Annette Mingels' Heldin Ruth erzählt klarsichtig und illusionslos das Leben im Unvollkommenen: an der Seite des älteren Mannes und voller Sehnsucht nach dem jüngeren. Mit großer Souveränität und reich an Beobachtungen fügt "Der aufrechte Gang" die großen Gegenstände der Literatur - Tod und Liebe, Glauben und die Frage nach Aufrichtigkeit - zu einer eindrucksvollen Geschichte.
Ruth ist Ende dreißig, als ihr Mann stirbt. Sven war ihr ehemaliger Kunstgeschichts-Professor, er hätte ihr Vater sein können. Als seine Krankheit ausbricht, wünscht er weiterzuleben wie bisher. So geben beide vor, in ihrem ruhigen, von kleinen Lügen durchzogenen Dasein ändere sich nichts.
Mit Svens Tod beginnt Ruths Leben von neuem. Sie bricht auf zu einer England-Reise mit ihrer Jugendfreundin Simone, die sie seit der Hochzeit nicht gesehen hat - die Freundin ertrug den neuen Mann an ihrer Seite nicht. Auch William kommt mit, Simones siebzehnjähriger Sohn, den Ruth bei ihrer letzten Begegnungnoch als Baby im Arm hielt.
In den Tagen ihrer Fahrt wächst zwischen Ruth und William eine Zuneigung, die unübersehbar wird. William ist überzeugt, dass sie zueinander gehören, doch Ruth hadert mit dem Unterschied ihrer Jahre. Als sie dennoch zusammenkommen, beginnt eine unmögliche Verbindung.
Ruth ist Ende dreißig, als ihr Mann stirbt. Sven war ihr ehemaliger Kunstgeschichts-Professor, er hätte ihr Vater sein können. Als seine Krankheit ausbricht, wünscht er weiterzuleben wie bisher. So geben beide vor, in ihrem ruhigen, von kleinen Lügen durchzogenen Dasein ändere sich nichts.
Mit Svens Tod beginnt Ruths Leben von neuem. Sie bricht auf zu einer England-Reise mit ihrer Jugendfreundin Simone, die sie seit der Hochzeit nicht gesehen hat - die Freundin ertrug den neuen Mann an ihrer Seite nicht. Auch William kommt mit, Simones siebzehnjähriger Sohn, den Ruth bei ihrer letzten Begegnungnoch als Baby im Arm hielt.
In den Tagen ihrer Fahrt wächst zwischen Ruth und William eine Zuneigung, die unübersehbar wird. William ist überzeugt, dass sie zueinander gehören, doch Ruth hadert mit dem Unterschied ihrer Jahre. Als sie dennoch zusammenkommen, beginnt eine unmögliche Verbindung.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.04.2006Wenn die Biene mit dem Wal
Mesalliancen im Liebestheater: Annette Mingels zieht kühl Fäden
Die Geschichte beginnt von hinten. Ruth kniet vor einem Bett, a tergo der Sohn ihrer besten, vielleicht einzigen Freundin Simone. Diese platzt prompt ins Zimmer, und vor Ruths innerem Auge spult der Film ihrer Freundschaft in glückliche Zeiten zurück, da rennt eine zwölfjährige Simone über eine Wiese, da wogt der Blütenstaub hellgelb, da winken sich die beiden Mädchen - während zugleich in einem englischen Gästezimmer in Sekundenbruchteilen ihre Sandkastenschwesterlichkeit stirbt. Diesmal wohl unumkehrbar, war sie doch gerade erst wiederbelebt worden, nachdem sie gut fünfzehn Jahre auf Eis gelegen hatte. Die Enddreißigerinnen hatten sich kurz nach der Geburt von Simones Sohn William und Ruths Hochzeit mit dem älteren Kunsthistoriker Sven entzweit und jeden Kontakt abgebrochen.
Wer nun in Annette Mingels' neuem Roman "Der aufrechte Gang" ebendiesen probt, vermag man zunächst nicht zu beantworten. Den Willigen führt das Schicksal, den Widerstrebenden schleppt es bekanntlich, die zentrale Figur Ruth aber treibt so teilnahmslos, spröde und trotz aller Liebschaften leidenschaftslos durch ihr Leben, als sei es ein irritierender, ein wenig lästiger Wachtraum, auf dessen Ende man warten darf, ohne agieren zu müssen.
