Als Lenas Großvater kurz nach dem Zweiten Weltkrieg das Schiff nach Buenos Aires besteigt, fährt er dem Abenteuer entgegen, auf der Suche nach einer neuen Welt, die ihm nicht so müde und verbraucht erscheint wie das alte, verstörte Europa. Doch ein hartnäckiger Heuschnupfen zwingt ihn schon bald, seinen Traum vom freien Leben als Gaucho zu begraben. Stattdessen begegnet er der Kunst des Tangos und jener der Liebe. - Zwei Jahre später kehrt er dennoch wieder zurück in sein Heimatland und an die Seite von Amelie, die unbeirrt auf ihn gewartet hat. Die Erinnerung an seine Zeit in der Fremde, die ihn zum "Argentinier" gemacht hat, hütet der Schweizer wie einen Schatz - und erst nach seinem Tod lüftet sich das Geheimnis.
Unaufgeregt und mit zarter Ironie zeichnet Klaus Merz aus der Perspektive der Enkelin das Leben eines Mannes nach, das stets einem wunderbaren Eigen-Sinn verpflichtet war.
Unaufgeregt und mit zarter Ironie zeichnet Klaus Merz aus der Perspektive der Enkelin das Leben eines Mannes nach, das stets einem wunderbaren Eigen-Sinn verpflichtet war.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.06.2009Lassos zu Wäscheleinen
Allergisch gegen Pampagras: Eine sinnbildliche Geschichte von jugendlichem Aufbruch, Leidenschaft und Entsagung erzählt die Novelle des Schweizers Klaus Merz.
Das Heimweh der Schweizer nach ihren Bergen, Seen und Almen ist legendär. Auch Lenas Großvater, der stille Held dieser Novelle von Klaus Merz, zog zwar einst als junger Mann in die Welt, um auf den endlosen Viehweiden Argentiniens sein Glück zu suchen, aber er kehrte bereits zwei Jahre später - es war kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs - in die heimatliche Schweiz zurück. Ursache war freilich nicht das Heimweh, auch nicht die treue Amelie, die unverdrossen auf ihren Liebsten gewartet hatte, sondern ein ganz profaner Heuschnupfen: Der junge Eidgenosse vertrug das Pampagras nicht, und so wurde er in der Fremde nicht zu einem Gaucho, wie er es sich erträumt hatte, sondern "lediglich zu einem halbwegs akzeptablen Tangotänzer".
Das freilich war untertrieben, denn schließlich hatte der eifrige junge Mann seine Tanzkünste in Buenos Aires bis zur Turnierreife ausgebildet. Davon aber erfahren seine Landsleute, für die der Heimkehrer zeit seines Lebens der "Argentinier" bleiben wird, herzlich wenig - auf Heimatboden verweigert er sich der angelernten Kunst: "Ich habe ausgetanzt." Einzig beim jährlichen Schulfest führt der Tangoexperte, inzwischen Lehrer geworden, ausgelassen eine Polonaise an, die über den Schulhof bis zur Friedhofsmauer führt. Die eigenwillige Choreographie des Festzuges soll in der Imagination des Anführenden offenbar die geographische Lage Argentiniens widerspiegeln, doch dergleichen Subtilität muss den Schülern natürlich entgehen.
Subtile Anspielungen und Andeutungen aber machen den erzählerischen Reiz dieser kleinen Novelle aus. Der 1945 geborene Klaus Merz hat in seinen Büchern immer wieder sperrige Lebensläufe beschrieben; auch sein bislang größter Erfolg, die Erzählung "Jakob schläft" (1997), schildert komplizierte Familienverhältnisse. Diesmal nun hat sich Merz für eine mehrfache Staffelung der Erzählebenen entschieden, bei der Konjunktiv und indirekte Rede dominieren. Die Enkelin Lena erzählt bei einem Klassentreffen in immer neuen Anläufen von dem Leben ihres kürzlich verstorbenen Großvaters; und ihr Zuhörer, der namenlos bleibende Erzähler des Buches, gibt diese Berichte wiederum in seinen Worten wieder.
Das klingt zunächst nach einer recht trockenen und behäbigen Stilübung, und doch gewinnt die Erzählung durch diesen Kunstgriff eine besondere Leichtigkeit. Denn selbst gewichtige Lebenswahrheiten klingen weniger einschüchternd, wenn sie im Konjunktiv vermittelt werden: "Wir sollten Indien unbedingt vor Augen behalten, wenn wir Amerika eines Tages entdecken wollten, auch diesen Satz habe sie bis heute im Ohr."
