später, im Jahr 2005, an den verdienstvollen serbischen Sender B92, der sie ausstrahlte und damit in Serbien eine Debatte über Schuld und Sühne in Gang setzte, wie das Land sie bis dahin nicht erlebt hatte. Slavenka Drakulic erzählt die Geschichte weiter, aus der Perspektive der Frau des Mörders, deren Tochter Schwierigkeiten in der Schule hat und mit niemandem mehr spricht, seit sie weiß, dass ihr Vater ein Monster ist.
Die Frau wirkt sympathisch. Sie liebt ihre Tochter, und außerdem ist auch sie ein Opfer, geflohen nach der kroatischen Rückeroberung der serbisch besetzten Krajina 1995. Aber bevor wir sie mögen können, zeigt Slavenka Drakulic uns das andere Gesicht der Frau. Sie ist nämlich auch eine ihrem Mann dümmlich ergebene Eheschranze, blind für das Leid, das dieser anderen zugefügt hat. Ihr Problem ist nicht, dass der Vater ihrer Tochter ein Menschenschlächter ist (es war halt Krieg), sondern, dass er sich beim Menschenschlachten erwischen ließ.
Diese Geschichte findet sich in dem Buch "Der andere nebenan", in dem einundzwanzig Autoren - zwei aus Slowenien, die anderen vom Balkan - vom Fremden schreiben. Die balkanische Verbindung einiger Schriftsteller ist freilich sehr vage, es sind Emigranten dabei, die schon keine Emigranten mehr sind. Charles Simic etwa lebt seit 1953 in den Vereinigten Staaten und schreibt über das Land mit der hellsichtigen Distanz eines kenntnisreichen Fremden, der sich über den Heimatstolz seiner Landsleute in Belgrad nicht genug wundern kann: "Da es so viele Orte auf der Welt gibt, die man ,Zuhause' nennen kann, verstand ich nie, warum sie so ein großes Theater darum machten, ganz haargenau an dem einen Ort geboren worden zu sein. Was mich betrifft: Ich kam 1938 in Belgrad zur Welt und verbrachte dort fünfzehn erlebnisreiche Jahre, bevor ich die Stadt auf immer verließ. Ich habe sie nie vermisst."
Er zog sich zu Beginn der neunziger Jahre den Zorn serbischer Extremisten zu, weil er vor dem anschwellenden Nationalismus und dessen Folgen warnte. Mancher Belgrader Scharfmacher sah ihn fortan als Vaterlandsverräter im Dienst der CIA: "Die Serben stellen sich immer gleich komplizierte Verschwörungen vor. Für sie sind alle Ereignisse bloße Kulissen, hinter denen irgendwelche geheimen Absichten stecken. Dass meine Meinung, das Ergebnis schlafloser Nächte und zahlloser Gewissenqualen, von mir selber stammte, war undenkbar für sie. Es gab Andeutungen bezüglich meiner Familie, Hinweise, dass wir ihnen schon seit Jahren verdächtig waren, dass wir Fremde seien, denen es über Jahrhunderte hinweg gelungen sei, als Serben durchzugehen."
David Albahari, ebenfalls ein Emigrant, schreibt von den geheimnisvollen Zeichen auf der Rückseite der Klingelknöpfe in einer (bosnischen) Kleinstadt. Sie sollen später über Leben und Tod entscheiden. Die Atmosphäre von Albaharis Geschichte erinnert auf frappierende Weise an die Berichte Überlebender von den letzten Wochen vor dem Ausbruch des Krieges in Bosnien, so, wie man sie heute oft in den Provinzstädten an der Drina zu hören bekommt: Die Welt schien noch dieselbe, Häuser und Straßen waren wie immer, bald würde es Frühling werden, nur aus Vukovar drang schon Schlachtenlärm herüber, und außerdem geschahen so seltsame Dinge. Die meisten Leute konnten sie nicht erklären, und die wenigen, die es gekonnt hätten, lebten schweigend und unentdeckt unter ihren Nachbarn, den Opfern von morgen. Erst als es zu spät war, sollten die Leute verstehen: Die unerklärlichen Vorgänge - das waren die Vorboten des Krieges. Bei Albahari sind es die Zeichen an den Sprechanlagen, die Unbekannte auf die Rückseite der Metallplatten ritzten, als Hinweise für die ortsfremden Mordtruppen - damit die Kämpfer wissen, wer Serbe ist, und nicht versehentlich die Falschen töten. Man kann die Leute sonst leicht verwechseln, und schon ist ein Unglück geschehen. Der Krieg in Bosnien, das war auch eine Zeit des Serbe-, Kroate- oder Muslim-sein-Müssens, etwas anderes war nicht länger erlaubt, und die ethnisch neutrale Ausrede, man sei "Jugoslawe", auf die sich nicht nur Muslime zurückgezogen hatten, wurde von den Kriegern aller Seiten nicht akzeptiert. Jenes naive Vertrauen, das die kommenden Opfer noch Anfang 1992 hatten, als es in Kroatien schon brannte ("Bei uns kann das nicht passieren, die jugoslawische Volksarmee wird uns beschützen"), erweckt Albahari auf raffinierte Weise auch in seinem Leser. Der Ich-Erzähler seiner Geschichte ist nämlich ein scheinbar sympathischer Außenseiter, ein harmloser Kleinstadtflaneur, der auf seinen nächtlichen Gängen die Klingelschilder abschraubt, um nachzusehen, woran die Unbekannten, die er tagsüber beobachtet hatte, sich zu schaffen gemacht haben.
