Als »besten Reporter der Welt« würdigte Spiegel online Ryszard Kapuscinski nach seinem Tod im Januar 2007. Seine Bücher wie König der Könige und Meine Reisen mit Herodot gehören inzwischen zum Kanon der Weltliteratur. Die Vorlesungen, die Kapuscinski im Jahr 2004 am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen hielt, waren noch einmal seinem großen Thema gewidmet: der Begegnung mit dem Anderen. Kapuscinski erläutert, welche Bedeutung dieser Begriff Emmanuel Lévinas' für seine Arbeit hatte und erfüllt die philosophische Kategorie anhand seiner Erfahrungen als Reisender, Journalist und Publizist mit Leben. Das Vermächtnis eines großen kosmopolitischen Intellektuellen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.07.2008Eine Dienstreise unmittelbar zu Gott
Dass der Journalist und Schriftsteller Ryszard Kapuscinski zuvörderst Philosoph war, zeigen seine nun erschienenen Vorlesungen, die er am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen gehalten hat.
Menschlich hinreißend, journalistisch vielleicht etwas zu phantasievoll - so der Tenor der Nachrufe, die auf Ryszard Kapuscinski geschrieben wurden, als er im Alter von vierundsiebzig Jahren im vorigen Jahr in Warschau verstarb. Er galt als einer der maßgeblichen Autoren Polens, seine Werke wurden in dreißig Sprachen übersetzt. Berühmt wurde er mit seinen Reportagen aus Afrika, Iran und Lateinamerika, darunter der Weltbestseller "König der Könige" über den äthiopischen Diktator Haile Selasie (zugleich eine Parabel auf die absolute Macht und die Präpotenz der kommunistischen Regierung in seinem Heimatland Polen). Bis heute entzieht sich Kapuscinski einer eindeutigen Zuordnung: War er vor allem Auslandskorrespondent, Schriftsteller oder Philosoph?
Dass ohne die Inspiration durch Poesie und Philosophie Kapuscinskis Texte nicht denkbar wären, hat er selbst manches Mal gesagt. So las er oft Lyrik, um die Gegenstände seiner Reportagen in einem anderen Licht leuchten zu lassen, das Unsichtbare an ihnen besser in Worte zu fassen: "Ich denke, dass in meiner Prosa die Poesie einen unerhörten Einfluss hat, weil sie uns immer daran erinnert, dass die Sprache in unserer Darstellung das Allerwichtigste ist." Denn nie wollte der Journalist Kapuscinski bloß Chronistenpflichten erfüllen, als erzählender Notar des Gegebenen auftreten oder sich vom Wettlauf um "Enthüllungen" in Dienst nehmen lassen.
Auch unter Journalisten gibt es ja den Verrat an diesem doch freiesten aller Berufe: Statt die verfassungsmäßig verbriefte Freiheit zu nutzen, um mit einer gewissen Unerschrockenheit den Dingen auf den Grund zu gehen (warum nicht mit dem moralischem Pathos, der Wahrheit zu dienen?), regrediert man in Angst und Schrecken um seinen Arbeitsplatz zum höheren Postbeamten, der abends zufrieden nach Hause geht, wenn alle Anweisungen ausgeführt, sämtliche Formalitäten erledigt und Akten geschlossen wurden.
Kapuscinski trat als das Gegenbild zu einem derart heruntergekommenen Ethos auf. Er riskierte etwas für seinen Job, weil er ihn voller Demut als Privileg begriff. Im wörtlichen wie im symbolischen Sinne überstand er Malariaschübe, Tuberkulose und Skorpionstiche in wilden Gegenden, in denen weit und breit kein Rettungsfahrzeug vorbeikommt. Stets ging es ihm darum, im tiefsten Sinne Wirklichkeit zu erschließen - ein Unterfangen, das seiner Ansicht nach misslingen muss, wenn es dem Beobachter an der dafür nötigen Courage, der Metaphysik oder schlichtweg dem Interesse fehlt. Es war nicht Abschätzigkeit, sondern tiefe, nachgerade ontologische Trauer, die Kapuscinski sagen ließ: "Was für ein Drama, wenn der Aufklärer sich als Hosenschisser entpuppt!" Tatsächlich verstand der Nonkonformist Kapuscinski nichts weniger als jene verwöhnten Kollegen seiner Zunft, von denen man nicht sagen kann, wofür sie sich außer dem Prestige, den ihr Sessel ihnen verleiht, eigentlich interessieren.
