Eine grandiose Parabel auf das heutige Italien und das bestechende Porträt eines Mannes, der vieles verlieren muss, um zu sich selbst zu finden.
Das Land ist komplett abgeschottet. Seine Straßen sind leer; streunende Hunde und Männer mit Gewehren durchqueren die Felder; Lebensmittel, Benzin und Zigaretten werden knapp; Geschäfte und Banken schließen, es ist kein Geld mehr im Umlauf. Das Staatsfernsehen sendet Berichte, denen keiner glaubt. Wer kann, flieht. Nur Leonardo, 52, ehemaliger Universitätsprofessor und Autor, zögert. Sein Leben ist aus den Bahnen geraten, seit er wegen einer Affäre mit einer Studentin, die ihn mit einem heimlich gedrehten Video verklagte, die Universität verlassen musste. Leonardo will lange nicht wahrhaben, was vor seinen Augen geschieht. Erst als er selbst angegriffen und sein Haus ausgeraubt wird, zieht auch er mit seiner siebzehnjährigen Tochter Lucia und dem zehnjährigen Alfonso zu Fuß los. Auf dem Weg zur Landesgrenze geraten sie in die Fänge eines selbsternannten Herrschers, der die Jugend mit Drogen betäubt und vor dem Leonardo mit nackten Füßen im Feuer tanzt. Erst jetzt, verletzt und versehrt, lernt Leonardo zu handeln und gewinnt die Kraft, das Böse zu besiegen.
Longos Roman mündet in einen überraschenden politischen und persönlichen Neubeginn.
«DER AUFRECHTE MANN» ist ein gewaltiger Roman, der in seiner sprachlichen Dichte, in seiner stilistischen Sicherheit und existenziellen Atmosphäre an «DIE STRAßE» von Cormac McCarthy erinnert.
«Endlich ist Italiens Literatur wieder interessant.»
DIE ZEIT
«Ein italienisches Herz der Finsternis»
NZZ
«Ein herausragendes Buch.»
NDR Kultur
«Davide Longo ist mit "Der aufrechte Mann" ein faszinierender Zukunftsroman gelungen.»
Süddeutsche Zeitung
Das Land ist komplett abgeschottet. Seine Straßen sind leer; streunende Hunde und Männer mit Gewehren durchqueren die Felder; Lebensmittel, Benzin und Zigaretten werden knapp; Geschäfte und Banken schließen, es ist kein Geld mehr im Umlauf. Das Staatsfernsehen sendet Berichte, denen keiner glaubt. Wer kann, flieht. Nur Leonardo, 52, ehemaliger Universitätsprofessor und Autor, zögert. Sein Leben ist aus den Bahnen geraten, seit er wegen einer Affäre mit einer Studentin, die ihn mit einem heimlich gedrehten Video verklagte, die Universität verlassen musste. Leonardo will lange nicht wahrhaben, was vor seinen Augen geschieht. Erst als er selbst angegriffen und sein Haus ausgeraubt wird, zieht auch er mit seiner siebzehnjährigen Tochter Lucia und dem zehnjährigen Alfonso zu Fuß los. Auf dem Weg zur Landesgrenze geraten sie in die Fänge eines selbsternannten Herrschers, der die Jugend mit Drogen betäubt und vor dem Leonardo mit nackten Füßen im Feuer tanzt. Erst jetzt, verletzt und versehrt, lernt Leonardo zu handeln und gewinnt die Kraft, das Böse zu besiegen.
Longos Roman mündet in einen überraschenden politischen und persönlichen Neubeginn.
«DER AUFRECHTE MANN» ist ein gewaltiger Roman, der in seiner sprachlichen Dichte, in seiner stilistischen Sicherheit und existenziellen Atmosphäre an «DIE STRAßE» von Cormac McCarthy erinnert.
«Endlich ist Italiens Literatur wieder interessant.»
DIE ZEIT
«Ein italienisches Herz der Finsternis»
NZZ
«Ein herausragendes Buch.»
NDR Kultur
«Davide Longo ist mit "Der aufrechte Mann" ein faszinierender Zukunftsroman gelungen.»
