Fritz Mauthners monumentale Geschichte des abendländischen Atheismus spannt einen Bogen von der europäischen Antike über Teufelsfurcht und Aufklärung im sogenannten Mittelalter, die Entstehung der Wissenschaften zu Beginn der Neuzeit bis hin zum Materialismus des 19. Jahrhunderts. Geschrieben in den Jahren 1920 bis 1923, ist Mauthners Werk eine fast einzigartige Kulturgeschichte des Abendlandes vom Standpunkt der religiösen Befreiung.Fritz Mauthner (1849-1923) ging insbesondere als radikaler Kritiker der Sprache in die Geistesgeschichte ein. Bereits sein dreibändiges Werk Beiträge zur Kritik der Sprache (1901/1902) bediente sich einer antimetaphysischen Grundhaltung, die in seiner Geschichte des Atheismus noch einmal verschärft wird. Mauthners Ansatz ist dabei die Befreiung vom Gottesbegriff. Neben den rein negierenden Atheisten werden deshalb auch die Lehrer der Vernunft- oder Naturreligion, die Deisten und die Pantheisten, ebenso einige Reformatoren und andere Ketzer dargestellt: kurz, viele, die zur Befreiung vom "Gotteswahn" beigetragen haben und von anderen Geschichten des Atheismus nicht oder zu knapp behandelt werden. Dabei besticht die Detailfülle ebenso wie das weite Panorama, das Mauthner sprachgewaltig und getragen von souveränem Wissen vor dem Leser ausbreitet.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.08.2011Gottlos und heiter
Ein Jahrhundertwerk: Fritz Mauthners „Atheismus“ wurde endlich neu aufgelegt
Für Liebhaber des freien Denkens gibt es eine Frohbotschaft zu vermelden: Fritz Mauthners opus magnum „Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande“, erstmals gedruckt zwischen 1920 und 1923, ist endlich in einer sorgfältig edierten und vollständigen Neuausgabe erhältlich. Wer Mauthners „Atheismus“ noch nie in Händen gehalten hat, der verkaufe – mit oder ohne Lichtenberg – sein zweites Paar Hosen und erstehe diese köstliche unendliche Geschichte des abendländischen Freidenkertums, deren erster Band bei der pelagianischen Ketzerei einsetzt, und die – 1960 Seiten später, nach vielen sorgfältig und köstlich schraffierten Freidenkern, Avantgardisten, Exzentrikern und wagemutigen Anti-Dogmatikern – schließlich im Traum von einer friedfertigen „gottlosen Mystik“ schließt.
Fritz Mauthner, im November 1849 im damals böhmischen Horschitz geboren, war unter den Schriftstellern seiner Zeit ein geradezu „Überbegabter“, der das philosophische Instrument der Sprachkritik wie kaum ein Zweiter zu bedienen wusste. Neben seinen Parodien und seiner dreibändigen „Kritik der Sprache“ ist es aber vor allem das Spätwerk über den Atheismus, das exemplarisch zeigt, was heute fehlt: eine Ideengeschichte des Abweichenden und Kritischen, die nicht mit doxographischer Strenge und sauertöpfischer Beckmesserei einherkommt, sondern mit großartiger Kenntnis, einer brillanten Sprache voll ironischem Tiefsinn und mit der Urteilssicherheit desjenigen, der weiß, dass Denken immer „freies“ Denken bedeutet.
Mauthner hat seine „Geschichte des Atheismus“ in jener kurzen Morgenröte publiziert, als die roaring twenties eine entkrampfende Wirkung sogar in der Geisteswelt entfachten. Dass die Vokabel „Atheismus“ für Mauthner gar nicht jenen schröcklichen Klang hatte, mit dem (nachgerade in der deutschen Religions-) Geschichte alles Denk-Rebellische verfolgt worden ist, muss man nicht betonen. Der Streit um den „einzigen“ und „wahren“ Gott ist immer eine Logomachie, ein Wortaberglaube; freilich einer, der von gewaltigem Blutvergießen begleitet war. Und da es heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, noch durchaus keinen Anlass gibt, die Fragen um das Verhältnis von Religion, Macht und Gewalt auf dem berühmten Misthaufen der Geschichte zu entsorgen, liegt kein bisschen Staub auf Mauthners 3856 Gramm schwerem Jahrhundertwerk. URSULA PIA JAUCH
FRITZ MAUTHNER: Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. Herausgegeben von Ludger Lütkehaus. Alibri Verlag, Aschaffenburg 2011. 4 Bände, 1975 Seiten, 179 Euro.