Wie unerhört der Einfluss auch der Philosophie auf die Prosa Kapuscinskis ist, war immer schon unüberlesbar, wird nun aber in dem Band "Der Andere" recht eigentlich erst thematisch, der soeben in der edition suhrkamp erschienen ist. Der Band versammelt die Vorlesungen, die Kapuscinski im Jahr 2004 am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen hielt und die seinem großen Thema gewidmet waren: der Begegnung mit dem Anderen. Die von der postmodernen Philosophie zu Tode gerittene Kategorie des Anderen gewinnt bei Kapuscinski noch einmal all die Frische, den Glanz und die analytische Kraft, die dieser Schlüsselvokabel humanistischer Denkart zukommt.
Kapuscinski bindet sie ohne Umschweife an Emmanuel Lévinas zurück, dessen Philosophie des Antlitzes für ihn offenbar die entscheidende Ideengeberin gewesen ist. Er hält Lévinas für den Philosophen des Anderen schlechthin und schreibt ihm einen historischen Umbruch in der Geistesgeschichte zu. So deutlich wie in den Wiener Vorlesungen war das zuvor nie ausgesprochen worden.
Es hat etwas Anrührendes und zutiefst Verständnisvolles, mit welch einfachen, nicht akademisch verbrämten Worten Kapuscinski in Wien das Grundanliegen von Lévinas rekapituliert: "Halte inne. Neben dir ist da noch ein anderer Mensch. Geh ihm entgegen. Eine solche Begegnung ist das größte Erlebnis, die wichtigste Erfahrung. Schau dem Anderen ins Antlitz, das er dir entgegenhält. Durch sein Antlitz öffnet er sich dir, mehr noch, bringt er dich Gott näher."
Das also war der Blick, mit dem ein abgebrühter Reporter jahrzehntelang durch die Krisengebiete der Welt fuhr? So unmittelbar zu Gott verliefen die Dienstreisen dieses internationalen Korrespondenten? Wer könnte den Verständigungsdenker Lévinas, der nicht selten mit messianischem Gestus die trennscharfe Begrifflichkeit schuldig bleibt - wer könnte einen Lévinas lebenspraktisch besser beglaubigen als ein eben doch nicht so abgebrühter Kapuscinski, der sich unter gefährlichen Bedingungen auf Tausende Begegnungen eingelassen und über sie geschrieben hat?
Er nutzt denn auch die Wiener Vorlesungen, um hier nicht lockerzulassen: "Die Philosophie Lévinas' löst den Einzelnen heraus, individualisiert ihn, zeigt, dass es neben mir noch einen Anderen gibt, an dem ich, wenn ich nicht die Anstrengung auf mich nehme, mich ihm zuzuwenden, wenn ich nicht den Wunsch äußere, ihm zu begegnen, gleichgültig vorübergehe, kalt, gefühllos, ausdruckslos, seelenlos. Dabei, so sagt Lévinas, hat der Andere ein Antlitz, und dieses Antlitz ist ein Buch, in dem das Gute geschrieben steht."
So schält Kapuscinski mit leichter Hand die Pointe der Antlitz-Philosophie heraus: Sie schlägt den Individualismus mit individualistischen Mitteln. Eine egologische Perspektive ruiniert das Ego. Allein ist nicht genug. Erst im Spiegel des Anderen erkenne ich mich selbst. "Lévinas ist ständig auf der Suche nach dem Weg zum Anderen, er will uns aus den Fesseln des Egoismus, der Gleichgültigkeit befreien, uns vor der Versuchung der Isolierung, des sich Abschottens, des sich Abschließens warnen. Er zeigt uns eine neue Dimension des Ich - dass dieses nämlich nicht nur das einsame Individuum ist, sondern dass auch der Andere einen Bestandteil dieses Ich darstellt, wodurch eine neue Form der Person, des Seins entsteht."