Süddeutsche Zeitung
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.03.2012Die Landschaft wird zum Schutzraum
Zerrbilder der infantilisierten Konsumgesellschaft: Dem italienischen Autor Davide Longo ist mit „Der aufrechte Mann“ ein faszinierender Zukunftsroman gelungen
In den ersten Monaten gibt es sogar noch Olivenöl. Die Beschaffung ist kompliziert; und als Leonardo sich mit vier Kanistern im Auto auf den Rückweg in den Norden macht, wird ihm früh morgens im Hotel einer der Behälter entwendet. Eine Polizei, bei der man den Diebstahl anzeigen könnte, existiert nicht mehr. Es gilt das Recht des Stärkeren.
Der ehemalige Schriftsteller und Universitätsprofessor setzt seine Fahrt unbeirrbar fort, durchquert verödete Landstriche voller Unrat, beobachtet bewaffnete Einheiten, die streunende Hunderudel jagen. Aus einem Impuls heraus nimmt Leonardo einen Welpen mit. Er schafft es bis in sein Dorf in die Langhe, der piemontesischen Hügelkette unweit von Turin. Sein Cousin Elio kümmert sich um die Verteilung des Öls. Im Dorf regeln alteingesessene Familien, der Bürgermeister, die Weinbauern und der Pfarrer den Alltag. Doch als immer mehr Bewohner flüchten, die Grenzen zu Frankreich und der Schweiz endgültig dichtgemacht werden und die ersten Externen auftauchen, bröckelt auch dieses zivilisatorische Gefüge.
Davide Longo, Jahrgang 1971, aus dem Piemont gebürtig, hatte schon in seinem herausragenden Debüt „Der Steingänger“ (2007) regionale Eigenarten, Bezüge auf die literarische Tradition und das Krimigenre auf charakteristische Weise vermischt. Mit „Der aufrechte Mann“ gelingt ihm jetzt ein faszinierender Zukunftsroman. Parallelen zum kulturellen Niedergang Italiens schwingen von Anfang an mit. Die Geschichte trägt sich irgendwann um 2045 zu. Außer einer Bemerkung zu Elios Wehrdienst 2025 spart Longo mit Zeitangaben. Das Parabelhafte wird durch die abgekürzten Ortsnamen, die nur unter ihren Anfangsbuchstaben auftauchen, noch unterstrichen.
Das Land ist abgeschottet, die Gerichtsbarkeit aufgehoben, die Schulen geschlossen, das Internet längst zusammengebrochen, im Radio laufen nur alte Schlager. Es kommt zu Raubüberfällen und standrechtlichen Erschießungen. Leonardo, der sieben Jahre zuvor zum Opfer einer Verleumdung durch seine Geliebte wurde und seitdem jeden Kontakt zu Frau und Tochter verlor, hält noch eine Weile an seinen üblichen Beschäftigungen fest. Er verkriecht sich in seiner Bibliothek, bringt die Weinernte ein und kümmert sich um seinen neuen Hund. Das Schreiben hat er lange aufgegeben. Doch plötzlich taucht seine Ex-Ehefrau auf und vertraut ihm die mittlerweile achtzehnjährige Lucia und den zehnjährigen Sohn ihres neuen Mannes an. Bald darauf müssen Leonardo und die Kinder das Dorf verlassen.
Der Autor nimmt seinen Helden von außen in den Blick. Knappe Dialoge treiben die Handlung voran, und als in der Mitte des Romans die Erzählperspektive für kurze Zeit wechselt und Leonardo selbst das Wort ergreift, scheint sich eine Wende anzudeuten. Die Gruppe ist fast an der ligurischen Küste angelangt, der Schriftsteller hat sich als Beschützer bewährt und unterwirft sich nicht mehr den Verhältnissen. Doch dann: „Er erwachte nicht von dem stechenden Schmerz, sondern von dem Geräusch seiner Nase, die brach: ein knapper Laut ohne Widerhall, knackendes Reisig.“ Die Dramatik der Geschehnisse steht in einem eigentümlichen Kontrast zu den poetischen Vergleichen und der bildhaften Sprache. Ein typisches Verfahren Longos, mit dem er immer wieder Reibungen erzeugt.
