Mark Aldanow erzählt in diesem großen Gesellschaftsporträt mit Ironie und Scharfsinn von einem Epochenbruch, wie wir ihn fast hundert Jahre später wieder erleben.
Hauptschauplatz ist das Paris Ende der 1930er Jahre, der «Anfang vom Ende» des alten Europa liegt in der Luft. Die Geschichte beginnt in einem Zug von Moskau Richtung Berlin. Ein sowjetischer Botschafter befindet sich auf dem Weg in den Westen, um eingefrorene diplomatische Beziehungen wieder aufzunehmen. In seiner Begleitung befinden sich u. a. ein alter Militär, ein Berufsrevolutionär, der mit sich und seiner kommunistischen Vergangenheit zu hadern beginnt, sowie eine linientreue Botschaftssekretärin mit schriftstellerischen Ambitionen. In Paris kämpft derweil ein berühmter französischer Autor mit dem Stoff für seinen neuen Roman, während sein junger Sekretär einen Mord wie aus einem Dostojewski-Roman plant.
Die unterschiedlichsten Schicksale treffen aufeinander in diesem kunstvoll komponierten Roman, in dem die drängenden Fragen jener Jahre verhandelt werden: Macht und Ohnmacht der Demokratie, die geistige Verwandtschaft von Kommunismus und Faschismus, der Zusammenhang von Nationalismus und Diktatur, die Bedeutung von Kunst, der Verfall humanistischer Werte.
Nach Aldanows Flucht in die USA erschien der Roman 1943 zunächst in englischer Übersetzung. Ausgezeichnet als «Book of the Month» in der NYT Book Review wurde er auf Anhieb ein Bestseller und stieß auf ein begeistertes Echo bei Kritikern und Lesern. Mark Aldanow war dreizehn Mal für den Nobelpreis nominiert, darunter sechs Mal von Iwan Bunin.
«Was Aldanows Buch heute so aktuell macht, ist dieses Gefühl der absoluten moralischen Katastrophe, die über Russland hereingebrochen ist, das Gefühl des 'Anfangs vom Ende'.» Sergej Lebedew
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hauptschauplatz ist das Paris Ende der 1930er Jahre, der «Anfang vom Ende» des alten Europa liegt in der Luft. Die Geschichte beginnt in einem Zug von Moskau Richtung Berlin. Ein sowjetischer Botschafter befindet sich auf dem Weg in den Westen, um eingefrorene diplomatische Beziehungen wieder aufzunehmen. In seiner Begleitung befinden sich u. a. ein alter Militär, ein Berufsrevolutionär, der mit sich und seiner kommunistischen Vergangenheit zu hadern beginnt, sowie eine linientreue Botschaftssekretärin mit schriftstellerischen Ambitionen. In Paris kämpft derweil ein berühmter französischer Autor mit dem Stoff für seinen neuen Roman, während sein junger Sekretär einen Mord wie aus einem Dostojewski-Roman plant.
Die unterschiedlichsten Schicksale treffen aufeinander in diesem kunstvoll komponierten Roman, in dem die drängenden Fragen jener Jahre verhandelt werden: Macht und Ohnmacht der Demokratie, die geistige Verwandtschaft von Kommunismus und Faschismus, der Zusammenhang von Nationalismus und Diktatur, die Bedeutung von Kunst, der Verfall humanistischer Werte.
Nach Aldanows Flucht in die USA erschien der Roman 1943 zunächst in englischer Übersetzung. Ausgezeichnet als «Book of the Month» in der NYT Book Review wurde er auf Anhieb ein Bestseller und stieß auf ein begeistertes Echo bei Kritikern und Lesern. Mark Aldanow war dreizehn Mal für den Nobelpreis nominiert, darunter sechs Mal von Iwan Bunin.