Im Rückgriff auf Herodot, jene weitere Bezugsfigur für das Reisen und Schreiben Kapuscinskis, weitet sich die Perspektive von der Begegnung zwischen Einzelnen auf die Begegnung zwischen Kulturen aus. "Die Xenophobie, so scheint Herodot zu sagen, ist eine Krankheit der Ängstlichen, jener, die an Minderwertigkeitskomplexen leiden, die vor dem Gedanken zurückschrecken, dass sie sich im Spiegel der Kulturen der Anderen betrachten müssen. Sein ganzes Werk ist ein konsequentes Errichten von Spiegeln, in denen wir vor allem Griechenland und die Griechen besser und deutlicher sehen können." Wobei Kapuscinski eindringlich davor warnt, "Kulturen" jene Konflikte zuzuschreiben, die in Wirklichkeit politisch-sozial verursacht sind. Sein Kulturbegriff ist in keiner Hinsicht vereinnahmbar für die These vom Kampf der Kulturen.
Das macht er sehr klar, wenn er die Feldforschung als Methode der wissenschaftlichen Anthropologie zu relativieren sucht. Die Feldforschung eines Bronislaw Malinowski und anderer Ethnologen stößt nämlich immer dann an ihre Grenzen, wenn sie eine festumrissene Kultur annimmt. Eine solche fixe Kultur ist eine Chimäre, sagt Kapuscinski. Sie war in der Vergangenheit eine Chimäre und ist es in der Gegenwart. Weil Kulturen nie etwas Reines sind, sondern in ständiger Mischung sich erhalten und entwickeln. Indem Kapuscinski die Kulturfalle beschreibt, in der sich die historische Feldforschung verfing, kritisiert er zugleich die heutigen Kulturalisten in Politik und Wirtschaft, die im Gefolge von Samuel Huntington einem falschen Determinismus anhängen. Die frühe wissenschaftliche Anthropologie hat Kulturen auf ein falsches Gleis geschoben, von dem sie teilweise bis heute nicht wieder heruntergekommen sind. Dieses falsche Gleis stellt sich für Kapuscinski als veritable Kulturfalle dar: "Man war bestrebt, traditionelle Kulturen zu erforschen und kennenzulernen, als würden diese im reinen Zustand auftreten, so wie sie seit Jahrhunderten existierten, abgeschieden und isoliert. Man beschrieb sie in der Folge als statische Strukturen, ein für alle Mal festgelegt, während sie in Wirklichkeit, vor allem in unserer Zeit, ständigen Veränderungen unterworfen waren, einer unablässigen, oft radikalen Transformation. Bevor zum Beispiel Evans-Pritchard seine Beschreibung des Stammes der Zande abschließen konnte, sah dieser schon wieder ganz anders aus oder hatte sich überhaupt aufgelöst, hatte samt seiner Kultur und seinen Gottheiten aufgehört zu existieren."
Der Grund für die Unhaltbarkeit eines fixen, abgeschlossenen Kulturbegriffs ist für jedermann einsichtig: "Es bricht nämlich die Zeit der beschleunigten und intensivierten Migration an, in der Millionen und Abermillionen von Menschen in die Städte ziehen und die Hochburg der Tradition, das Dorf, sich entvölkert, da seine Bewohner von Hunger, Bürgerkriegen, Dürren und Epidemien heimgesucht werden. Der Andere aber, den wir in den Großstädten der Dritten Welt treffen und näher kennenlernen, ist schon wieder ein anderer - das Produkt einer schwer zu definierenden städtischen Hybridkultur, Nachfahre verschiedener, widersprüchlicher Welten, ein inhomogenes Wesen mit verschwimmenden, unsicheren Konturen und Merkmalen. Heute haben wir es meist mit einem solchen Anderen zu tun."
Hier möchte man nahtlos die materialreiche Studie von Joana Breidenbach und Pál Nyíri anschließen, die unter dem Titel "Maxikulti" neulich bei Campus erschien und den Nachweis führt, dass der Glaube an die Unversöhnlichkeit von Kulturen zwar boomt, aber falsch ist. Dass kulturelle Unterschiede als Erklärung für gesellschaftliche Konflikte weniger taugen als gerne gedacht - dafür steht in Ryszard Kapuscinski ein wunderbarer, weitgereister Zeuge bereit.
CHRISTIAN GEYER
Ryszard Kapuscinski: "Der Andere". Aus dem Polnischen von Martin Pollack. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 93 S., br., 7,50 [Euro].
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Dass der Journalist und Schriftsteller Ryszard Kapuscinski zuvörderst Philosoph war, zeigen seine nun erschienenen Vorlesungen, die er am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen gehalten hat.
