Erst in Tunesien, dann in Ägypten, dann in immer mehr Staaten der Region haben die Menschen im Nahen Osten und Nordafrika begonnen, ihr politisches Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Auch wenn 2011 zunächst nur einige Autokraten stürzten und die Mühen des Aufbaus demokratischer Staaten und Gesellschaften noch ausstehen, erleben wir eine Zeitenwende in der arabischen Welt: einen politischen Bruch, eine neue Generation meldet sich zu Wort, die Verhältnisse zwischen den Staaten ordnen sich neu.
Veränderung bedeutet Unruhe, auch Unsicherheit. Aber von Marokko bis zur Arabischen Halbinsel herrscht vor allem Aufbruchsstimmung, in einigen Ländern auch die Euphorie der Befreiung. Die Forderungen der Bürger in den Staaten der arabischen Welt wie auch in Iran sind sehr ähnlich: Würde, Freiheit, demokratische Beteiligung und ein Ende von Korruption und Unterdrückung. Und überall sind die Proteste vor allem von einer jungen Generation - den 2011ern - getragen. Allerdings unterscheiden sich die einzelnen Staaten hinsichtlich ihrer politischen Traditionen und Systeme sowie ihrer wirtschaftlichen Macht. Entsprechend verlaufen die Ereignisse in den einzelnen Ländern auch ganz verschieden: Das Spektrum reicht dabei von Reformversuchen von oben und relativ raschen Machtwechseln über die blutige Unterdrückung friedlicher Proteste bis hin zum Bürgerkrieg. Volker Perthes analysiert die Vielgestaltigkeit des Aufbruchs der arabischen Welt und fragt auch nach den Folgen für die deutsche und europäische Politik.
Veränderung bedeutet Unruhe, auch Unsicherheit. Aber von Marokko bis zur Arabischen Halbinsel herrscht vor allem Aufbruchsstimmung, in einigen Ländern auch die Euphorie der Befreiung. Die Forderungen der Bürger in den Staaten der arabischen Welt wie auch in Iran sind sehr ähnlich: Würde, Freiheit, demokratische Beteiligung und ein Ende von Korruption und Unterdrückung. Und überall sind die Proteste vor allem von einer jungen Generation - den 2011ern - getragen. Allerdings unterscheiden sich die einzelnen Staaten hinsichtlich ihrer politischen Traditionen und Systeme sowie ihrer wirtschaftlichen Macht. Entsprechend verlaufen die Ereignisse in den einzelnen Ländern auch ganz verschieden: Das Spektrum reicht dabei von Reformversuchen von oben und relativ raschen Machtwechseln über die blutige Unterdrückung friedlicher Proteste bis hin zum Bürgerkrieg. Volker Perthes analysiert die Vielgestaltigkeit des Aufbruchs der arabischen Welt und fragt auch nach den Folgen für die deutsche und europäische Politik.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.12.2011Sachbücher des
Monats Januar
Empfohlen werden nach einer monatlicherstellten Rangliste Bücherder Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften sowie angrenzender Gebiete.
1. DOUG SAUNDERS: Arrival City. Übersetzt von Werner Roller, Blessing Verlag, 576 Seiten, 22,95 Euro.
2. VOLKER PERTHES:Der Aufstand. Die arabische Revolution und ihre Folgen, Pantheon Verlag, 223 Seiten, 12,99 Euro
3. ANDREAS TÖNNESMANN: Monopoly: Das Spiel, die Stadt und das Glück, Verlag Klaus Wagenbach, 160 Seiten, 22,90 Euro.
4. THEA DORN, RICHARD WAGNER: Die deutsche Seele, Albrecht Knaus Verlag, 554 S., 26,99 Euro.
5. ORLANDO FIGES: Krimkrieg. Der letzte Kreuzzug. Übersetzt von Bernd Rullkötter, Berlin Verlag, 747 Seiten, 36 Euro.
6. OTTFRIED DASCHER: „Es ist etwas Wahnsinniges mit der Kunst“. Alfred Flechtheim. Sammler, Kunsthändler und Verleger, Nimbus Verlag, 511 Seiten, 39,80 Euro.
7.-9. THOMAS MACHO:Vorbilder, Wilhelm Fink Verlag, 477 Seiten, 39,90 Euro.
JOSEPH NYE:Macht im 21. Jahrhundert. Politische Strategien für ein neues Zeitalter. Übersetzt von Karl Heinz Sieber, Siedler Verlag, 383 Seiten, 24,99 Euro.
