Eine fesselnde literarische Studie über Nietzsches letzte und kühnste Experimente mit Mythos, Religion und ErzählungWenige Monate vor seinem Zusammenbruch 1888/89 beginnt Friedrich Nietzsche die Geschichte Jesu von Nazareth auf verstörende Weise neu zu erzählen - ausgerechnet unter der Überschrift »Der Antichrist«. Gleich darauf entwirft er seine Selbstdarstellung »Ecce homo« in enger Auseinandersetzung mit diesem Bild Jesu. Und in seinen letzten Briefen tritt er schließlich selbst in diese Erlöserrolle ein. Der Dichter-Philosoph, der einst den »Tod Gottes« proklamiert hatte, verkündet nun triumphierend: »Gott ist auf der Erde«. Und er unterschreibt diesen Satz als »Der Gekreuzigte«.Die Wandlungen, die sich zwischen diesen Texten vollzogen haben, sind immer wieder als Symptome des ausbrechenden Wahnsinns verstanden worden. Detering analysiert Nietzsches letzte Texte jenseits der alten Streitigkeiten um Philosophie und Krankheit: als Teile einer sich vor den Augen der Leser entwickelnden großen Erzählung, als Arbeit am Mythos, die ihrer eigenen literarischen Logik folgt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.08.2010Für den Gott sprach doch noch etwas mehr als die Grammatik
Klarheit im Zusammenbruch: Heinrich Deterings beeindruckende Lektüre von Friedrich Nietzsches letzten Texten und Briefen
Anfang Januar 1889 versendet Friedrich Nietzsche aus Turin jene kurzen, meist nur aus wenigen Zeilen bestehenden Briefe, die später als "Wahnsinnszettel" in die Literatur eingingen. Anrührend euphorische Botschaften vor dem Hintergrund des kurz zuvor eingetretenen unwiderruflichen Zusammenbruchs und letzte Schritte auf dem Weg, Gedankenmotive in der Abbreviatur von bestimmten Figuren und Namen aufleuchten zu lassen. Eine Adressatin, Cosima Wagner, wird zu Ariadne, eine andere zu Kundry, der Schreibende selbst aber zu Dionysos genauso wie zum Gekreuzigten. Als ob es den Gegensatz aufzuheben gelte, der am Schluss des gerade verfassten "Ecce Homo" zu stehen kam: "Hat man mich verstanden? - Dionysos gegen den Gekreuzigten . . ."
Aber natürlich stellt sich die Frage, ob diese letzten Botschaften vor dem Verdämmern nur noch erratische Konstellationen dieser bedeutungsgeladenen Namen vor Augen führen, die sich zu keiner stimmigen Interpretation mehr fügen lassen. Oder ob sie nicht vielmehr, in äußerster Verknappung, die Fortführung eines Spiels mit Motiven und Erzählfiguren sind, das sich bereits in den letzten Schriften vor dem Zusammenbruch verfolgen lässt. Zeugnis nicht so sehr der fraglos einsetzenden Zerrüttung ihres Autors, sondern vielmehr der Beharrungskraft zentraler Motive bis in den Wahn hinein.
Es liegt auf der Hand, dass die erste Option, die die Wahnsinnszettel als pathogenes Zerfallsprodukt ansieht, keinen anspruchsvollen Interpreten Nietzsches anziehen kann. Schließlich läuft sie darauf hinaus, hermeneutisch das Handtuch zu werfen. Aber es kommt andererseits eben sehr darauf an, wie dabei verfahren wird, diese letzten Botschaften in die Fluchtlinie der späten Texte zu stellen - und einen hellhörigeren und umsichtigeren Interpreten des späten Nietzsche als Heinrich Detering, der bei aller Kenntnis der aufgelaufenen Literatur doch ohne jede akademische Angestrengtheit und schnörkellos bündig zu schreiben weiß, wird man so leicht nicht finden.
Es sind vor allem die im Jahr vor dem Zusammenbruch entstandenen Texte, deren Veröffentlichung Nietzsche noch plante, aber nicht mehr auf den Weg bringen konnte, die der Göttinger Literaturwissenschaftler in den Blick nimmt: "Der Antichrist", "Ecce Homo" und die "Dionysos-Dithyramben". An ihnen gilt es für ihn den Weg nachzuzeichnen, der von der Todeserklärung Gottes und den harten Urteilen über den Religionsstifter Jesus von Nazareth zu den ganz anders lautenden Formeln der Wahnsinnszettel führt: zur Welt, die verklärt ist, weil Gott auf der Erde ist.