Hier findet man umfassende
Kenntnis und brillante Sprache
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ein Jahrhundertwerk: Fritz Mauthners „Atheismus“ wurde endlich neu aufgelegt
Für Liebhaber des freien Denkens gibt es eine Frohbotschaft zu vermelden: Fritz Mauthners opus magnum „Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande“, erstmals gedruckt zwischen 1920 und 1923, ist endlich in einer sorgfältig edierten und vollständigen Neuausgabe erhältlich. Wer Mauthners „Atheismus“ noch nie in Händen gehalten hat, der verkaufe – mit oder ohne Lichtenberg – sein zweites Paar Hosen und erstehe diese köstliche unendliche Geschichte des abendländischen Freidenkertums, deren erster Band bei der pelagianischen Ketzerei einsetzt, und die – 1960 Seiten später, nach vielen sorgfältig und köstlich schraffierten Freidenkern, Avantgardisten, Exzentrikern und wagemutigen Anti-Dogmatikern – schließlich im Traum von einer friedfertigen „gottlosen Mystik“ schließt.
Fritz Mauthner, im November 1849 im damals böhmischen Horschitz geboren, war unter den Schriftstellern seiner Zeit ein geradezu „Überbegabter“, der das philosophische Instrument der Sprachkritik wie kaum ein Zweiter zu bedienen wusste. Neben seinen Parodien und seiner dreibändigen „Kritik der Sprache“ ist es aber vor allem das Spätwerk über den Atheismus, das exemplarisch zeigt, was heute fehlt: eine Ideengeschichte des Abweichenden und Kritischen, die nicht mit doxographischer Strenge und sauertöpfischer Beckmesserei einherkommt, sondern mit großartiger Kenntnis, einer brillanten Sprache voll ironischem Tiefsinn und mit der Urteilssicherheit desjenigen, der weiß, dass Denken immer „freies“ Denken bedeutet.
Mauthner hat seine „Geschichte des Atheismus“ in jener kurzen Morgenröte publiziert, als die roaring twenties eine entkrampfende Wirkung sogar in der Geisteswelt entfachten. Dass die Vokabel „Atheismus“ für Mauthner gar nicht jenen schröcklichen Klang hatte, mit dem (nachgerade in der deutschen Religions-) Geschichte alles Denk-Rebellische verfolgt worden ist, muss man nicht betonen. Der Streit um den „einzigen“ und „wahren“ Gott ist immer eine Logomachie, ein Wortaberglaube; freilich einer, der von gewaltigem Blutvergießen begleitet war. Und da es heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, noch durchaus keinen Anlass gibt, die Fragen um das Verhältnis von Religion, Macht und Gewalt auf dem berühmten Misthaufen der Geschichte zu entsorgen, liegt kein bisschen Staub auf Mauthners 3856 Gramm schwerem Jahrhundertwerk. URSULA PIA JAUCH
FRITZ MAUTHNER: Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. Herausgegeben von Ludger Lütkehaus. Alibri Verlag, Aschaffenburg 2011. 4 Bände, 1975 Seiten, 179 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.01.2012Der wunschlose Unglaube der neuen Atheisten
Die Weltanschauung einer säkularen Sekte, die nicht einmal an das Diesseits glaubt: Aus Anlass einer neuen Ausgabe von Mauthners Atheismus-Geschichte
Das Bekenntnis zum Atheismus besaß noch im neunzehnten Jahrhundert angesichts einer bürgerlichen Gesellschaft, für die das "christliche Erbe" nicht nur Verfassungsformel, sondern Bestandteil der Lebenswirklichkeit war, einen häretischen Beiklang. Das hat sich freilich historisch gewandelt. Sich Atheist zu nennen, ist heute, da die christlichen Kirchen im Zeichen der Ökumene ihre Anhänger zumindest teilweise vom Zwang des besonderen Dogmas freistellen, höchstens in zweiter Linie eine Volte gegen die Religion. In erster Linie ist es ein Bekenntnis zum gesellschaftlichen Status quo.