«Was Aldanows Buch heute so aktuell macht, ist dieses Gefühl der absoluten moralischen Katastrophe, die über Russland hereingebrochen ist, das Gefühl des 'Anfangs vom Ende'.» Sergej Lebedew
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"Der Anfang vom Ende" ist ein großes und unerwartetes Meisterwerk, in dem man sich über Tage festliest. Ich kenne keinen alten Roman, der so gegenwärtig ist. Adam Soboczynski Die Zeit 20230615
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Im Rahmen seiner kleinen Ukraine-Bibliothek stellt Kritiker Christian Thomas diesen nach achtzig Jahren erstmals von Andreas Weihe ins Deutsche übertragenen Roman von Mark Aldanow und in dem Zuge gleich auch die Geschichte seines Autors vor: Ein "Meisterwerk" sei das Buch, in dem ein Revolutionär über das Böse nachdenkt, in das er selbst im Zuge des Bolschewismus verstrickt ist, und mit dem er und seine Mit-Protagonisten auch im Spanischen Bürgerkrieg wieder konfrontiert werden. Der Autor indes musste vor der Oktoberrevolution nach Paris und noch später nach New York fliehen, weiß Thomas, dem sowjetischen Regime, dessen Ähnlichkeiten zu den Nazis ihm als einem der ersten aufgefallen waren, war er ein Dorn im Auge. In diesem Roman wird der "gigantische Schwindel einer gewalttätigen Epoche" verhandelt, zeigt sich der Rezensent schwer beeindruckt, so passt die Geschichte auch gut in die heutige, krisengebeutelte Zeit und steht für ihn auf einer Stufe mit Dostojewski oder Gogol.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.06.2023Verdacht
und Verrat
Mark Aldanow war 13 Mal für den Nobelpreis
nominiert. Nun erscheint sein Meisterwerk
„Der Anfang vom Ende“ erstmals auf
Deutsch. Ein literarisches Ereignis
VON ULRICH RÜDENAUER
Kurz vor seinem Tod soll Mark Aldanow sein Schicksal als Autor nüchtern vorausgesehen haben: „Drei Wochen nach meiner Beerdigung“, prophezeite er, „wird mein literarisches Werk vollkommen vergessen sein.“ Ganz falsch lag der 1957 in Nizza gestorbene Romancier damit nicht. Der Türsteher des literarischen Pantheons ist eine wankelmütige Gestalt.
1919 war der damals 33-jährige Mark Aldanow – ein Pseudonym für Mordhai-Markus Israeliwitsch Landau – wie viele seiner russischen Landsleute vor dem Bolschewismus geflohen. Er stammte aus einer österreich-jüdischen, in Kiew beheimateten Industriellenfamilie und war vielfach begabt: Studiert hatte er sowohl Jura als auch Naturwissenschaften; er arbeitete als Chemiker, veröffentlichte auch auf diesem Gebiet, schrieb allerdings ebenso noch vor seinem 30. Geburtstag literaturhistorische Aufsätze und Bücher.
Natürlich sprach er die wichtigsten europäischen Sprachen fließend und begann nach dem Großen Krieg in der Pariser und zeitweilig in der Berliner Emigration seine literarischen Ambitionen auszuleben, als Herausgeber von Exil-Zeitschriften und Autor. Am Ende seines Lebens konnte er auf mehr als ein Dutzend Romane, meist historisch-philosophische Werke, zudem Erzählungen und Essays zurückblicken.
Zu seinen Freunden zählte er Vladimir Nabokov und Iwan Bunin. Letzterer schlug ihn unermüdlich für den Literaturnobelpreis vor – schließlich brachte es Aldanow auf 13 Nominierungen. Ob die Akademie auch seinen 1938 geschriebenen, zuerst im amerikanischen Exil unter dem Titel „The Fifth Seal“ 1943 komplett erschienenen Roman wahrgenommen hatte, der nun 80 Jahre nach seiner Veröffentlichung in den USA und dreißig Jahre nach dem Erscheinen in Russland in einer glänzenden Übersetzung von Andreas Weihe erstmals auch auf Deutsch erscheint? Im Christentum gibt es die Wiederauferstehung, in der Literatur heißt sie einfach Wiederentdeckung, und für Aldanow und dessen opulenten Zeitroman könnte es kaum einen besseren Zeitpunkt geben.