Nicht nur wegen Leonardos Bildung fühlt man sich mehrfach an Ray Bradburys „Fahrenheit 451“ erinnert. Zeitgenössische Apokalypsen, wie William Goldings „Herr der Fliegen“ und „Die Straße“ von Cormac McCarthy, klingen an. Bezüge gibt es auch auf Bolanõs mexikanische Stadt aus „2666“, die von Frauenmorden gebeutelt ist. Leonardo, so heißt es an einer Stelle, habe vor langer Zeit einen Vortrag über die Funktion der Hyperbel in Bolanõs Werk gehalten, und im Grunde verrät Longo hier sein eigenes erzählerisches Prinzip: das der Übersteigerung. Denn auf die unwirtliche Ebene im Nordosten mit ihren verwaisten Schnellstraßen, Autowracks und einem Lager von Ausreisewilligen, wo der Wachschutz nachts Vergewaltigungen durchführt, folgt die absolute Barbarei. Leonardo gerät mit seinem Gefolge in die Gefangenschaft einer marodierenden Horde von Kindern und Jugendlichen. Hier gilt nur noch der reine Trieb, ohne jede Domestizierung.
Unter der Führerschaft eines selbsterklärten Heilsbringers überzieht die Bande die gesamte Gegend mit Terror, erbeutet Benzin, Vorräte und Mädchen. Allabendlich tritt der Messias vor sein Wohnmobil, ruft einen buckligen Helfer herbei, segnet seine Anhänger und übergibt ihnen ihre Tagesration an Drogen. Dann wird Nacht für Nacht unter wummernden Technobeats ein Lagerfeuer entfacht. Bis in die Morgenstunden tanzen die Kinder, schnüffeln an Plastiktüten, paaren sich, erniedrigen die Gefangenen. Unweigerlich bezieht man diese Szenen auf die aufgeheizte Stimmung der von Sexskandalen und Korruption zerrütteten Berlusconi-Regierung – grotesk übersteigerte Zerrbilder einer komplett infantilisierten Konsumgesellschaft.
Die Rettung liegt im Gedächtnis und in der Fähigkeit, sich an Gefühle, menschliche Bindungen und Bücher zu erinnern. Zwei, drei Seiten von „Der aufrechte Mann“ sind so blutrünstig, dass sie einen bis in den Schlaf verfolgen, ähnlich einprägsam wie eine Foltermethode aus Bolanõs „Die wilden Detektive“, in der einer Frau eine lebende Ratte in die Gebärmutter eingeführt wird. Bei Schriftstellern wie Roberto Bolanõ, Cormac McCarthy und William Golding hat Longo, der als Dozent an Alessandro Bariccos Schreibschule „Holden“ in Turin arbeitet, offenkundig viel gelernt. Der einundvierzigjährige Italiener ist literarisch noch nicht auf der Höhe eines Bolanõ. Manchmal drückt er allzu sehr auf die Tube, dann gerät der Roman in Schieflage und droht ins Grelle oder Kitschige zu kippen. Dass die Tochter mit ihrem reinen Herzen, das sie sich trotz ihrer Geiselhaft bei dem Bandenführer bewahrt, ausgerechnet Lucia heißt und damit an die standhafte Heldin aus Manzonis „Brautleuten“ gemahnt, wäre nicht nötig gewesen.
Überhaupt, die sprechenden Namen. Leonardo, der Schriftsteller, wird wie Leonardo da Vinci zu einem Universalgelehrten, der das kulturelle Erbe lebenspraktisch auszunutzen weiß. Ein kleiner Junge namens Salomon, der Friedliche, ist ähnlich weise wie der israelische König und zieht mit Leonardo und Lucia gen Süden, wo sie auf Clemente, den Sanftmütigen, treffen, Oberhaupt einer humaneren Gemeinschaft. Manchmal übertreibt es der Autor mit dem metaphorischen Ballast, auch das Ende ist eine Spur zu süßlich.