Aber er findet nur die geheimnisvollen Punkte, Kreise und Kreuzchen neben den Namen. "In den folgenden Nächten sah ich mir die übrigen Hochhäuser an. Überall dasselbe: auf der Rückseite der Tafeln neben den Namen die gleichen Zeichen." Als dann der Krieg kommt, wird auch der naive Erzähler nicht verschont. Erst erbricht er sich, nachdem er eine blutige Leiche gesehen hat; wenig später foltert der sympathische Außenseiter ein Mädchen mit falschem Zeichen neben dem Klingelknopf, und Albahari lässt die Geschichte in lapidarem Grauen enden: "Ich musste tiefer hineinschneiden, das war mir inzwischen klar, und also drückte ich das Messer fester in ihren rechten Schenkel. Sie biss auf die Zähne, presste die Lippen zusammen und gab keinen Ton von sich, aber als ich endlich einen Streifen Haut abzog, schrie sie so laut auf, dass ich erstarrte. Während sie am ganzen Leib zitterte und das Blut an beiden Schenkeln herabfloss, blieb ich reglos zwischen ihnen stehen, bis ihre Stimme erklang. ,Warum tust du mir das an?' Und ich sagte: ,Ich weiß nicht'. Ich wusste es wirklich nicht."
Natürlich sind nicht alle Texte gelungen. Der Beitrag von Ismail Kadaré wäre in dessen Interesse besser ungedruckt geblieben. Hier und da geht es arg bunt zu - ein wenig bemüht in der Rolle des bulgarischen Bauerndichters: Dimitré Dinev -, und der hochgelobte Nachwuchsautor Sasa Stanisic platzt fast vor Stilwillen: Kaum ein Satz ohne Stuck und Schnörkel, Stanisic weiß nichts zu erzählen, und so schreibt er denn von einem unterirdischen See, "über dessen Süße und dessen Grün die Tiere und die Bäume so manches zu erzählen wussten", und von einem Gelb, "das die Sonne selbst neidisch machte". Das verstimmt, doch andere Autoren lassen derlei schnell vergessen. Bei dem Albaner Fatos Kongoli etwa, der über seinen ersten Serben schreibt, dem er 1998 begegnete, und sich bei dem Gedanken ertappt, man könne ihn für einen Kosmopoliten halten, was unter Enver Hodscha das abscheulichste aller Verbrechen war, ungefähr so wie Pädophilie heute. Aleksandar Hemon und Miljenko Jergovic, beide gebürtig aus Sarajevo, erweisen sich wie viele Schriftsteller aus dieser Stadt als meisterhaft in der Dekonstruktion von Identitäten. Jergovic, der heute überwiegend in Zagreb lebt, hat dazu Sätze geschrieben, die man all jenen unter die Nase halten sollte, die vor allem den (muslimischen) Bosniaken immer noch vorschreiben wollen, sie sollten sich gefälligst entscheiden, wer sie seien: "Meine eigene Situation ist - das weiß ich heute - etwas komplizierter, weil meine eigene Identität größtenteils aus dem zusammengesetzt ist, was ich nicht bin. Indem wir mit dem, was wir sind, unseren Frieden gemacht haben und indem wir auch den Sinn dessen in uns tragen, was wir nicht sind, stellen wir Identitäten dar, die man nicht mit einem Wort definieren kann, nicht mit einem Reisepass, einem Personalausweis, einem Passierschein. Der Pöbel definiert sich über Wappen, Flagge und Namen (Letzterer wird auch gern skandiert) - und uns bleiben nur lange und diffuse Erklärungen."
Kann dieses Buch also helfen, den Balkan zu verstehen? Natürlich nicht. Aber Herausgeber Richard Swartz, dessen Nachwort einer der besten Beiträge dieser Anthologie ist, hat wichtige Arbeit geleistet. Auf höherem Niveau als in diesen Texten kann man sich nämlich kaum verwirren lassen vom Balkan.
MICHAEL MARTENS.
Richard Swartz (Hrsg.): "Der andere nebenan". Eine Anthologie aus dem Südosten Europas. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007. 342 S., 28,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Karl-Markus Gauß hat in dieser Anthologie, in der der schwedische Herausgeber Richard Swartz Prosatexte von im Exil lebenden südosteuropäischen Schriftstellern versammelt hat, vor allem Spuren des Krieges, "Melancholie und Trauer" gefunden. Gauß haben die Texte insgesamt überzeugt und beeindruckt, und er stellt fest, dass der Krieg und seine Folgen in den meisten eine tragende Rolle spielt. Erschreckend und beeindruckend fand er die Erzählung vom heute in Kanada lebenden serbischen Autor David Albahari, der die Wandlung eines Jugendlichen vom erschütterten Zuschauer furchtbarer Grausamkeiten über völlige Abgestumpftheit bis zu selbst verübten Gräueltaten beschreibt. Ein bisschen Erholung davon fand der von den Prosatexten berührte Rezensent dafür in Dimitre Dinevs witziger Erzählung über einen christlich-muslimischen Friedhof in Bulgarien, die allerdings, wie Gauß feststellen muss, ebenfalls nicht in einen "ermutigenden Ausblick" von geglücktem Nebeneinander mündet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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