Es ist Mitte der Dreißigerjahre, das barbarische 20. Jahrhundert strebt zügig seinem Höhepunkt entgegen. Hitler regiert in Deutschland, Mussolini in Italien, in Spanien kämpfen Francos Faschisten gegen die Republik. Stalin wütet in der Sowjetunion, wo die Revolution inzwischen mit Heißhunger die eigenen Kinder frisst – es ist „Der Anfang vom Ende“, so der Titel von Aldanows Roman. Der Terror hat inzwischen die innersten Zirkel der Bolschewiki erfasst. Auch jene drei sehr unterschiedlichen Repräsentanten Sowjetrusslands, denen Aldanow seine besondere Aufmerksamkeit schenkt, spüren den unberechenbaren Apparat in ihrem Nacken: Da ist der pragmatische, bourgeoisen Freuden nicht abgeneigte Botschafter Kangarow; da ist General Tamarin, der noch dem Zar die Treue geschworen hatte und nun der Roten Armee dient; und der geheimnisumwitterte Agent Wislicenus, der einst mit Lenin befreundet war und sich als Revolutionär der ersten Stunde bezeichnen darf – sie sitzen alle im selben Zug von Moskau nach Berlin.
Die Angst fährt auf dieser Reise mit, Selbstzweifel und die beunruhigenden Nachrichten aus der Hauptstadt mehren sich. Bei den Gesprächen muss jedes Wort auf die Goldwaage gelegt werden; eine latente Paranoia ist längst der Gewissheit unmittelbarer Gefahr gewichen. Zugleich drehen sich ihre Gedanken um die Aufgaben, die auf sie warten – als Werbetreibender des Klassenkampfs, als Spion, als Militärexperte. Die drei sind eigentlich zu klug für die Spiele, die sie zu spielen haben; aber natürlich sind sie in der misslichen Lage, dem Regime nichts entgegensetzen zu können, außer ihrer Desillusionierung und bitteren Empfindung.
Mit an Bord ist auch die linientreue Sekretärin Nadja, die man sich ein bisschen wie Greta Garbo in Ernst Lubitschs „Ninotschka“ vorstellen darf – die altgedienten Herren haben alle ein Auge auf sie geworfen. Nadja scheint, als Vertreterin einer jungen, unsentimentalen Generation, im Laufe der Zeit immer genauer zu erspüren, wie sie sich um der Karriere willen an- und politisch aufzustellen hat. Zudem verfolgt sie literarische Pläne – auch auf diesem Feld weiß sie, wohin die Reise geht und was die Zensoren zu lesen wünschen. Ihr jedenfalls gehört die Zukunft.
Kangarow, Tamarin, Wislicenus hingegen sind längst Genossen auf Abruf, Bauernopfer in einer Partie, deren Züge Kader ausführen, die selbst nur einen falschen Halbsatz weit vom Gulag entfernt sind. Mark Aldanow schildert diese schillernd-bedrohliche Szenerie aus Verdacht und Verrat scharfsichtig, detailgenau, satirisch. Schon auf den ersten Seiten hat man das Gefühl, zugleich in einem russischen und einem französischen Roman des 19. Jahrhunderts gelandet zu sein, irgendwo zwischen Dostojewski und Balzac.
Aldanow blickt bei seinen Gesellschaftsszenen dem Vorbild Tolstoi über die Schulter: Sein Ton ist ironisch, teils sarkastisch, teils melancholisch, von einer bemerkenswerten Eleganz, die sich in Andreas Weihes deutscher Übertragung wunderbar liest. Fulminant sind die von psychologischen Zerreißproben und philosophischen Überlegungen getragenen inneren Monologe, die spitzen Gedankensplitter, die Aldanow seinen Figuren in Zwiegesprächen eingibt. Wie er die einzelnen Stränge verschränkt und zwischen verschiedenen Perspektiven hin- und herspringt, hat etwas Meisterliches. Zwischen zeitpolitischem und sozialpsychologischem, Künstler- und Gerichtsroman bewegt sich „Der Anfang vom Ende“, und hat trotz seiner dezidiert antibolschewistischen Stoßrichtung nichts von einem Pamphlet.