Der entscheidende Übergang findet sich im "Antichrist", also dort, wo man eigentlich erwarten würde, dass Nietzsche sein Urteil aus der "Genealogie der Moral" noch einmal zuspitzt: Jesus als der Schwächling, der sein Ressentiment umbiegt zu einer gleichmacherischen Liebesbotschaft mit Aussicht auf Wiedergutmachung im dazu erfundenen Himmelreich. Aber es geschieht ja dann ganz anderes. Die angekündigte Erhellung des "psychologischen Typus des Galiläers" läuft nicht auf die Abrechnung mit dem falschen Trost einer zukünftigen Erfüllung hinaus, sondern ganz im Gegenteil: Jesus wird zum Statthalter einer bedingungslos gelebten und angenommenen Gegenwart.
Das verkündete Himmelreich steht dem als falsche Teleologie nicht mehr entgegen, denn nun wird es von Nietzsche als Zustand des Herzens verstanden, der ganz im Jetzt aufgeht - "es ist überall da, es ist nirgends da . . .". Und was überhaupt "da" ist, darüber entscheidet der "große Symbolist" Jesus, den man nur richtig verstehen muss: weil jedes seiner Gleichnisse genau von diesem Aufgehen in der Gegenwart spricht, das keinen Horizont der Erwartung und Hoffnung braucht.
Da ist aus dem "Instinkt-Hass gegen jede Realität" in einer faszinierenden und doch nicht ganz aus der Zeit gefallenen Wendung die kindlich-schöpferische Bejahung des Lebens geworden, die durch das Kreuzigungsgeschehen nicht etwa widerrufen, sondern noch einmal beglaubigt wird. Die Jünger freilich und die Gemeinde haben diese Figur und ihre Botschaft auf geschichtsmächtig falsche Weise verstanden. Auf sie gehen nun in der Perspektive des "Antichrist" die zuvor Jesus angelasteten Züge der Schwachheit und Realitätsflucht über - und gemeinsam mit dem Theologen Paulus, der aus dem Kreuz das heilsgeschichtliche Sühnegeschehen macht, werden sie zur eigentlichen fatalen Gründungsinstanz des Christentums.
Eine eigensinnige Interpretation, aber eine auch vor allem, die Jesus an jene Figur heranrückt, die bei Nietzsche bereits für das Ja-Sagen zur Gesamtheit des Lebens stand. An einen Dionysos, der bei dieser Annäherung freilich selbst eine Wandlung durchmacht und sich vom grausam-schönen Gott der tragischen Mysterien zu einem Leid überwindenden Allbejaher sänftigt.
Womit die Bühne bereitet ist für die letzten und im Wahn endende Rollenspiele. Nun freilich wird nicht mehr ein "Antichrist" mit Zügen des "wirklichen" Gekreuzigten als vermittelnde Instanz aufgeboten. Mit dem "Ecce Homo" tritt der Autor Nietzsche vielmehr selbst in die Rolle des Erlösers ein, wird zur jesuanischen Figur in seinem Sinn, die ihre neue frohe Botschaft als Offenbarung verkündet - mit der Sprache jener religiös-kirchlichen Tradition, die dadurch überboten und endgültig abgelöst werden soll.
Die Grundzüge dieser Form der konterkarierenden Selbsterhöhung mögen nicht so schwer zu sehen sein. Aber alles kommt da auf die Details an, auf die Anklänge, Tonlagen und angeeigneten Bildfelder. Und hier kann Detering vorführen, was er mit der "präzisen Choreographie" der ineinander verschränkten Motive und mehrfach codierten Namen bis hin zu den letzten pseudonymen Briefen meint. Wenn also etwa die Freundin Malwida von Meysenbug zu Kundry wird, die den Erlöser verlachte, der selbst im "Ecce Homo" im Bild des verlachten Autors auftaucht, der "das Schicksal der Menschheit auf der Schulter" trägt. Und weil die Passionsgeschichte selbst zur Verklärungsgeschichte geworden ist, sind "der Gekreuzigte" als Antitypus des biblischen Jesus und der "Dionysos" nicht mehr voneinander abzutrennen.
Die Rezeptionsgeschichte Nietzsches zog daraus ihr religiös aufgeladenes Pathos. Dass aber die mit ihr etablierte kunstreligiöse Figur des Übermenschen - mal mehr mit Kreuz, mal eher dionysisch - weit hinter den ungleich subtiler austarierten Texten zurückbliebt, die sie verarbeitete, um diesen Nachweis ist es Detering zu tun. So überzeugend ist der späte Nietzsche selten vor seinen allzu entschiedenen Bewunderern wie vor seinen Verächtern in Schutz genommen worden.