Nicht dass er die Gottgewolltheit menschlicher Ordnungen anzweifelt, macht den zeitgenössischen Atheisten aus, sondern dass er sich in diese fügt, weil jenseits der Immanenz des Wirklichen nichts anderes denkbar sei. Deshalb fungieren als Gewährsleute des modernen Atheismus nicht Kant, Feuerbach, Marx oder Freud, sondern Richard Dawkins und Christopher Hitchens, Michael Schmidt-Salomon und Michel Onfray. Sie verdanken der Religionskritik wenig, dem Positivismus und Behaviorismus aber umso mehr. Vor allem vier Einwände bringen sie gegen den nicht nur christlichen Glauben vor. Auch von den Papstkritikern werden diese wie auswendig wiederholt: An einen Gott zu glauben, sei unvernünftig, unpraktisch, unwissenschaftlich und antihumanistisch. In diesen Einwänden spiegeln sich die Denktraditionen, die im modernen Atheismus zueinanderkommen: Positivismus, Pragmatismus, Naturalismus und praktische Ethik.
Der Begriff praktischer Vernunft, auf den der moderne Atheismus sich beruft, stellt indessen gegenüber dem Rationalitätsverständnis des frühen Positivismus bereits eine Verfallsform dar. Der Ahne der positivistischen Historiographie, Hippolyte Taine, hat die fortschrittsoptimistische Überzeugung von der Einheit von Vernunft und Empirie in der Einleitung seiner "Geschichte der englischen Literatur" programmatisch ausgesprochen: "Laster und Tugend sind Produkte wie Vitriol und Zucker. Die Religionen, die Philosophie, die Dichtung, die Industrie und Technik, die Formen der Gesellschaft und der Familie sind schließlich nichts anderes als das Gepräge, das den Geschehnissen durch diese allgemeinen Ursachen gegeben worden ist."
Trotz der schon hier erkennbaren Neigung, geistige Phänomene nicht nur als geschichtliche zu begreifen, sondern sie auf soziale und natürliche Ursachen zu reduzieren, sie nicht in ihrer Autonomie, sondern als "Produkte" wahrzunehmen, schließt diese Betrachtungsweise nicht aus, die Religionen auf ihren Wahrheitsgehalt zu befragen. Der moderne Atheismus dagegen nimmt die vermeintliche wissenschaftliche Unbegründbarkeit des Glaubens und seine Unvereinbarkeit mit den Erfordernissen gesellschaftlicher Praxis unmittelbar als Beweis gegen ihn. Die Geschichtlichkeit der positivistischen und pragmatistischen Denkform selbst zu erwägen, fällt ihnen nicht ein. Sie wird als überhistorisch aufgefasst, wenn etwa Dawkins in "Der Gotteswahn" dekretiert, Gottes Existenz oder Nichtexistenz sei "eine wissenschaftliche Tatsache", die prinzipiell, "wenn nicht sogar praktisch" entscheidbar sei. Ähnlich begreift Schmidt-Salomon das religiöse Bedürfnis als wissenschaftlich ableitbare "Tatsache", nicht aber als Erscheinungsform des Bewusstseins mit eigenem Geltungsrecht, wenn er im "Manifest des evolutionären Humanismus" erläutert, dass religiöse Visionen auf Überaktivitäten im Schläfenlappen zurückzuführen seien. Dass der Glaube eine ihm immanente Logik und Sinnhaftigkeit, eben eine Theologie besitzen könnte, erscheint aus dieser rein innerweltlichen Perspektive als unlogische und sinnlose Annahme.
Auffällig an dieser Argumentation ist nicht nur die Hemdsärmeligkeit. Das Problem der menschlichen Freiheit, dem insbesondere die katholische Theologie keineswegs aus dem Weg geht, stellt sich dem modernen Atheismus gar nicht. Da seinen Apologeten Freiheit ebenso wie Geist als ähnlich metaphysische und daher nutzlose Begriffe wie Glauben oder Gott erscheinen, wird die Freiheit von ihnen gewissermaßen gemeinsam mit dem Glauben entsorgt, ohne dass der konkrete Widerspruch zwischen beidem, an dem jede Theologie sich entzündet, wahrgenommen wird.