Zum ersten Mal, schreibt Andreas Weihe in seinem Nachwort, sei in der erzählenden Prosa des 20. Jahrhunderts die geistige Verwandtschaft von Faschismus und Kommunismus formuliert worden, noch vor Arthur Koestlers „Sonnenfinsternis“. Die Verbrechen Stalins und die Ohnmacht demokratisch verfasster Länder sind Gegenstand der im Roman erörterten Fragen. Und der Schriftsteller Vermandois, der sich den Kommunisten nahe fühlt, aber doch viel zu sehr Freigeist ist, verkörpert am deutlichsten die Haltung, die dem Buch zugrunde liegt und wohl auch seinem Verfasser am nächsten kam – die des pessimistischen Humanisten, des „skeptischen Betrachters“, wie Walter Benjamin Aldanow einmal charakterisierte. Leider ende das Seminar, in dem die Volksherrschaft gelehrt werde, in der Regel vorzeitig, sagt der sich zynisch gebende, eigentlich aber wehmütige Vermandois. „Leute mit kleinen Oberlippenbärtchen und mit großen Schnurrbärten annullieren den Kursus, bevor das Volk zu herrschen gelernt hat. Übrigens gehören die Leute mit den Bärten, was ihre moralischen und manchmal auch ihre geistigen Eigenschaften betrifft, zum Bodensatz der Gesellschaft, doch ihre Herkunft könnte demokratischer nicht sein: Sie stammen alle aus dem Volk. Hitler ein Anstreicher, Mussolini der Sohn eines Schmieds, Stalin der Sohn eines Schuhmachers.“
Solche Passagen und einige andere, die den Terror in der Sowjetunion ins Bewusstsein bringen, waren auch der Anlass für eine Kampagne, der sich Aldanow in den USA ausgesetzt sah. Sein Roman hatte für Aufsehen gesorgt und eine hohe Auflage erreicht, nicht zuletzt, weil er vom „Book-of-the-Month“-Club ausgezeichnet worden war, seinerzeit ein wichtiges Verkaufsargument. Dagegen regte sich Protest. Den ersten Angriff fuhr der Daily Worker, die Zeitung der kommunistischen Partei in den USA. „The Fifth Seal“ sei auf bösartige Weise antisowjetisch, wurde da konzediert.
Weitere Interessengruppen und Parteigänger schlossen sich an, die meisten hatten den Roman vermutlich noch nicht einmal durchgeblättert. Auch gemäßigtere Linke fanden, dass das Buch im Krieg gegen Nazi-Deutschland, in dem die USA und die Sowjetunion immerhin Verbündete waren, nicht hilfreich sei. Hilfreich vielleicht nicht, aber hellsichtig war es: „Der Anfang vom Ende“ benennt mit großer Klarheit die Antriebe der Kriegsparteien, den totalitären Charakter nicht nur Nazi-Deutschlands, sondern auch der UdSSR.
Die Parallelen zur Situation im Russland der Gegenwart sind dabei kaum zu übersehen; sie machen die Lektüre doppelt aufregend. „Aber das Wichtigste, was Aldanows Buch heute so aktuell macht“, schreibt Sergej Lebedew in seinem Vorwort, „ist natürlich dieses Gefühl der absoluten moralischen Katastrophe, die über Russland hereingebrochen ist, das Gefühl des ‚Anfangs vom Ende‘.“ Bleibt zu hoffen, dass das Ende der postsowjetischen Großmachtsträume im Kreml nicht mehr allzu lange auf sich warten lässt. Und irgendwann eine für den Neuanfang notwendige Entputinisierung stattfinden kann.