In diesem kleinen, nicht einmal sonderlich originellen Aperçu offenbart sich eine humane Weltsicht, die dem Irrtum Raum lässt, aber an die Wendung aller Dinge zum Besseren glaubt. In der Tat erscheint der Großvater, dessen eigentlichen Namen - Johann Zeiter - wir erst auf den letzten Seiten des Buches erfahren, in den Schilderungen seiner Enkelin als weitherziger Humanist, ja geradezu als ein Philosoph im Klassenzimmer. Seinen Schülern jedenfalls versucht er früh die Freuden des Lesens zu vermitteln und setzt gegenüber der Gemeindeverwaltung die Einrichtung einer kleinen Schulbibliothek durch. "Lesend machen wir uns auf einen Weg", lautet seine Begründung, die ebenso als Motto von Klaus Merz gelten kann, der so gern von fremden Lebensläufen erzählt, "bestehen wir Abenteuer, denken uns immer tiefer in andere Lebensmuster hinein und nähern uns zugleich dem eigenen mehr und mehr an."
Angesichts dieses ebenso bündigen wie überzeugenden Plädoyers für das Fiktionale wirkt es fast ein wenig aufdringlich, wenn Lenas Gesprächspartner, über den wir sehr wenig erfahren, zum Kritiker seiner eigenen Gegenwart wird, um vom überlegenen Standpunkt des liberalen Intellektuellen aus unvermittelt moderne Fernseh-Spielshows, Managerseminare oder organisierte Abenteuerreisen zu verurteilen. Glücklicherweise gibt Klaus Merz aber nur selten der Versuchung nach, seine Novelle in ein Kompendium der Zivilisationskritik zu verwandeln, das Merksätze für das Poesiealbum zur bewussten Lebensführung bereitstellt. Davor bewahrt ihn vor allem die sanfte Ironie, mit der er das Leben des "Argentiniers" schildert.
So werden etwa die jugendlichen Heldenträume von einem freien Leben in der südamerikanischen Pampa durch die pragmatische Argumentation gegenüber dem schweizerischen Zoll als die Phantasie entlarvt, die sie immer gewesen sind. Den misstrauischen Grenzwächtern erklärt der junge Heimkehrer nämlich, bei seinem exotischen Lasso, das er von drüben mitgebracht hat, handele es sich um nichts anderes als eine gebrauchte Wäscheleine, und sein imposanter Gaucho-Dolch landet später in Großmutters Besteckschublade. So schnell werden junge Helden zu bürgerlichen Familienvätern.
Doch das Familienleben des Großvaters verlief, wie es die Enkelin andeutet, durchaus nicht immer glücklich. Den frühen Tod seines einzigen Sohnes konnte er zeit seines Lebens nicht verwinden, und die Ehe mit Amelie, die zwei Jahre lang treu auf den Auswanderer gewartet hat, war offenbar weniger von Liebe als vor allem von freundschaftlicher Beständigkeit bestimmt. Dass aber auch der Großvater einmal eine große erotische Leidenschaft erlebt hat, erfahren seine Angehörigen erst nach seinem Tod durch einen Brief aus Argentinien. Die Liebe zur Tänzerin Mercedes nämlich hat den heuschnupfengeplagten Gaucho in Buenos Aires zum Tangokünstler werden lassen, und aus Treue zu ihr, der fernen Geliebten, hatte er später nicht mehr tanzen wollen und war nur noch in seinen Polonaisen erinnerungsschwer über die Pampas gezogen.
So erscheint der Lebenslauf dieses "Argentiniers" in den Erzählungen seiner Enkelin am Ende geradezu sinnbildlich - in der Abfolge von jugendlichem Aufbruch und früher heftiger Leidenschaft, die in Entsagung und gesellschaftliche Verantwortung übergeht und Fluchten aus dem Alltag nur noch im Medium der Literatur erlaubt. Große Welt wird heimgeführt in die kleine. Womöglich aber ist dieser Traum vom stillen bürgerlichen Glück neben dem Bücherregal noch typischer für helvetische Lebensverhältnisse als das legendäre Heimweh der Schweizer nach ihren Bergen.
SABINE DOERING.