Daher ist es konsequent, dass mit Richard Dawkins oder Peter Singer unter den neuen Atheisten prominente Kritiker des philosophischen Willens- und Freiheitsbegriffs vertreten sind. Indessen nimmt die christliche Theologie spätestens seit Kierkegaards selbstquälerischem Protestantismus den flagranten Widerspruch zwischen ihren eigenen Begriffen und der empirischen Wirklichkeit, also genau jenen "unpraktischen", zutiefst paradoxen Charakter des Glaubens, den die neuen Atheisten aus der Welt schaffen wollen, ebenso ernst, wie es die materialistische Religionskritik tut. Gerade das von den neuen Atheisten vielzitierte Diktum von Karl Marx, die Kritik der Religion sei die Voraussetzung aller Kritik, meint nicht nur, dass sie die archaischste Schicht der Ideologiebildung sei, die vor jeder anderen Kritik abgetragen werden müsse. Damit ist vielmehr zugleich gesagt, dass keine Kritik, die ihren Namen verdient, an der Religion vorbeikommt.
So hat sich die Psychoanalyse ebenso wie die frühe Kritische Theorie geradezu obsessiv mit Fragen der Religion beschäftigt, wie an Freuds Studien zu den Ursprüngen des Monotheismus, an Walter Benjamins Verbindung von jüdischem Messianismus und historischem Materialismus und an Max Horkheimers Interesse für den Katholizismus deutlich wird. Der neue Atheismus aber stützt sich auf evolutionstheoretische und sozialdarwinistische Konzepte. Greifbar wird dies an Michel Onfray, der in seinem jüngsten Buch "Anti Freud" (Knaus Verlag, München 2011) Freud selbst als Urvater einer Privatmythologie und als Religionsgründer denunziert. Negativ erweist sich am Ressentiment des neuen Atheismus gegen die psychoanalytische und materialistische Religionskritik, worin diese sich mit der Theologie, die sie kritisieren, einig wissen: in ihrem Beharren auf einem unteilbaren Begriff von Wahrheit, den die Theologie als positiv gegeben zu begründen sucht und den die Religionskritik als allererst Einzulösendes begreift.
Der neue Atheismus aber kennt keine Wahrheit, die über die Immanenz des bloß Natürlichen hinausgeht, und reduziert den Menschen auf seine empirische Erscheinungsform, seine Sozialfassade. Allein in diesem Sinn bezeichnen sich dessen Anhänger als Humanisten: Der Begriff der Menschen erscheint ihnen nicht, wie dem Humanismus der Aufklärung, als geschichtliches Ziel, das verwirklicht werden soll, sondern als in seinen empirischen Exemplaren unmittelbar Gegebenes.
Damit partizipieren sie an einer Zerfallsbewegung, die den Atheismus schon seit der vorletzten Jahrhundertwende ergriffen hat und den Bedeutungsschwund der Kirchen begleitet. Ausführlicher als je ist dieser Zerfallsprozess von dem Sprachphilosophen Fritz Mauthner in seiner erstmals von 1920 bis 1923 erschienenen vierbändigen Studie "Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande" dargestellt worden, die seit kurzem in einer von Ludger Lütkehaus hervorragend gestalteten Edition greifbar ist (Alibri Verlag, Aschaffenburg 2011).
Mauthner, ein Freund des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber und des Anarchisten Gustav Landauer, unterhielt als selbsterklärter "gottloser Mystiker" eine innige Beziehung zum Atheismus, wusste aber auch um dessen Nähe zum Sektenwesen. Sein bis heute unübertroffen materialreiches Werk zeichnet die Geschichte des Atheismus in seinem Verhältnis zur Geschichte der Amtskirchen nach. Es macht nachvollziehbar, wie der Atheismus bis ins Kaiserreich hinein zu einer Sammlungsbewegung nicht allein religionskritischer, sondern häretischer und von der Dogmatik ausgeschlossener mystischer Strömungen des Christentums und Judentums werden konnte.
Es zeigt aber auch, dass die wesentliche Intention des Atheismus spätestens seit der vorletzten Jahrhundertwende nicht mehr die Kritik der Religion gewesen ist. Stattdessen betreibt der moderne Atheismus, wie Mauthner es treffend nennt, eine "Verweltlichung aller Anschauungen", deren weltanschauliches Substrat nicht aufgegeben, sondern vom immer "unvernünftiger" erscheinenden Universalismus der Theologie losgelöst werden soll, um "lebenstauglich" gemacht zu werden: Säkularisierung als Verfall theologischer Dogmatik bei gleichzeitiger Respiritualisierung der profanen Lebenswelt.