Die Parallelen zur Situation
im Russland der Gegenwart
sind kaum zu übersehen
Mark Aldanov schrieb als erster
Prosa über die geistige Verwandtschaft von Kommunismus und Faschiusmus. Foto: Alamy
terror im Namen des Klassenkampfs: Bei den „Säuberungen“ ließ Stalin in den Dreißigern Gegner und Oppositionelle verurteilen. Die Gesamtzahl der Todesopfer ist unbekannt. Schätzungen gehen in die Millionen.
Foto: Imago
Mark Aldanow:
Der Anfang vom Ende. Roman. Aus dem
Russischen von Andreas Weihe. Mit einem Vorwort von Sergej Lebedew und einem Nachwort von
Andreas Weihe. Rowohlt Verlag, Hamburg 2023.
684 Seiten, 38 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
und Verrat
Mark Aldanow war 13 Mal für den Nobelpreis
nominiert. Nun erscheint sein Meisterwerk
„Der Anfang vom Ende“ erstmals auf
Deutsch. Ein literarisches Ereignis
VON ULRICH RÜDENAUER
Kurz vor seinem Tod soll Mark Aldanow sein Schicksal als Autor nüchtern vorausgesehen haben: „Drei Wochen nach meiner Beerdigung“, prophezeite er, „wird mein literarisches Werk vollkommen vergessen sein.“ Ganz falsch lag der 1957 in Nizza gestorbene Romancier damit nicht. Der Türsteher des literarischen Pantheons ist eine wankelmütige Gestalt.
1919 war der damals 33-jährige Mark Aldanow – ein Pseudonym für Mordhai-Markus Israeliwitsch Landau – wie viele seiner russischen Landsleute vor dem Bolschewismus geflohen. Er stammte aus einer österreich-jüdischen, in Kiew beheimateten Industriellenfamilie und war vielfach begabt: Studiert hatte er sowohl Jura als auch Naturwissenschaften; er arbeitete als Chemiker, veröffentlichte auch auf diesem Gebiet, schrieb allerdings ebenso noch vor seinem 30. Geburtstag literaturhistorische Aufsätze und Bücher.
Natürlich sprach er die wichtigsten europäischen Sprachen fließend und begann nach dem Großen Krieg in der Pariser und zeitweilig in der Berliner Emigration seine literarischen Ambitionen auszuleben, als Herausgeber von Exil-Zeitschriften und Autor. Am Ende seines Lebens konnte er auf mehr als ein Dutzend Romane, meist historisch-philosophische Werke, zudem Erzählungen und Essays zurückblicken.
Zu seinen Freunden zählte er Vladimir Nabokov und Iwan Bunin. Letzterer schlug ihn unermüdlich für den Literaturnobelpreis vor – schließlich brachte es Aldanow auf 13 Nominierungen. Ob die Akademie auch seinen 1938 geschriebenen, zuerst im amerikanischen Exil unter dem Titel „The Fifth Seal“ 1943 komplett erschienenen Roman wahrgenommen hatte, der nun 80 Jahre nach seiner Veröffentlichung in den USA und dreißig Jahre nach dem Erscheinen in Russland in einer glänzenden Übersetzung von Andreas Weihe erstmals auch auf Deutsch erscheint? Im Christentum gibt es die Wiederauferstehung, in der Literatur heißt sie einfach Wiederentdeckung, und für Aldanow und dessen opulenten Zeitroman könnte es kaum einen besseren Zeitpunkt geben.
Es ist Mitte der Dreißigerjahre, das barbarische 20. Jahrhundert strebt zügig seinem Höhepunkt entgegen. Hitler regiert in Deutschland, Mussolini in Italien, in Spanien kämpfen Francos Faschisten gegen die Republik. Stalin wütet in der Sowjetunion, wo die Revolution inzwischen mit Heißhunger die eigenen Kinder frisst – es ist „Der Anfang vom Ende“, so der Titel von Aldanows Roman. Der Terror hat inzwischen die innersten Zirkel der Bolschewiki erfasst. Auch jene drei sehr unterschiedlichen Repräsentanten Sowjetrusslands, denen Aldanow seine besondere Aufmerksamkeit schenkt, spüren den unberechenbaren Apparat in ihrem Nacken: Da ist der pragmatische, bourgeoisen Freuden nicht abgeneigte Botschafter Kangarow; da ist General Tamarin, der noch dem Zar die Treue geschworen hatte und nun der Roten Armee dient; und der geheimnisumwitterte Agent Wislicenus, der einst mit Lenin befreundet war und sich als Revolutionär der ersten Stunde bezeichnen darf – sie sitzen alle im selben Zug von Moskau nach Berlin.