HELMUT MAYER
Heinrich Detering: "Der Antichrist und der Gekreuzigte". Friedrich Nietzsches letzte Texte. Wallstein Verlag, Göttingen 2010. 230 S., Abb., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Klarheit im Zusammenbruch: Heinrich Deterings beeindruckende Lektüre von Friedrich Nietzsches letzten Texten und Briefen
Anfang Januar 1889 versendet Friedrich Nietzsche aus Turin jene kurzen, meist nur aus wenigen Zeilen bestehenden Briefe, die später als "Wahnsinnszettel" in die Literatur eingingen. Anrührend euphorische Botschaften vor dem Hintergrund des kurz zuvor eingetretenen unwiderruflichen Zusammenbruchs und letzte Schritte auf dem Weg, Gedankenmotive in der Abbreviatur von bestimmten Figuren und Namen aufleuchten zu lassen. Eine Adressatin, Cosima Wagner, wird zu Ariadne, eine andere zu Kundry, der Schreibende selbst aber zu Dionysos genauso wie zum Gekreuzigten. Als ob es den Gegensatz aufzuheben gelte, der am Schluss des gerade verfassten "Ecce Homo" zu stehen kam: "Hat man mich verstanden? - Dionysos gegen den Gekreuzigten . . ."
Aber natürlich stellt sich die Frage, ob diese letzten Botschaften vor dem Verdämmern nur noch erratische Konstellationen dieser bedeutungsgeladenen Namen vor Augen führen, die sich zu keiner stimmigen Interpretation mehr fügen lassen. Oder ob sie nicht vielmehr, in äußerster Verknappung, die Fortführung eines Spiels mit Motiven und Erzählfiguren sind, das sich bereits in den letzten Schriften vor dem Zusammenbruch verfolgen lässt. Zeugnis nicht so sehr der fraglos einsetzenden Zerrüttung ihres Autors, sondern vielmehr der Beharrungskraft zentraler Motive bis in den Wahn hinein.
Es liegt auf der Hand, dass die erste Option, die die Wahnsinnszettel als pathogenes Zerfallsprodukt ansieht, keinen anspruchsvollen Interpreten Nietzsches anziehen kann. Schließlich läuft sie darauf hinaus, hermeneutisch das Handtuch zu werfen. Aber es kommt andererseits eben sehr darauf an, wie dabei verfahren wird, diese letzten Botschaften in die Fluchtlinie der späten Texte zu stellen - und einen hellhörigeren und umsichtigeren Interpreten des späten Nietzsche als Heinrich Detering, der bei aller Kenntnis der aufgelaufenen Literatur doch ohne jede akademische Angestrengtheit und schnörkellos bündig zu schreiben weiß, wird man so leicht nicht finden.
Es sind vor allem die im Jahr vor dem Zusammenbruch entstandenen Texte, deren Veröffentlichung Nietzsche noch plante, aber nicht mehr auf den Weg bringen konnte, die der Göttinger Literaturwissenschaftler in den Blick nimmt: "Der Antichrist", "Ecce Homo" und die "Dionysos-Dithyramben". An ihnen gilt es für ihn den Weg nachzuzeichnen, der von der Todeserklärung Gottes und den harten Urteilen über den Religionsstifter Jesus von Nazareth zu den ganz anders lautenden Formeln der Wahnsinnszettel führt: zur Welt, die verklärt ist, weil Gott auf der Erde ist.
Der entscheidende Übergang findet sich im "Antichrist", also dort, wo man eigentlich erwarten würde, dass Nietzsche sein Urteil aus der "Genealogie der Moral" noch einmal zuspitzt: Jesus als der Schwächling, der sein Ressentiment umbiegt zu einer gleichmacherischen Liebesbotschaft mit Aussicht auf Wiedergutmachung im dazu erfundenen Himmelreich. Aber es geschieht ja dann ganz anderes. Die angekündigte Erhellung des "psychologischen Typus des Galiläers" läuft nicht auf die Abrechnung mit dem falschen Trost einer zukünftigen Erfüllung hinaus, sondern ganz im Gegenteil: Jesus wird zum Statthalter einer bedingungslos gelebten und angenommenen Gegenwart.
Das verkündete Himmelreich steht dem als falsche Teleologie nicht mehr entgegen, denn nun wird es von Nietzsche als Zustand des Herzens verstanden, der ganz im Jetzt aufgeht - "es ist überall da, es ist nirgends da . . .". Und was überhaupt "da" ist, darüber entscheidet der "große Symbolist" Jesus, den man nur richtig verstehen muss: weil jedes seiner Gleichnisse genau von diesem Aufgehen in der Gegenwart spricht, das keinen Horizont der Erwartung und Hoffnung braucht.