KARL-WILHELM WELWEI: Griechische Geschichte. Von den Anfängen bis zum Beginn des Hellenismus, Verlag Ferdinand Schöningh, 587 Seiten, 49,90 Euro.
10. Norbert Leithold: Friedrich II. von Preußen. Ein kulturgeschichtliches Panorama von A bis Z, Eichborn Verlag (Die Andere Bibliothek), 436 Seiten, 32 Euro.
Besondere Empfehlung des Monats Januar von Andreas Wang: Chronik der philosophischen Werke. Von der Erfindung des Buchdrucks bis ins 20. Jahrhundert. Erarbeitet von Arnim Regenbogen, Felix Meiner Verlag, 639 Seiten, 68 Euro.
Die Jury: Rainer Blasius, Eike Gebhardt, Fritz Göttler, Wolfgang Hagen, Daniel Haufler, Otto Kallscheuer, Petra Kammann, Guido Kalberer, Elisabeth Kiderlen, Jörg-Dieter Kogel, Hans Martin Lohmann, Ludger Lütkehaus, Herfried Münkler, Wolfgang Ritschl, Florian Rötzer, Johannes Saltzwedel, Albert von Schirnding, Jacques Schuster, Norbert Seitz, Hilal Sezgin, Elisabeth von Thadden, Andreas Wang, Uwe Justus Wenzel.
Redaktion: Andreas Wang (NDR Kultur)
Die nächste SZ/NDR/BuchJournal-
Liste der Sachbücher des Monats erscheint am 31. Januar 2012.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Monats Januar
Empfohlen werden nach einer monatlicherstellten Rangliste Bücherder Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften sowie angrenzender Gebiete.
1. DOUG SAUNDERS: Arrival City. Übersetzt von Werner Roller, Blessing Verlag, 576 Seiten, 22,95 Euro.
2. VOLKER PERTHES:Der Aufstand. Die arabische Revolution und ihre Folgen, Pantheon Verlag, 223 Seiten, 12,99 Euro
3. ANDREAS TÖNNESMANN: Monopoly: Das Spiel, die Stadt und das Glück, Verlag Klaus Wagenbach, 160 Seiten, 22,90 Euro.
4. THEA DORN, RICHARD WAGNER: Die deutsche Seele, Albrecht Knaus Verlag, 554 S., 26,99 Euro.
5. ORLANDO FIGES: Krimkrieg. Der letzte Kreuzzug. Übersetzt von Bernd Rullkötter, Berlin Verlag, 747 Seiten, 36 Euro.
6. OTTFRIED DASCHER: „Es ist etwas Wahnsinniges mit der Kunst“. Alfred Flechtheim. Sammler, Kunsthändler und Verleger, Nimbus Verlag, 511 Seiten, 39,80 Euro.
7.-9. THOMAS MACHO:Vorbilder, Wilhelm Fink Verlag, 477 Seiten, 39,90 Euro.
JOSEPH NYE:Macht im 21. Jahrhundert. Politische Strategien für ein neues Zeitalter. Übersetzt von Karl Heinz Sieber, Siedler Verlag, 383 Seiten, 24,99 Euro.
KARL-WILHELM WELWEI: Griechische Geschichte. Von den Anfängen bis zum Beginn des Hellenismus, Verlag Ferdinand Schöningh, 587 Seiten, 49,90 Euro.
10. Norbert Leithold: Friedrich II. von Preußen. Ein kulturgeschichtliches Panorama von A bis Z, Eichborn Verlag (Die Andere Bibliothek), 436 Seiten, 32 Euro.
Besondere Empfehlung des Monats Januar von Andreas Wang: Chronik der philosophischen Werke. Von der Erfindung des Buchdrucks bis ins 20. Jahrhundert. Erarbeitet von Arnim Regenbogen, Felix Meiner Verlag, 639 Seiten, 68 Euro.
Die Jury: Rainer Blasius, Eike Gebhardt, Fritz Göttler, Wolfgang Hagen, Daniel Haufler, Otto Kallscheuer, Petra Kammann, Guido Kalberer, Elisabeth Kiderlen, Jörg-Dieter Kogel, Hans Martin Lohmann, Ludger Lütkehaus, Herfried Münkler, Wolfgang Ritschl, Florian Rötzer, Johannes Saltzwedel, Albert von Schirnding, Jacques Schuster, Norbert Seitz, Hilal Sezgin, Elisabeth von Thadden, Andreas Wang, Uwe Justus Wenzel.