Dennoch: Longo gelingt eine schillernde Parabel. Mit seiner gleichnishaften Erzählform beweist er einerseits ästhetischen Wagemut, andererseits kommt er seinem Land besser auf die Spur als zahllose Altersgenossen mit ihren autobiographischen Befindlichkeitsstudien. Der Autor spinnt die gesellschaftliche Verrohung fort und bringt ein Unwohlsein zum Ausdruck, das Teil unserer Gegenwart ist. Welche politischen Vorfälle den Verheerungen vorausgingen, erfährt der Leser nicht – man ahnt eine allgemeine Hysterie und beginnt unwillkürlich, über die Risiken einer mediengeleiteten, postdemokratischen Gesellschaft zu spekulieren.
Auch dies ist ein produktives Moment des Romans. Mit seinen eindringlichen Naturbildern knüpft Davide Longo außerdem an die Tradition der italienischen Widerstandsliteratur von Calvino über Pavese bis zu Fenoglio an, deren Helden überleben, weil sie die heimatliche Bergwelt in- und auswendig kannten. Die Landschaft wird zum Schutzraum. Vielleicht liegt hier das Potential Italiens verborgen.
MAIKE ALBATH
DAVIDE LONGO: Der aufrechte Mann. Roman. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Rowohlt Verlag, Reinbek 2012. 478 Seiten, 24,95 Euro.
Die Geschichte trägt sich
irgendwann um 2045 zu,
das Land ist abgeschottet . . .
In seiner schillernden Parabel
spinnt der Autor die
gesellschaftliche Verrohung fort.
Mit eindringlichen Naturbildern knüpft Davide Longo an die Tradition der italienischen Widerstandsliteratur an. Foto: Massimo Ripani/Grand Tour/Corbis
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Zerrbilder der infantilisierten Konsumgesellschaft: Dem italienischen Autor Davide Longo ist mit „Der aufrechte Mann“ ein faszinierender Zukunftsroman gelungen
In den ersten Monaten gibt es sogar noch Olivenöl. Die Beschaffung ist kompliziert; und als Leonardo sich mit vier Kanistern im Auto auf den Rückweg in den Norden macht, wird ihm früh morgens im Hotel einer der Behälter entwendet. Eine Polizei, bei der man den Diebstahl anzeigen könnte, existiert nicht mehr. Es gilt das Recht des Stärkeren.
Der ehemalige Schriftsteller und Universitätsprofessor setzt seine Fahrt unbeirrbar fort, durchquert verödete Landstriche voller Unrat, beobachtet bewaffnete Einheiten, die streunende Hunderudel jagen. Aus einem Impuls heraus nimmt Leonardo einen Welpen mit. Er schafft es bis in sein Dorf in die Langhe, der piemontesischen Hügelkette unweit von Turin. Sein Cousin Elio kümmert sich um die Verteilung des Öls. Im Dorf regeln alteingesessene Familien, der Bürgermeister, die Weinbauern und der Pfarrer den Alltag. Doch als immer mehr Bewohner flüchten, die Grenzen zu Frankreich und der Schweiz endgültig dichtgemacht werden und die ersten Externen auftauchen, bröckelt auch dieses zivilisatorische Gefüge.
Davide Longo, Jahrgang 1971, aus dem Piemont gebürtig, hatte schon in seinem herausragenden Debüt „Der Steingänger“ (2007) regionale Eigenarten, Bezüge auf die literarische Tradition und das Krimigenre auf charakteristische Weise vermischt. Mit „Der aufrechte Mann“ gelingt ihm jetzt ein faszinierender Zukunftsroman. Parallelen zum kulturellen Niedergang Italiens schwingen von Anfang an mit. Die Geschichte trägt sich irgendwann um 2045 zu. Außer einer Bemerkung zu Elios Wehrdienst 2025 spart Longo mit Zeitangaben. Das Parabelhafte wird durch die abgekürzten Ortsnamen, die nur unter ihren Anfangsbuchstaben auftauchen, noch unterstrichen.