Da ist aus dem "Instinkt-Hass gegen jede Realität" in einer faszinierenden und doch nicht ganz aus der Zeit gefallenen Wendung die kindlich-schöpferische Bejahung des Lebens geworden, die durch das Kreuzigungsgeschehen nicht etwa widerrufen, sondern noch einmal beglaubigt wird. Die Jünger freilich und die Gemeinde haben diese Figur und ihre Botschaft auf geschichtsmächtig falsche Weise verstanden. Auf sie gehen nun in der Perspektive des "Antichrist" die zuvor Jesus angelasteten Züge der Schwachheit und Realitätsflucht über - und gemeinsam mit dem Theologen Paulus, der aus dem Kreuz das heilsgeschichtliche Sühnegeschehen macht, werden sie zur eigentlichen fatalen Gründungsinstanz des Christentums.
Eine eigensinnige Interpretation, aber eine auch vor allem, die Jesus an jene Figur heranrückt, die bei Nietzsche bereits für das Ja-Sagen zur Gesamtheit des Lebens stand. An einen Dionysos, der bei dieser Annäherung freilich selbst eine Wandlung durchmacht und sich vom grausam-schönen Gott der tragischen Mysterien zu einem Leid überwindenden Allbejaher sänftigt.
Womit die Bühne bereitet ist für die letzten und im Wahn endende Rollenspiele. Nun freilich wird nicht mehr ein "Antichrist" mit Zügen des "wirklichen" Gekreuzigten als vermittelnde Instanz aufgeboten. Mit dem "Ecce Homo" tritt der Autor Nietzsche vielmehr selbst in die Rolle des Erlösers ein, wird zur jesuanischen Figur in seinem Sinn, die ihre neue frohe Botschaft als Offenbarung verkündet - mit der Sprache jener religiös-kirchlichen Tradition, die dadurch überboten und endgültig abgelöst werden soll.
Die Grundzüge dieser Form der konterkarierenden Selbsterhöhung mögen nicht so schwer zu sehen sein. Aber alles kommt da auf die Details an, auf die Anklänge, Tonlagen und angeeigneten Bildfelder. Und hier kann Detering vorführen, was er mit der "präzisen Choreographie" der ineinander verschränkten Motive und mehrfach codierten Namen bis hin zu den letzten pseudonymen Briefen meint. Wenn also etwa die Freundin Malwida von Meysenbug zu Kundry wird, die den Erlöser verlachte, der selbst im "Ecce Homo" im Bild des verlachten Autors auftaucht, der "das Schicksal der Menschheit auf der Schulter" trägt. Und weil die Passionsgeschichte selbst zur Verklärungsgeschichte geworden ist, sind "der Gekreuzigte" als Antitypus des biblischen Jesus und der "Dionysos" nicht mehr voneinander abzutrennen.
Die Rezeptionsgeschichte Nietzsches zog daraus ihr religiös aufgeladenes Pathos. Dass aber die mit ihr etablierte kunstreligiöse Figur des Übermenschen - mal mehr mit Kreuz, mal eher dionysisch - weit hinter den ungleich subtiler austarierten Texten zurückbliebt, die sie verarbeitete, um diesen Nachweis ist es Detering zu tun. So überzeugend ist der späte Nietzsche selten vor seinen allzu entschiedenen Bewunderern wie vor seinen Verächtern in Schutz genommen worden.
HELMUT MAYER
Heinrich Detering: "Der Antichrist und der Gekreuzigte". Friedrich Nietzsches letzte Texte. Wallstein Verlag, Göttingen 2010. 230 S., Abb., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Fasziniert, wenngleich nicht restlos überzeugt zeigt sich Rezensent Ludger Lütkehaus von diesem originellen Versuch der Nietzsche-Deutung. Es geht dabei um eine Relektüre der bislang meist für schon ganz und gar wahnsinnig erachteten Briefe, die Nietzsche in wenigen Tagen rund um seinen Zusammenbruch in Turin schrieb. Heinrich Detering unternimmt es nun, darin Thesen zu rekonstruieren, die sie sehr wohl in den Werkzusammenhang stellen. Und das heißt vor allem: die gleichzeitige Selbst-Identifikation ihres Autors mit "Dionysos" und dem "Gekreuzigten" und "Anti-Christ" nicht als Widerspruch eines Irrsinnigen, sondern im Rahmen einer auch zuvor schon auszumachenden Dialektik zu begreifen. Lütkehaus findet vieles daran subtil und überzeugend entwickelt, beharrt dann andererseits aber doch darauf, dass sich das Wahnsinnige und damit auch Inkommensurable der Briefe nicht wegdiskutieren lasse.
© Perlentaucher Medien GmbH
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