Die Angst fährt auf dieser Reise mit, Selbstzweifel und die beunruhigenden Nachrichten aus der Hauptstadt mehren sich. Bei den Gesprächen muss jedes Wort auf die Goldwaage gelegt werden; eine latente Paranoia ist längst der Gewissheit unmittelbarer Gefahr gewichen. Zugleich drehen sich ihre Gedanken um die Aufgaben, die auf sie warten – als Werbetreibender des Klassenkampfs, als Spion, als Militärexperte. Die drei sind eigentlich zu klug für die Spiele, die sie zu spielen haben; aber natürlich sind sie in der misslichen Lage, dem Regime nichts entgegensetzen zu können, außer ihrer Desillusionierung und bitteren Empfindung.
Mit an Bord ist auch die linientreue Sekretärin Nadja, die man sich ein bisschen wie Greta Garbo in Ernst Lubitschs „Ninotschka“ vorstellen darf – die altgedienten Herren haben alle ein Auge auf sie geworfen. Nadja scheint, als Vertreterin einer jungen, unsentimentalen Generation, im Laufe der Zeit immer genauer zu erspüren, wie sie sich um der Karriere willen an- und politisch aufzustellen hat. Zudem verfolgt sie literarische Pläne – auch auf diesem Feld weiß sie, wohin die Reise geht und was die Zensoren zu lesen wünschen. Ihr jedenfalls gehört die Zukunft.
Kangarow, Tamarin, Wislicenus hingegen sind längst Genossen auf Abruf, Bauernopfer in einer Partie, deren Züge Kader ausführen, die selbst nur einen falschen Halbsatz weit vom Gulag entfernt sind. Mark Aldanow schildert diese schillernd-bedrohliche Szenerie aus Verdacht und Verrat scharfsichtig, detailgenau, satirisch. Schon auf den ersten Seiten hat man das Gefühl, zugleich in einem russischen und einem französischen Roman des 19. Jahrhunderts gelandet zu sein, irgendwo zwischen Dostojewski und Balzac.
Aldanow blickt bei seinen Gesellschaftsszenen dem Vorbild Tolstoi über die Schulter: Sein Ton ist ironisch, teils sarkastisch, teils melancholisch, von einer bemerkenswerten Eleganz, die sich in Andreas Weihes deutscher Übertragung wunderbar liest. Fulminant sind die von psychologischen Zerreißproben und philosophischen Überlegungen getragenen inneren Monologe, die spitzen Gedankensplitter, die Aldanow seinen Figuren in Zwiegesprächen eingibt. Wie er die einzelnen Stränge verschränkt und zwischen verschiedenen Perspektiven hin- und herspringt, hat etwas Meisterliches. Zwischen zeitpolitischem und sozialpsychologischem, Künstler- und Gerichtsroman bewegt sich „Der Anfang vom Ende“, und hat trotz seiner dezidiert antibolschewistischen Stoßrichtung nichts von einem Pamphlet.