Daher die Affinität des Atheismus zur praxisorientierten Pseudoreligiosität der Sekten und Freikirchen, daher sein Eklektizismus, der buddhistische, islamische, christliche und sozialistische Elemente miteinander verschmilzt. Gerade weil die theologische Dogmatik ihre Verbindlichkeit verlor, ohne dass ihr Wahrheitsanspruch eingelöst worden wäre, zerfällt sie in disparate "Weltanschauungen", die sich selbst für rationalistisch halten, in Wahrheit aber nicht einmal mehr die von der Theologie anvisierte Vermittlung von Vernunft und Religion anstreben.
Mit dem Glauben an ein Jenseits haben sie auch den Glauben an ein erfülltes Diesseits aufgeben. Mauthners epochales Werk über den Atheismus war selbst bereits ein Epitaph auf seinen Gegenstand. Die neuen Atheisten, die mit dem Glauben auch den Begriff des Geistes und der Willensfreiheit als "metaphysisch" aus den praktischen Lebenszusammenhängen tilgen wollen, sind moderne Wiedergänger einer Bewegung, die sich seinerzeit schon überlebt hatte. Am Katholizismus stört sie, dass er - und sei es als Zerrbild - immer noch jenen Anspruch auf Universalität repräsentiert, den sie selbst zugunsten der vernünftigen Einrichtung in einem sinnlos erscheinenden Dasein längst aufgegeben haben.
MAGNUS KLAUE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Weltanschauung einer säkularen Sekte, die nicht einmal an das Diesseits glaubt: Aus Anlass einer neuen Ausgabe von Mauthners Atheismus-Geschichte
Das Bekenntnis zum Atheismus besaß noch im neunzehnten Jahrhundert angesichts einer bürgerlichen Gesellschaft, für die das "christliche Erbe" nicht nur Verfassungsformel, sondern Bestandteil der Lebenswirklichkeit war, einen häretischen Beiklang. Das hat sich freilich historisch gewandelt. Sich Atheist zu nennen, ist heute, da die christlichen Kirchen im Zeichen der Ökumene ihre Anhänger zumindest teilweise vom Zwang des besonderen Dogmas freistellen, höchstens in zweiter Linie eine Volte gegen die Religion. In erster Linie ist es ein Bekenntnis zum gesellschaftlichen Status quo.
Nicht dass er die Gottgewolltheit menschlicher Ordnungen anzweifelt, macht den zeitgenössischen Atheisten aus, sondern dass er sich in diese fügt, weil jenseits der Immanenz des Wirklichen nichts anderes denkbar sei. Deshalb fungieren als Gewährsleute des modernen Atheismus nicht Kant, Feuerbach, Marx oder Freud, sondern Richard Dawkins und Christopher Hitchens, Michael Schmidt-Salomon und Michel Onfray. Sie verdanken der Religionskritik wenig, dem Positivismus und Behaviorismus aber umso mehr. Vor allem vier Einwände bringen sie gegen den nicht nur christlichen Glauben vor. Auch von den Papstkritikern werden diese wie auswendig wiederholt: An einen Gott zu glauben, sei unvernünftig, unpraktisch, unwissenschaftlich und antihumanistisch. In diesen Einwänden spiegeln sich die Denktraditionen, die im modernen Atheismus zueinanderkommen: Positivismus, Pragmatismus, Naturalismus und praktische Ethik.
Der Begriff praktischer Vernunft, auf den der moderne Atheismus sich beruft, stellt indessen gegenüber dem Rationalitätsverständnis des frühen Positivismus bereits eine Verfallsform dar. Der Ahne der positivistischen Historiographie, Hippolyte Taine, hat die fortschrittsoptimistische Überzeugung von der Einheit von Vernunft und Empirie in der Einleitung seiner "Geschichte der englischen Literatur" programmatisch ausgesprochen: "Laster und Tugend sind Produkte wie Vitriol und Zucker. Die Religionen, die Philosophie, die Dichtung, die Industrie und Technik, die Formen der Gesellschaft und der Familie sind schließlich nichts anderes als das Gepräge, das den Geschehnissen durch diese allgemeinen Ursachen gegeben worden ist."