Menschlich hinreißend, journalistisch vielleicht etwas zu phantasievoll - so der Tenor der Nachrufe, die auf Ryszard Kapuscinski geschrieben wurden, als er im Alter von vierundsiebzig Jahren im vorigen Jahr in Warschau verstarb. Er galt als einer der maßgeblichen Autoren Polens, seine Werke wurden in dreißig Sprachen übersetzt. Berühmt wurde er mit seinen Reportagen aus Afrika, Iran und Lateinamerika, darunter der Weltbestseller "König der Könige" über den äthiopischen Diktator Haile Selasie (zugleich eine Parabel auf die absolute Macht und die Präpotenz der kommunistischen Regierung in seinem Heimatland Polen). Bis heute entzieht sich Kapuscinski einer eindeutigen Zuordnung: War er vor allem Auslandskorrespondent, Schriftsteller oder Philosoph?
Dass ohne die Inspiration durch Poesie und Philosophie Kapuscinskis Texte nicht denkbar wären, hat er selbst manches Mal gesagt. So las er oft Lyrik, um die Gegenstände seiner Reportagen in einem anderen Licht leuchten zu lassen, das Unsichtbare an ihnen besser in Worte zu fassen: "Ich denke, dass in meiner Prosa die Poesie einen unerhörten Einfluss hat, weil sie uns immer daran erinnert, dass die Sprache in unserer Darstellung das Allerwichtigste ist." Denn nie wollte der Journalist Kapuscinski bloß Chronistenpflichten erfüllen, als erzählender Notar des Gegebenen auftreten oder sich vom Wettlauf um "Enthüllungen" in Dienst nehmen lassen.
Auch unter Journalisten gibt es ja den Verrat an diesem doch freiesten aller Berufe: Statt die verfassungsmäßig verbriefte Freiheit zu nutzen, um mit einer gewissen Unerschrockenheit den Dingen auf den Grund zu gehen (warum nicht mit dem moralischem Pathos, der Wahrheit zu dienen?), regrediert man in Angst und Schrecken um seinen Arbeitsplatz zum höheren Postbeamten, der abends zufrieden nach Hause geht, wenn alle Anweisungen ausgeführt, sämtliche Formalitäten erledigt und Akten geschlossen wurden.
Kapuscinski trat als das Gegenbild zu einem derart heruntergekommenen Ethos auf. Er riskierte etwas für seinen Job, weil er ihn voller Demut als Privileg begriff. Im wörtlichen wie im symbolischen Sinne überstand er Malariaschübe, Tuberkulose und Skorpionstiche in wilden Gegenden, in denen weit und breit kein Rettungsfahrzeug vorbeikommt. Stets ging es ihm darum, im tiefsten Sinne Wirklichkeit zu erschließen - ein Unterfangen, das seiner Ansicht nach misslingen muss, wenn es dem Beobachter an der dafür nötigen Courage, der Metaphysik oder schlichtweg dem Interesse fehlt. Es war nicht Abschätzigkeit, sondern tiefe, nachgerade ontologische Trauer, die Kapuscinski sagen ließ: "Was für ein Drama, wenn der Aufklärer sich als Hosenschisser entpuppt!" Tatsächlich verstand der Nonkonformist Kapuscinski nichts weniger als jene verwöhnten Kollegen seiner Zunft, von denen man nicht sagen kann, wofür sie sich außer dem Prestige, den ihr Sessel ihnen verleiht, eigentlich interessieren.
Wie unerhört der Einfluss auch der Philosophie auf die Prosa Kapuscinskis ist, war immer schon unüberlesbar, wird nun aber in dem Band "Der Andere" recht eigentlich erst thematisch, der soeben in der edition suhrkamp erschienen ist. Der Band versammelt die Vorlesungen, die Kapuscinski im Jahr 2004 am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen hielt und die seinem großen Thema gewidmet waren: der Begegnung mit dem Anderen. Die von der postmodernen Philosophie zu Tode gerittene Kategorie des Anderen gewinnt bei Kapuscinski noch einmal all die Frische, den Glanz und die analytische Kraft, die dieser Schlüsselvokabel humanistischer Denkart zukommt.