Zum ersten Mal, schreibt Andreas Weihe in seinem Nachwort, sei in der erzählenden Prosa des 20. Jahrhunderts die geistige Verwandtschaft von Faschismus und Kommunismus formuliert worden, noch vor Arthur Koestlers „Sonnenfinsternis“. Die Verbrechen Stalins und die Ohnmacht demokratisch verfasster Länder sind Gegenstand der im Roman erörterten Fragen. Und der Schriftsteller Vermandois, der sich den Kommunisten nahe fühlt, aber doch viel zu sehr Freigeist ist, verkörpert am deutlichsten die Haltung, die dem Buch zugrunde liegt und wohl auch seinem Verfasser am nächsten kam – die des pessimistischen Humanisten, des „skeptischen Betrachters“, wie Walter Benjamin Aldanow einmal charakterisierte. Leider ende das Seminar, in dem die Volksherrschaft gelehrt werde, in der Regel vorzeitig, sagt der sich zynisch gebende, eigentlich aber wehmütige Vermandois. „Leute mit kleinen Oberlippenbärtchen und mit großen Schnurrbärten annullieren den Kursus, bevor das Volk zu herrschen gelernt hat. Übrigens gehören die Leute mit den Bärten, was ihre moralischen und manchmal auch ihre geistigen Eigenschaften betrifft, zum Bodensatz der Gesellschaft, doch ihre Herkunft könnte demokratischer nicht sein: Sie stammen alle aus dem Volk. Hitler ein Anstreicher, Mussolini der Sohn eines Schmieds, Stalin der Sohn eines Schuhmachers.“
Solche Passagen und einige andere, die den Terror in der Sowjetunion ins Bewusstsein bringen, waren auch der Anlass für eine Kampagne, der sich Aldanow in den USA ausgesetzt sah. Sein Roman hatte für Aufsehen gesorgt und eine hohe Auflage erreicht, nicht zuletzt, weil er vom „Book-of-the-Month“-Club ausgezeichnet worden war, seinerzeit ein wichtiges Verkaufsargument. Dagegen regte sich Protest. Den ersten Angriff fuhr der Daily Worker, die Zeitung der kommunistischen Partei in den USA. „The Fifth Seal“ sei auf bösartige Weise antisowjetisch, wurde da konzediert.
Weitere Interessengruppen und Parteigänger schlossen sich an, die meisten hatten den Roman vermutlich noch nicht einmal durchgeblättert. Auch gemäßigtere Linke fanden, dass das Buch im Krieg gegen Nazi-Deutschland, in dem die USA und die Sowjetunion immerhin Verbündete waren, nicht hilfreich sei. Hilfreich vielleicht nicht, aber hellsichtig war es: „Der Anfang vom Ende“ benennt mit großer Klarheit die Antriebe der Kriegsparteien, den totalitären Charakter nicht nur Nazi-Deutschlands, sondern auch der UdSSR.
Die Parallelen zur Situation im Russland der Gegenwart sind dabei kaum zu übersehen; sie machen die Lektüre doppelt aufregend. „Aber das Wichtigste, was Aldanows Buch heute so aktuell macht“, schreibt Sergej Lebedew in seinem Vorwort, „ist natürlich dieses Gefühl der absoluten moralischen Katastrophe, die über Russland hereingebrochen ist, das Gefühl des ‚Anfangs vom Ende‘.“ Bleibt zu hoffen, dass das Ende der postsowjetischen Großmachtsträume im Kreml nicht mehr allzu lange auf sich warten lässt. Und irgendwann eine für den Neuanfang notwendige Entputinisierung stattfinden kann.
Die Parallelen zur Situation
im Russland der Gegenwart
sind kaum zu übersehen
Mark Aldanov schrieb als erster
Prosa über die geistige Verwandtschaft von Kommunismus und Faschiusmus. Foto: Alamy
terror im Namen des Klassenkampfs: Bei den „Säuberungen“ ließ Stalin in den Dreißigern Gegner und Oppositionelle verurteilen. Die Gesamtzahl der Todesopfer ist unbekannt. Schätzungen gehen in die Millionen.
Foto: Imago
Mark Aldanow:
Der Anfang vom Ende. Roman. Aus dem
Russischen von Andreas Weihe. Mit einem Vorwort von Sergej Lebedew und einem Nachwort von
Andreas Weihe. Rowohlt Verlag, Hamburg 2023.
684 Seiten, 38 Euro.
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