Das Land ist abgeschottet, die Gerichtsbarkeit aufgehoben, die Schulen geschlossen, das Internet längst zusammengebrochen, im Radio laufen nur alte Schlager. Es kommt zu Raubüberfällen und standrechtlichen Erschießungen. Leonardo, der sieben Jahre zuvor zum Opfer einer Verleumdung durch seine Geliebte wurde und seitdem jeden Kontakt zu Frau und Tochter verlor, hält noch eine Weile an seinen üblichen Beschäftigungen fest. Er verkriecht sich in seiner Bibliothek, bringt die Weinernte ein und kümmert sich um seinen neuen Hund. Das Schreiben hat er lange aufgegeben. Doch plötzlich taucht seine Ex-Ehefrau auf und vertraut ihm die mittlerweile achtzehnjährige Lucia und den zehnjährigen Sohn ihres neuen Mannes an. Bald darauf müssen Leonardo und die Kinder das Dorf verlassen.
Der Autor nimmt seinen Helden von außen in den Blick. Knappe Dialoge treiben die Handlung voran, und als in der Mitte des Romans die Erzählperspektive für kurze Zeit wechselt und Leonardo selbst das Wort ergreift, scheint sich eine Wende anzudeuten. Die Gruppe ist fast an der ligurischen Küste angelangt, der Schriftsteller hat sich als Beschützer bewährt und unterwirft sich nicht mehr den Verhältnissen. Doch dann: „Er erwachte nicht von dem stechenden Schmerz, sondern von dem Geräusch seiner Nase, die brach: ein knapper Laut ohne Widerhall, knackendes Reisig.“ Die Dramatik der Geschehnisse steht in einem eigentümlichen Kontrast zu den poetischen Vergleichen und der bildhaften Sprache. Ein typisches Verfahren Longos, mit dem er immer wieder Reibungen erzeugt.
Nicht nur wegen Leonardos Bildung fühlt man sich mehrfach an Ray Bradburys „Fahrenheit 451“ erinnert. Zeitgenössische Apokalypsen, wie William Goldings „Herr der Fliegen“ und „Die Straße“ von Cormac McCarthy, klingen an. Bezüge gibt es auch auf Bolanõs mexikanische Stadt aus „2666“, die von Frauenmorden gebeutelt ist. Leonardo, so heißt es an einer Stelle, habe vor langer Zeit einen Vortrag über die Funktion der Hyperbel in Bolanõs Werk gehalten, und im Grunde verrät Longo hier sein eigenes erzählerisches Prinzip: das der Übersteigerung. Denn auf die unwirtliche Ebene im Nordosten mit ihren verwaisten Schnellstraßen, Autowracks und einem Lager von Ausreisewilligen, wo der Wachschutz nachts Vergewaltigungen durchführt, folgt die absolute Barbarei. Leonardo gerät mit seinem Gefolge in die Gefangenschaft einer marodierenden Horde von Kindern und Jugendlichen. Hier gilt nur noch der reine Trieb, ohne jede Domestizierung.
Unter der Führerschaft eines selbsterklärten Heilsbringers überzieht die Bande die gesamte Gegend mit Terror, erbeutet Benzin, Vorräte und Mädchen. Allabendlich tritt der Messias vor sein Wohnmobil, ruft einen buckligen Helfer herbei, segnet seine Anhänger und übergibt ihnen ihre Tagesration an Drogen. Dann wird Nacht für Nacht unter wummernden Technobeats ein Lagerfeuer entfacht. Bis in die Morgenstunden tanzen die Kinder, schnüffeln an Plastiktüten, paaren sich, erniedrigen die Gefangenen. Unweigerlich bezieht man diese Szenen auf die aufgeheizte Stimmung der von Sexskandalen und Korruption zerrütteten Berlusconi-Regierung – grotesk übersteigerte Zerrbilder einer komplett infantilisierten Konsumgesellschaft.