Kapuscinski bindet sie ohne Umschweife an Emmanuel Lévinas zurück, dessen Philosophie des Antlitzes für ihn offenbar die entscheidende Ideengeberin gewesen ist. Er hält Lévinas für den Philosophen des Anderen schlechthin und schreibt ihm einen historischen Umbruch in der Geistesgeschichte zu. So deutlich wie in den Wiener Vorlesungen war das zuvor nie ausgesprochen worden.
Es hat etwas Anrührendes und zutiefst Verständnisvolles, mit welch einfachen, nicht akademisch verbrämten Worten Kapuscinski in Wien das Grundanliegen von Lévinas rekapituliert: "Halte inne. Neben dir ist da noch ein anderer Mensch. Geh ihm entgegen. Eine solche Begegnung ist das größte Erlebnis, die wichtigste Erfahrung. Schau dem Anderen ins Antlitz, das er dir entgegenhält. Durch sein Antlitz öffnet er sich dir, mehr noch, bringt er dich Gott näher."
Das also war der Blick, mit dem ein abgebrühter Reporter jahrzehntelang durch die Krisengebiete der Welt fuhr? So unmittelbar zu Gott verliefen die Dienstreisen dieses internationalen Korrespondenten? Wer könnte den Verständigungsdenker Lévinas, der nicht selten mit messianischem Gestus die trennscharfe Begrifflichkeit schuldig bleibt - wer könnte einen Lévinas lebenspraktisch besser beglaubigen als ein eben doch nicht so abgebrühter Kapuscinski, der sich unter gefährlichen Bedingungen auf Tausende Begegnungen eingelassen und über sie geschrieben hat?
Er nutzt denn auch die Wiener Vorlesungen, um hier nicht lockerzulassen: "Die Philosophie Lévinas' löst den Einzelnen heraus, individualisiert ihn, zeigt, dass es neben mir noch einen Anderen gibt, an dem ich, wenn ich nicht die Anstrengung auf mich nehme, mich ihm zuzuwenden, wenn ich nicht den Wunsch äußere, ihm zu begegnen, gleichgültig vorübergehe, kalt, gefühllos, ausdruckslos, seelenlos. Dabei, so sagt Lévinas, hat der Andere ein Antlitz, und dieses Antlitz ist ein Buch, in dem das Gute geschrieben steht."
So schält Kapuscinski mit leichter Hand die Pointe der Antlitz-Philosophie heraus: Sie schlägt den Individualismus mit individualistischen Mitteln. Eine egologische Perspektive ruiniert das Ego. Allein ist nicht genug. Erst im Spiegel des Anderen erkenne ich mich selbst. "Lévinas ist ständig auf der Suche nach dem Weg zum Anderen, er will uns aus den Fesseln des Egoismus, der Gleichgültigkeit befreien, uns vor der Versuchung der Isolierung, des sich Abschottens, des sich Abschließens warnen. Er zeigt uns eine neue Dimension des Ich - dass dieses nämlich nicht nur das einsame Individuum ist, sondern dass auch der Andere einen Bestandteil dieses Ich darstellt, wodurch eine neue Form der Person, des Seins entsteht."
Im Rückgriff auf Herodot, jene weitere Bezugsfigur für das Reisen und Schreiben Kapuscinskis, weitet sich die Perspektive von der Begegnung zwischen Einzelnen auf die Begegnung zwischen Kulturen aus. "Die Xenophobie, so scheint Herodot zu sagen, ist eine Krankheit der Ängstlichen, jener, die an Minderwertigkeitskomplexen leiden, die vor dem Gedanken zurückschrecken, dass sie sich im Spiegel der Kulturen der Anderen betrachten müssen. Sein ganzes Werk ist ein konsequentes Errichten von Spiegeln, in denen wir vor allem Griechenland und die Griechen besser und deutlicher sehen können." Wobei Kapuscinski eindringlich davor warnt, "Kulturen" jene Konflikte zuzuschreiben, die in Wirklichkeit politisch-sozial verursacht sind. Sein Kulturbegriff ist in keiner Hinsicht vereinnahmbar für die These vom Kampf der Kulturen.