Trotz der schon hier erkennbaren Neigung, geistige Phänomene nicht nur als geschichtliche zu begreifen, sondern sie auf soziale und natürliche Ursachen zu reduzieren, sie nicht in ihrer Autonomie, sondern als "Produkte" wahrzunehmen, schließt diese Betrachtungsweise nicht aus, die Religionen auf ihren Wahrheitsgehalt zu befragen. Der moderne Atheismus dagegen nimmt die vermeintliche wissenschaftliche Unbegründbarkeit des Glaubens und seine Unvereinbarkeit mit den Erfordernissen gesellschaftlicher Praxis unmittelbar als Beweis gegen ihn. Die Geschichtlichkeit der positivistischen und pragmatistischen Denkform selbst zu erwägen, fällt ihnen nicht ein. Sie wird als überhistorisch aufgefasst, wenn etwa Dawkins in "Der Gotteswahn" dekretiert, Gottes Existenz oder Nichtexistenz sei "eine wissenschaftliche Tatsache", die prinzipiell, "wenn nicht sogar praktisch" entscheidbar sei. Ähnlich begreift Schmidt-Salomon das religiöse Bedürfnis als wissenschaftlich ableitbare "Tatsache", nicht aber als Erscheinungsform des Bewusstseins mit eigenem Geltungsrecht, wenn er im "Manifest des evolutionären Humanismus" erläutert, dass religiöse Visionen auf Überaktivitäten im Schläfenlappen zurückzuführen seien. Dass der Glaube eine ihm immanente Logik und Sinnhaftigkeit, eben eine Theologie besitzen könnte, erscheint aus dieser rein innerweltlichen Perspektive als unlogische und sinnlose Annahme.
Auffällig an dieser Argumentation ist nicht nur die Hemdsärmeligkeit. Das Problem der menschlichen Freiheit, dem insbesondere die katholische Theologie keineswegs aus dem Weg geht, stellt sich dem modernen Atheismus gar nicht. Da seinen Apologeten Freiheit ebenso wie Geist als ähnlich metaphysische und daher nutzlose Begriffe wie Glauben oder Gott erscheinen, wird die Freiheit von ihnen gewissermaßen gemeinsam mit dem Glauben entsorgt, ohne dass der konkrete Widerspruch zwischen beidem, an dem jede Theologie sich entzündet, wahrgenommen wird.
Daher ist es konsequent, dass mit Richard Dawkins oder Peter Singer unter den neuen Atheisten prominente Kritiker des philosophischen Willens- und Freiheitsbegriffs vertreten sind. Indessen nimmt die christliche Theologie spätestens seit Kierkegaards selbstquälerischem Protestantismus den flagranten Widerspruch zwischen ihren eigenen Begriffen und der empirischen Wirklichkeit, also genau jenen "unpraktischen", zutiefst paradoxen Charakter des Glaubens, den die neuen Atheisten aus der Welt schaffen wollen, ebenso ernst, wie es die materialistische Religionskritik tut. Gerade das von den neuen Atheisten vielzitierte Diktum von Karl Marx, die Kritik der Religion sei die Voraussetzung aller Kritik, meint nicht nur, dass sie die archaischste Schicht der Ideologiebildung sei, die vor jeder anderen Kritik abgetragen werden müsse. Damit ist vielmehr zugleich gesagt, dass keine Kritik, die ihren Namen verdient, an der Religion vorbeikommt.
So hat sich die Psychoanalyse ebenso wie die frühe Kritische Theorie geradezu obsessiv mit Fragen der Religion beschäftigt, wie an Freuds Studien zu den Ursprüngen des Monotheismus, an Walter Benjamins Verbindung von jüdischem Messianismus und historischem Materialismus und an Max Horkheimers Interesse für den Katholizismus deutlich wird. Der neue Atheismus aber stützt sich auf evolutionstheoretische und sozialdarwinistische Konzepte. Greifbar wird dies an Michel Onfray, der in seinem jüngsten Buch "Anti Freud" (Knaus Verlag, München 2011) Freud selbst als Urvater einer Privatmythologie und als Religionsgründer denunziert. Negativ erweist sich am Ressentiment des neuen Atheismus gegen die psychoanalytische und materialistische Religionskritik, worin diese sich mit der Theologie, die sie kritisieren, einig wissen: in ihrem Beharren auf einem unteilbaren Begriff von Wahrheit, den die Theologie als positiv gegeben zu begründen sucht und den die Religionskritik als allererst Einzulösendes begreift.
Der neue Atheismus aber kennt keine Wahrheit, die über die Immanenz des bloß Natürlichen hinausgeht, und reduziert den Menschen auf seine empirische Erscheinungsform, seine Sozialfassade. Allein in diesem Sinn bezeichnen sich dessen Anhänger als Humanisten: Der Begriff der Menschen erscheint ihnen nicht, wie dem Humanismus der Aufklärung, als geschichtliches Ziel, das verwirklicht werden soll, sondern als in seinen empirischen Exemplaren unmittelbar Gegebenes.