Die Rettung liegt im Gedächtnis und in der Fähigkeit, sich an Gefühle, menschliche Bindungen und Bücher zu erinnern. Zwei, drei Seiten von „Der aufrechte Mann“ sind so blutrünstig, dass sie einen bis in den Schlaf verfolgen, ähnlich einprägsam wie eine Foltermethode aus Bolanõs „Die wilden Detektive“, in der einer Frau eine lebende Ratte in die Gebärmutter eingeführt wird. Bei Schriftstellern wie Roberto Bolanõ, Cormac McCarthy und William Golding hat Longo, der als Dozent an Alessandro Bariccos Schreibschule „Holden“ in Turin arbeitet, offenkundig viel gelernt. Der einundvierzigjährige Italiener ist literarisch noch nicht auf der Höhe eines Bolanõ. Manchmal drückt er allzu sehr auf die Tube, dann gerät der Roman in Schieflage und droht ins Grelle oder Kitschige zu kippen. Dass die Tochter mit ihrem reinen Herzen, das sie sich trotz ihrer Geiselhaft bei dem Bandenführer bewahrt, ausgerechnet Lucia heißt und damit an die standhafte Heldin aus Manzonis „Brautleuten“ gemahnt, wäre nicht nötig gewesen.
Überhaupt, die sprechenden Namen. Leonardo, der Schriftsteller, wird wie Leonardo da Vinci zu einem Universalgelehrten, der das kulturelle Erbe lebenspraktisch auszunutzen weiß. Ein kleiner Junge namens Salomon, der Friedliche, ist ähnlich weise wie der israelische König und zieht mit Leonardo und Lucia gen Süden, wo sie auf Clemente, den Sanftmütigen, treffen, Oberhaupt einer humaneren Gemeinschaft. Manchmal übertreibt es der Autor mit dem metaphorischen Ballast, auch das Ende ist eine Spur zu süßlich.
Dennoch: Longo gelingt eine schillernde Parabel. Mit seiner gleichnishaften Erzählform beweist er einerseits ästhetischen Wagemut, andererseits kommt er seinem Land besser auf die Spur als zahllose Altersgenossen mit ihren autobiographischen Befindlichkeitsstudien. Der Autor spinnt die gesellschaftliche Verrohung fort und bringt ein Unwohlsein zum Ausdruck, das Teil unserer Gegenwart ist. Welche politischen Vorfälle den Verheerungen vorausgingen, erfährt der Leser nicht – man ahnt eine allgemeine Hysterie und beginnt unwillkürlich, über die Risiken einer mediengeleiteten, postdemokratischen Gesellschaft zu spekulieren.
Auch dies ist ein produktives Moment des Romans. Mit seinen eindringlichen Naturbildern knüpft Davide Longo außerdem an die Tradition der italienischen Widerstandsliteratur von Calvino über Pavese bis zu Fenoglio an, deren Helden überleben, weil sie die heimatliche Bergwelt in- und auswendig kannten. Die Landschaft wird zum Schutzraum. Vielleicht liegt hier das Potential Italiens verborgen.
MAIKE ALBATH
DAVIDE LONGO: Der aufrechte Mann. Roman. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Rowohlt Verlag, Reinbek 2012. 478 Seiten, 24,95 Euro.
Die Geschichte trägt sich
irgendwann um 2045 zu,
das Land ist abgeschottet . . .
In seiner schillernden Parabel
spinnt der Autor die
gesellschaftliche Verrohung fort.
Mit eindringlichen Naturbildern knüpft Davide Longo an die Tradition der italienischen Widerstandsliteratur an. Foto: Massimo Ripani/Grand Tour/Corbis
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Davide Longos Roman "Der aufrechte Mann" hat Sabine Seifert sichtlich beeindruckt. Dass die Endzeitvision sowohl an Cormac McCarthy "Die Straße" als auch J. M. Coetzees "Schande" erinnert - der Roman hat parabelhafte Züge, es gibt Elemente eines apokalyptischen Roadmovies, im Mittelpunkt steht ein zunächst passiver, aber aufrichtiger Literat, der sich im apokalytischen Szenario bewährt -, schadet dem Buch in ihren Augen nicht. Auch sonst enthält das Werk zahlreiche literarische Verweise, die Seifert manchmal nerven, die sie meist aber doch sympathisch findet. Das Hauptthema des Romans scheint ihr die Trägheit des Menschen, die zu Verrohung der Gesellschaft und zu Barbarei führt. Mit Lob bedenkt die Rezensentin nicht zuletzt Longos ebenso so "schöne wie kräftige" Sprache.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Eine aufrüttelnde Bestandsaufnahme. Deutschlandradio Kultur