Klaus Merz: "Der Argentinier". Novelle. Mit drei Pinselzeichnungen von Heinz Egger. Haymon Verlag, Innsbruck, Wien 2009. 99 S., geb., 14,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Allergisch gegen Pampagras: Eine sinnbildliche Geschichte von jugendlichem Aufbruch, Leidenschaft und Entsagung erzählt die Novelle des Schweizers Klaus Merz.
Das Heimweh der Schweizer nach ihren Bergen, Seen und Almen ist legendär. Auch Lenas Großvater, der stille Held dieser Novelle von Klaus Merz, zog zwar einst als junger Mann in die Welt, um auf den endlosen Viehweiden Argentiniens sein Glück zu suchen, aber er kehrte bereits zwei Jahre später - es war kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs - in die heimatliche Schweiz zurück. Ursache war freilich nicht das Heimweh, auch nicht die treue Amelie, die unverdrossen auf ihren Liebsten gewartet hatte, sondern ein ganz profaner Heuschnupfen: Der junge Eidgenosse vertrug das Pampagras nicht, und so wurde er in der Fremde nicht zu einem Gaucho, wie er es sich erträumt hatte, sondern "lediglich zu einem halbwegs akzeptablen Tangotänzer".
Das freilich war untertrieben, denn schließlich hatte der eifrige junge Mann seine Tanzkünste in Buenos Aires bis zur Turnierreife ausgebildet. Davon aber erfahren seine Landsleute, für die der Heimkehrer zeit seines Lebens der "Argentinier" bleiben wird, herzlich wenig - auf Heimatboden verweigert er sich der angelernten Kunst: "Ich habe ausgetanzt." Einzig beim jährlichen Schulfest führt der Tangoexperte, inzwischen Lehrer geworden, ausgelassen eine Polonaise an, die über den Schulhof bis zur Friedhofsmauer führt. Die eigenwillige Choreographie des Festzuges soll in der Imagination des Anführenden offenbar die geographische Lage Argentiniens widerspiegeln, doch dergleichen Subtilität muss den Schülern natürlich entgehen.
Subtile Anspielungen und Andeutungen aber machen den erzählerischen Reiz dieser kleinen Novelle aus. Der 1945 geborene Klaus Merz hat in seinen Büchern immer wieder sperrige Lebensläufe beschrieben; auch sein bislang größter Erfolg, die Erzählung "Jakob schläft" (1997), schildert komplizierte Familienverhältnisse. Diesmal nun hat sich Merz für eine mehrfache Staffelung der Erzählebenen entschieden, bei der Konjunktiv und indirekte Rede dominieren. Die Enkelin Lena erzählt bei einem Klassentreffen in immer neuen Anläufen von dem Leben ihres kürzlich verstorbenen Großvaters; und ihr Zuhörer, der namenlos bleibende Erzähler des Buches, gibt diese Berichte wiederum in seinen Worten wieder.
Das klingt zunächst nach einer recht trockenen und behäbigen Stilübung, und doch gewinnt die Erzählung durch diesen Kunstgriff eine besondere Leichtigkeit. Denn selbst gewichtige Lebenswahrheiten klingen weniger einschüchternd, wenn sie im Konjunktiv vermittelt werden: "Wir sollten Indien unbedingt vor Augen behalten, wenn wir Amerika eines Tages entdecken wollten, auch diesen Satz habe sie bis heute im Ohr."
In diesem kleinen, nicht einmal sonderlich originellen Aperçu offenbart sich eine humane Weltsicht, die dem Irrtum Raum lässt, aber an die Wendung aller Dinge zum Besseren glaubt. In der Tat erscheint der Großvater, dessen eigentlichen Namen - Johann Zeiter - wir erst auf den letzten Seiten des Buches erfahren, in den Schilderungen seiner Enkelin als weitherziger Humanist, ja geradezu als ein Philosoph im Klassenzimmer. Seinen Schülern jedenfalls versucht er früh die Freuden des Lesens zu vermitteln und setzt gegenüber der Gemeindeverwaltung die Einrichtung einer kleinen Schulbibliothek durch. "Lesend machen wir uns auf einen Weg", lautet seine Begründung, die ebenso als Motto von Klaus Merz gelten kann, der so gern von fremden Lebensläufen erzählt, "bestehen wir Abenteuer, denken uns immer tiefer in andere Lebensmuster hinein und nähern uns zugleich dem eigenen mehr und mehr an."