Man kann sich immerhin vorstellen, daß die Autorin sehr aufrecht sitzend schrieb, mit lang nach vorn gereckten Armen, als wolle sie ihren Figuren nicht zu nahe kommen, ganz distanzierte Beobachterin des von ihr dirigierten Marionettentheaters. Und das Außen akribisch darzustellen gelingt ihr in einem ganz eigenen, ernsten, getragen fließenden Rhythmus durchaus. Das mag man genießen, allein wer sich heimlich ein wenig mehr Handlung oder Seelenschau wünscht, wird sicher hier und da ungeduldig mit den Fingern auf die Seiten eintrommeln, wenn etwa ein gerade abservierter Liebhaber, Zeigefinger an Lippen tippend, Lesezeichen auf Schreibtische legt, Socken aufhebt, in eine Tüte wirft und vor einer Tischuhr (dunkelgrün, Porzellan) zögert, sich abwendet, den Kopf senkt (schwarze Schuhe neben ihren nackten Zehen), dabei marzipanrosenblasse Ohren zur Schau stellt et cetera.
Den Rahmen des Romans bildet eine England-Reise, Ruth schließt sich Simone und Sohn an, ihr zwanzig Jahre älterer Mann Sven ist vor wenigen Monaten verstorben. Mingels erzählt dieses äußerst gemächlich vorankommende road movie, als sei es eine Serie von Stilleben. Da bleibt viel Zeit für Rückblenden auf Ruths Ehe, ihre zugleich wahl- wie bedeutungslosen Affären, das Sterben ihres Mannes und die Freundschaft zu Simone. Deren Ablehnung des allzu alten Sven als finanzstarker Vaterersatz hatte einst zum Bruch geführt, für Ruth hingegen war er sogar zu jung: "Sie sagte, ich wünschte, Sie wären älter, so alt, daß Sie mich wirklich wollten." Daß nun William sich irgendwann zwischen dem ersten Wiedersehen und dem Verlauf der Reise in Ruth verliebt, sagt uns Mingels zwar; wie es geschieht, aber nicht. Die konsequente Kühle des Romans verbietet jede "I'm so young and you're so old"-Romantik. Am Ende, wir erleben den Akt der beiden zum zweiten Mal, steht das Bekenntnis: "Ich liebe dich, flüstert er (aber um Liebe, denkt sie, geht es nicht), sie küßt ihn auf den Hals."
Weil Mingels kaum dabei hilft, ihre Figuren zu verstehen, ist die Versuchung des selbständigen Lückentextfüllens groß. Wo Gewichtiges fehlt, hängt man sich eben an Kleinigkeiten auf. Ruth, phantasiert man vielleicht, fühlt sich ihrerseits zum achtzehnjährigen William, Spitzname "Willy", hingezogen, weil dieses "Willy" als pars pro toto zu begreifen ist, William quasi auf sein bestes Stück reduziert wird. Ruth, fast vierzig, hätte also mit ihrem toten Vaterehemann auch die Kindfrau begraben und würde künftig durch lendenfrische Liebhaber jung bleiben wollen. Oder es ist viel verzwickter: Der altväterliche Spitzname des knackigen Knaben suggeriert unverbildete, kleinbürgerliche Geborgenheit, und "Willy" steht auf tiefsinnige Weise in spiegelverkehrter Beziehung zum alten, toten, Seneca und Sartre zitierenden Professor Sven (Sven zu deutsch "junger Mann"!).
Nein, das ist es auch nicht, William hatte die Bedeutung ja erklärt: "Willy, korrigierte er, und Ruth fragte, wie die Biene? Nein sagte er und lächelte mit scheuer Überheblichkeit, wie der Wal." "Free Willy" einmal beiseite, deutet dies, zusammen mit der Tatsache, daß Williams wahrer Vater nur der Mutter bekannt ist, in noch ganz andere, biblische Dimensionen: Die drei Reisenden sind die letzten Tage zu Gast in einem fundamentalistischen Haushalt, Ruth nimmt aus Neugier sogar an einem der Sektengottesdienste teil. Am selben Tag wird jedoch nicht Ruth vom Wal verschluckt, um hernach Gottesfurcht zu predigen, sondern der Wal Willy von Ruth. Lange Rede, kurzer Sinn: Nieder mit den Kreationisten, es lebe die Evolution und der in Jahrmillionen hart erkämpfte aufrechte Gang. Dann hätten wir auch den Titel verstanden.