Damit partizipieren sie an einer Zerfallsbewegung, die den Atheismus schon seit der vorletzten Jahrhundertwende ergriffen hat und den Bedeutungsschwund der Kirchen begleitet. Ausführlicher als je ist dieser Zerfallsprozess von dem Sprachphilosophen Fritz Mauthner in seiner erstmals von 1920 bis 1923 erschienenen vierbändigen Studie "Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande" dargestellt worden, die seit kurzem in einer von Ludger Lütkehaus hervorragend gestalteten Edition greifbar ist (Alibri Verlag, Aschaffenburg 2011).
Mauthner, ein Freund des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber und des Anarchisten Gustav Landauer, unterhielt als selbsterklärter "gottloser Mystiker" eine innige Beziehung zum Atheismus, wusste aber auch um dessen Nähe zum Sektenwesen. Sein bis heute unübertroffen materialreiches Werk zeichnet die Geschichte des Atheismus in seinem Verhältnis zur Geschichte der Amtskirchen nach. Es macht nachvollziehbar, wie der Atheismus bis ins Kaiserreich hinein zu einer Sammlungsbewegung nicht allein religionskritischer, sondern häretischer und von der Dogmatik ausgeschlossener mystischer Strömungen des Christentums und Judentums werden konnte.
Es zeigt aber auch, dass die wesentliche Intention des Atheismus spätestens seit der vorletzten Jahrhundertwende nicht mehr die Kritik der Religion gewesen ist. Stattdessen betreibt der moderne Atheismus, wie Mauthner es treffend nennt, eine "Verweltlichung aller Anschauungen", deren weltanschauliches Substrat nicht aufgegeben, sondern vom immer "unvernünftiger" erscheinenden Universalismus der Theologie losgelöst werden soll, um "lebenstauglich" gemacht zu werden: Säkularisierung als Verfall theologischer Dogmatik bei gleichzeitiger Respiritualisierung der profanen Lebenswelt.
Daher die Affinität des Atheismus zur praxisorientierten Pseudoreligiosität der Sekten und Freikirchen, daher sein Eklektizismus, der buddhistische, islamische, christliche und sozialistische Elemente miteinander verschmilzt. Gerade weil die theologische Dogmatik ihre Verbindlichkeit verlor, ohne dass ihr Wahrheitsanspruch eingelöst worden wäre, zerfällt sie in disparate "Weltanschauungen", die sich selbst für rationalistisch halten, in Wahrheit aber nicht einmal mehr die von der Theologie anvisierte Vermittlung von Vernunft und Religion anstreben.
Mit dem Glauben an ein Jenseits haben sie auch den Glauben an ein erfülltes Diesseits aufgeben. Mauthners epochales Werk über den Atheismus war selbst bereits ein Epitaph auf seinen Gegenstand. Die neuen Atheisten, die mit dem Glauben auch den Begriff des Geistes und der Willensfreiheit als "metaphysisch" aus den praktischen Lebenszusammenhängen tilgen wollen, sind moderne Wiedergänger einer Bewegung, die sich seinerzeit schon überlebt hatte. Am Katholizismus stört sie, dass er - und sei es als Zerrbild - immer noch jenen Anspruch auf Universalität repräsentiert, den sie selbst zugunsten der vernünftigen Einrichtung in einem sinnlos erscheinenden Dasein längst aufgegeben haben.
MAGNUS KLAUE
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensent Bernhard Lang freut sich über die von Ludger Lütkehaus "schön" gestaltete und mit einem klugen Vorwort versehene Neuausgabe von Fritz Mauthners Atheismus-Darstellung. Auch wenn der Kritiker seine Fachkenntnisse über die Geschichte des atheistischen Denkens heute nicht mehr von Mauthner beziehen würde - hier rät er eher zur Lektüre von Herman Ley oder George Minois - würdigt er dessen Werk als brillant geschriebenes Zeugnis europäischer Geistesgeschichte zwischen 1850 und 1930. Viel Platz räumt Mauthner dabei seinem Lieblingsautor Gottfried Keller ein, erfahren wir. Während der Kritiker den Autor vor allem für seine "gescheite", nie einseitige Beurteilung der Religion schätzt, kommt ihm Mauthners eigene Philosophie einer "gottlosen Mystik" eher undurchsichtig vor.
© Perlentaucher Medien GmbH
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