Angesichts dieses ebenso bündigen wie überzeugenden Plädoyers für das Fiktionale wirkt es fast ein wenig aufdringlich, wenn Lenas Gesprächspartner, über den wir sehr wenig erfahren, zum Kritiker seiner eigenen Gegenwart wird, um vom überlegenen Standpunkt des liberalen Intellektuellen aus unvermittelt moderne Fernseh-Spielshows, Managerseminare oder organisierte Abenteuerreisen zu verurteilen. Glücklicherweise gibt Klaus Merz aber nur selten der Versuchung nach, seine Novelle in ein Kompendium der Zivilisationskritik zu verwandeln, das Merksätze für das Poesiealbum zur bewussten Lebensführung bereitstellt. Davor bewahrt ihn vor allem die sanfte Ironie, mit der er das Leben des "Argentiniers" schildert.
So werden etwa die jugendlichen Heldenträume von einem freien Leben in der südamerikanischen Pampa durch die pragmatische Argumentation gegenüber dem schweizerischen Zoll als die Phantasie entlarvt, die sie immer gewesen sind. Den misstrauischen Grenzwächtern erklärt der junge Heimkehrer nämlich, bei seinem exotischen Lasso, das er von drüben mitgebracht hat, handele es sich um nichts anderes als eine gebrauchte Wäscheleine, und sein imposanter Gaucho-Dolch landet später in Großmutters Besteckschublade. So schnell werden junge Helden zu bürgerlichen Familienvätern.
Doch das Familienleben des Großvaters verlief, wie es die Enkelin andeutet, durchaus nicht immer glücklich. Den frühen Tod seines einzigen Sohnes konnte er zeit seines Lebens nicht verwinden, und die Ehe mit Amelie, die zwei Jahre lang treu auf den Auswanderer gewartet hat, war offenbar weniger von Liebe als vor allem von freundschaftlicher Beständigkeit bestimmt. Dass aber auch der Großvater einmal eine große erotische Leidenschaft erlebt hat, erfahren seine Angehörigen erst nach seinem Tod durch einen Brief aus Argentinien. Die Liebe zur Tänzerin Mercedes nämlich hat den heuschnupfengeplagten Gaucho in Buenos Aires zum Tangokünstler werden lassen, und aus Treue zu ihr, der fernen Geliebten, hatte er später nicht mehr tanzen wollen und war nur noch in seinen Polonaisen erinnerungsschwer über die Pampas gezogen.
So erscheint der Lebenslauf dieses "Argentiniers" in den Erzählungen seiner Enkelin am Ende geradezu sinnbildlich - in der Abfolge von jugendlichem Aufbruch und früher heftiger Leidenschaft, die in Entsagung und gesellschaftliche Verantwortung übergeht und Fluchten aus dem Alltag nur noch im Medium der Literatur erlaubt. Große Welt wird heimgeführt in die kleine. Womöglich aber ist dieser Traum vom stillen bürgerlichen Glück neben dem Bücherregal noch typischer für helvetische Lebensverhältnisse als das legendäre Heimweh der Schweizer nach ihren Bergen.
SABINE DOERING.
Klaus Merz: "Der Argentinier". Novelle. Mit drei Pinselzeichnungen von Heinz Egger. Haymon Verlag, Innsbruck, Wien 2009. 99 S., geb., 14,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Klaus Merz' Novelle "Der Argentinier" hat Katharina Buess ausgesprochen gern gelesen, und manche Passagen weisen in ihren Augen eine derart pointierte und "schlichte Schönheit" auf, dass es schade ist, dass sie nicht länger währen. Die "unerhörte Begebenheit", die zu den Gattungsmerkmalen der Novelle gehört, ist auch in diesem Text zu finden, wichtiger aber sei für die Geschichte die Schilderung des alltäglichen Lebens als das eigentlich Besondere, erklärt die Rezensentin. Zentrale Figur ist der Schweizer Johann Zeiter, der nach Argentinien auswandert, aber bereits nach zwei Jahren aus Heimweh und Sehnsucht nach seiner Geliebten Amelie wieder zurückkehrt und Lehrer wird, lässt uns Buess wissen. Aus Erzählungen und Anekdoten der Enkelin nach seinem Tod erhält der Leser Einblick in das Leben des Großvaters und so rundet sich die Novelle nicht nur zu einer Geschichte über Heim- und Fernweh, zu einer Liebesgeschichte und einer vielschichtigen Biografie, sondern auch zu einer Reflexion über "die Funktion des Erzählens", so die Rezensentin sehr angetan.
© Perlentaucher Medien GmbH
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