SABINE LÖHR.
Annette Mingels: "Der aufrechte Gang". Roman. DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2006. 160 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mesalliancen im Liebestheater: Annette Mingels zieht kühl Fäden
Die Geschichte beginnt von hinten. Ruth kniet vor einem Bett, a tergo der Sohn ihrer besten, vielleicht einzigen Freundin Simone. Diese platzt prompt ins Zimmer, und vor Ruths innerem Auge spult der Film ihrer Freundschaft in glückliche Zeiten zurück, da rennt eine zwölfjährige Simone über eine Wiese, da wogt der Blütenstaub hellgelb, da winken sich die beiden Mädchen - während zugleich in einem englischen Gästezimmer in Sekundenbruchteilen ihre Sandkastenschwesterlichkeit stirbt. Diesmal wohl unumkehrbar, war sie doch gerade erst wiederbelebt worden, nachdem sie gut fünfzehn Jahre auf Eis gelegen hatte. Die Enddreißigerinnen hatten sich kurz nach der Geburt von Simones Sohn William und Ruths Hochzeit mit dem älteren Kunsthistoriker Sven entzweit und jeden Kontakt abgebrochen.
Wer nun in Annette Mingels' neuem Roman "Der aufrechte Gang" ebendiesen probt, vermag man zunächst nicht zu beantworten. Den Willigen führt das Schicksal, den Widerstrebenden schleppt es bekanntlich, die zentrale Figur Ruth aber treibt so teilnahmslos, spröde und trotz aller Liebschaften leidenschaftslos durch ihr Leben, als sei es ein irritierender, ein wenig lästiger Wachtraum, auf dessen Ende man warten darf, ohne agieren zu müssen.
Man kann sich immerhin vorstellen, daß die Autorin sehr aufrecht sitzend schrieb, mit lang nach vorn gereckten Armen, als wolle sie ihren Figuren nicht zu nahe kommen, ganz distanzierte Beobachterin des von ihr dirigierten Marionettentheaters. Und das Außen akribisch darzustellen gelingt ihr in einem ganz eigenen, ernsten, getragen fließenden Rhythmus durchaus. Das mag man genießen, allein wer sich heimlich ein wenig mehr Handlung oder Seelenschau wünscht, wird sicher hier und da ungeduldig mit den Fingern auf die Seiten eintrommeln, wenn etwa ein gerade abservierter Liebhaber, Zeigefinger an Lippen tippend, Lesezeichen auf Schreibtische legt, Socken aufhebt, in eine Tüte wirft und vor einer Tischuhr (dunkelgrün, Porzellan) zögert, sich abwendet, den Kopf senkt (schwarze Schuhe neben ihren nackten Zehen), dabei marzipanrosenblasse Ohren zur Schau stellt et cetera.
Den Rahmen des Romans bildet eine England-Reise, Ruth schließt sich Simone und Sohn an, ihr zwanzig Jahre älterer Mann Sven ist vor wenigen Monaten verstorben. Mingels erzählt dieses äußerst gemächlich vorankommende road movie, als sei es eine Serie von Stilleben. Da bleibt viel Zeit für Rückblenden auf Ruths Ehe, ihre zugleich wahl- wie bedeutungslosen Affären, das Sterben ihres Mannes und die Freundschaft zu Simone. Deren Ablehnung des allzu alten Sven als finanzstarker Vaterersatz hatte einst zum Bruch geführt, für Ruth hingegen war er sogar zu jung: "Sie sagte, ich wünschte, Sie wären älter, so alt, daß Sie mich wirklich wollten." Daß nun William sich irgendwann zwischen dem ersten Wiedersehen und dem Verlauf der Reise in Ruth verliebt, sagt uns Mingels zwar; wie es geschieht, aber nicht. Die konsequente Kühle des Romans verbietet jede "I'm so young and you're so old"-Romantik. Am Ende, wir erleben den Akt der beiden zum zweiten Mal, steht das Bekenntnis: "Ich liebe dich, flüstert er (aber um Liebe, denkt sie, geht es nicht), sie küßt ihn auf den Hals."