Das macht er sehr klar, wenn er die Feldforschung als Methode der wissenschaftlichen Anthropologie zu relativieren sucht. Die Feldforschung eines Bronislaw Malinowski und anderer Ethnologen stößt nämlich immer dann an ihre Grenzen, wenn sie eine festumrissene Kultur annimmt. Eine solche fixe Kultur ist eine Chimäre, sagt Kapuscinski. Sie war in der Vergangenheit eine Chimäre und ist es in der Gegenwart. Weil Kulturen nie etwas Reines sind, sondern in ständiger Mischung sich erhalten und entwickeln. Indem Kapuscinski die Kulturfalle beschreibt, in der sich die historische Feldforschung verfing, kritisiert er zugleich die heutigen Kulturalisten in Politik und Wirtschaft, die im Gefolge von Samuel Huntington einem falschen Determinismus anhängen. Die frühe wissenschaftliche Anthropologie hat Kulturen auf ein falsches Gleis geschoben, von dem sie teilweise bis heute nicht wieder heruntergekommen sind. Dieses falsche Gleis stellt sich für Kapuscinski als veritable Kulturfalle dar: "Man war bestrebt, traditionelle Kulturen zu erforschen und kennenzulernen, als würden diese im reinen Zustand auftreten, so wie sie seit Jahrhunderten existierten, abgeschieden und isoliert. Man beschrieb sie in der Folge als statische Strukturen, ein für alle Mal festgelegt, während sie in Wirklichkeit, vor allem in unserer Zeit, ständigen Veränderungen unterworfen waren, einer unablässigen, oft radikalen Transformation. Bevor zum Beispiel Evans-Pritchard seine Beschreibung des Stammes der Zande abschließen konnte, sah dieser schon wieder ganz anders aus oder hatte sich überhaupt aufgelöst, hatte samt seiner Kultur und seinen Gottheiten aufgehört zu existieren."
Der Grund für die Unhaltbarkeit eines fixen, abgeschlossenen Kulturbegriffs ist für jedermann einsichtig: "Es bricht nämlich die Zeit der beschleunigten und intensivierten Migration an, in der Millionen und Abermillionen von Menschen in die Städte ziehen und die Hochburg der Tradition, das Dorf, sich entvölkert, da seine Bewohner von Hunger, Bürgerkriegen, Dürren und Epidemien heimgesucht werden. Der Andere aber, den wir in den Großstädten der Dritten Welt treffen und näher kennenlernen, ist schon wieder ein anderer - das Produkt einer schwer zu definierenden städtischen Hybridkultur, Nachfahre verschiedener, widersprüchlicher Welten, ein inhomogenes Wesen mit verschwimmenden, unsicheren Konturen und Merkmalen. Heute haben wir es meist mit einem solchen Anderen zu tun."
Hier möchte man nahtlos die materialreiche Studie von Joana Breidenbach und Pál Nyíri anschließen, die unter dem Titel "Maxikulti" neulich bei Campus erschien und den Nachweis führt, dass der Glaube an die Unversöhnlichkeit von Kulturen zwar boomt, aber falsch ist. Dass kulturelle Unterschiede als Erklärung für gesellschaftliche Konflikte weniger taugen als gerne gedacht - dafür steht in Ryszard Kapuscinski ein wunderbarer, weitgereister Zeuge bereit.
CHRISTIAN GEYER
Ryszard Kapuscinski: "Der Andere". Aus dem Polnischen von Martin Pollack. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 93 S., br., 7,50 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Einmal mehr gerät Michael Angele über diesen Autor ins Staunen. Ryszard Kapuscinskis Nachdenken über den Anderen, das für Angele nicht weniger als ein Reflektieren der Grundlagen von Kapuscinskis Werk bedeutet, führt den Rezensenten von der Aufklärung bis zu Emmanuel Levinas. Kapuscinskis zentrales Movens, erkennt Angele, ist die Neugierde, die sogar die "enorme Anstrengung" einer Begegnung mit dem Anderen auf Augenhöhe nicht scheut. Der Wert dieser Reflexionen liegt für ihn in ihrem Aberwitz, darin, dass sie ohne Zynismus auskommen, in der reichen Erfahrung ihres Urhebers sowie nicht zuletzt darin, dass Kapuscinski "auch als Reisender" ein großer Schriftsteller ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Wie unerhört der Einfluss auch der Philosophie auf die Prosa Kapuscinskis ist wird nun in dem Band Der Andere eigentlich erst thematisch.« Christian Geyer Frankfurter Allgemeine Zeitung