Weil Mingels kaum dabei hilft, ihre Figuren zu verstehen, ist die Versuchung des selbständigen Lückentextfüllens groß. Wo Gewichtiges fehlt, hängt man sich eben an Kleinigkeiten auf. Ruth, phantasiert man vielleicht, fühlt sich ihrerseits zum achtzehnjährigen William, Spitzname "Willy", hingezogen, weil dieses "Willy" als pars pro toto zu begreifen ist, William quasi auf sein bestes Stück reduziert wird. Ruth, fast vierzig, hätte also mit ihrem toten Vaterehemann auch die Kindfrau begraben und würde künftig durch lendenfrische Liebhaber jung bleiben wollen. Oder es ist viel verzwickter: Der altväterliche Spitzname des knackigen Knaben suggeriert unverbildete, kleinbürgerliche Geborgenheit, und "Willy" steht auf tiefsinnige Weise in spiegelverkehrter Beziehung zum alten, toten, Seneca und Sartre zitierenden Professor Sven (Sven zu deutsch "junger Mann"!).
Nein, das ist es auch nicht, William hatte die Bedeutung ja erklärt: "Willy, korrigierte er, und Ruth fragte, wie die Biene? Nein sagte er und lächelte mit scheuer Überheblichkeit, wie der Wal." "Free Willy" einmal beiseite, deutet dies, zusammen mit der Tatsache, daß Williams wahrer Vater nur der Mutter bekannt ist, in noch ganz andere, biblische Dimensionen: Die drei Reisenden sind die letzten Tage zu Gast in einem fundamentalistischen Haushalt, Ruth nimmt aus Neugier sogar an einem der Sektengottesdienste teil. Am selben Tag wird jedoch nicht Ruth vom Wal verschluckt, um hernach Gottesfurcht zu predigen, sondern der Wal Willy von Ruth. Lange Rede, kurzer Sinn: Nieder mit den Kreationisten, es lebe die Evolution und der in Jahrmillionen hart erkämpfte aufrechte Gang. Dann hätten wir auch den Titel verstanden.
SABINE LÖHR.
Annette Mingels: "Der aufrechte Gang". Roman. DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2006. 160 S., geb., 17,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Eigentlich, das merkt man, hält die Rezensentin Maike Albath große Stücke auf Annette Mingels' Begabung, "Schmerzzentren der westeuropäischen Gesellschaften" aufzuspüren. Auch im vorliegenden Roman suche Mingels im Aktuellen das Schicksalhafte, eben jenen Stoff, aus dem die alten griechischen Tragödien gemacht sind. Geschildert werde das Freundinnenpaar Simone und Ruth, das sich im Studentenalter auseinanderlebt und einen ganzen Lebensabschnitt später zusammen in Urlaub fährt - zu dritt, denn Simones Sohn, der achtzehnjährige Willy, ist mit dabei und wird sozusagen zum corpus delicti: Er schläft mit der Freundin seiner Mutter. Enttäuscht muss die Rezensentin allerdings feststellen, dass Mingels bei der Schilderung dieser Dreiecksbeziehung kein Wagnis eingeht. Die Figuren wirkten selbst unter psychopathologischer Beleuchtung "sediert", von "archaischem Furor" ist nichts zu spüren, und der skandalöse Beischlaf, mit dem die kreisförmige Romankonstruktion einsetzt, kann seine Paukenschlag-Wirkung nicht entfalten, weil nicht klar ist, wer hier mit wem zugange ist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Ein Roman über die Liebe als Passion, eine Versuchsanordnung über die Vergeblichkeit der Liebe und die Tücken des Begehrens. Annette Mingels blickt in ihrem Roman in die Abgründe der modernen Liebesordnung ... Aufwühlend."
BASLER ZEITUNG
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