Redaktion: Andreas Wang (NDR Kultur)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.01.2012Mit Opportunisten wird das nichts
Aufstand der Jugend: Ein Jahr nach dem Beginn der Arabellion beschäftigen sich mehrere Bücher mit den Hintergründen, dem Verlauf und den Folgen der Umstürze.
Wer zu spät kommt, den belohnt der Wähler. Zumindest in Ägypten. Als Sieger aus den Parlamentswahlen gingen dort islamistische Parteien hervor, die sich am Aufstand gegen Husni Mubarak zunächst nicht beteiligt hatten. Erst als die von säkularen Kräften getragene Revolte Ende Januar 2011 an Fahrt aufnahm, rief die Führung der Muslimbruderschaft den Präsidenten zu Reformen auf; ohne dass sich ihre Anhänger an den Protesten beteiligten. Geschadet hat ihr diese Haltung nicht: Bei den anstehenden Koalitionsverhandlungen kann sie zwischen liberalen Bündnispartnern und den extremistischen Salafiten der Nur-Partei wählen. Die hatten sich erst gar nicht der Freiheitsbewegung auf Kairos Tahrir-Platz angeschlossen, sondern warteten den Sturz Mubaraks ab, ehe sie die politische Bühne betraten.
Ein Jahr nach dem Sieg der Achtzehn-Tage-Revolution in Ägypten und der Flucht des tunesischen Präsidenten Zine al Abidine Ben Ali nach Saudi-Arabien ist fast ein Dutzend deutschsprachiger Sachbücher erschienen, die sich der schnell als "Arabischer Frühling" titulierten Aufstände in unterschiedlicher Form annehmen. Die Journalisten Karim El-Gawhary, Julia Gerlach und Jörg Armbruster etwa haben ihre Vororterlebnisse zu Papier gebracht; vornehmlich in Reportageform schildern sie den Verlauf der Ereignisse in Nordafrika in der ersten Jahreshälfte 2011. Der Deutsch-Ägypter Hamed Abdel-Samad, bis zu seiner Auswanderung nach Deutschland Anfang der neunziger Jahre selbst Mitglied der Muslimbruderschaft, nimmt dagegen sowohl die Rolle des Aktivisten wie des kritischen Beobachters ein.
Michael Lüders und Volker Perthes gehen darüber hinaus: Sie werfen den Blick nach vorn, entwerfen Szenarien, wo die arabischen Staaten in ein paar Jahren stehen könnten. Getragen sind ihre Analysen von verhaltenem Optimismus. Nicht zuletzt der sachkundige Blick auf die unterschiedlichen Vertreter des politischen Islam macht die Lektüre spannend. Die erwartete Pluralisierung der politischen Systeme fordere auch Ägyptens Muslimbrüder und ihre arabischen Geschwister heraus, so die einigende These: Sie müssten sich lösen "von einer dogmatisch verstandenen Scharia" und offen zeigen "für neue Ideen und Bündnisse", schreibt Lüders. Perthes, Direktor der Berliner Stiftung für Wissenschaft und Politik, kommt zu dem Schluss: "Die Öffnung der politischen Systeme zwingt auch das politisch-islamische Spektrum zu mehr Pluralismus."
Nicht den Durchmarsch der religiösen Kräfte, wie von manchem im Westen gefürchtet, sehen die Autoren als zwangsläufige Folge der arabischen Transformation an, sondern deren Ausdifferenzierung in extremistische, konservative und progressive Strömungen, was in manchen Fällen zu Spaltung und Zersplitterung führen wird. In Ägypten hat dieser Prozess längst begonnen. Abdel-Samad verweist darauf, dass die 1928 gegründeten Muslimbrüder schon immer unterschiedliche Flügel hatte - einen missionarischen, der sich mit der Al-Azhar-Universtität identifizierte, einen salafitisch-konservativen, einen dschihadistischen sowie einen liberalen.
Diese "innere Zerrissenheit" werde bald noch deutlicher hervortreten. Anschaulich beschreibt er, wie sich viele junge Muslimbrüder der Bewegung ihrer säkularen Altersgenossen auf dem Tahrir-Platz anschlossen - gegen das Votum ihrer Parteioberen, die für ihn "nur die andere Seite der Medaille Mubarak" darstellen. Auch Perthes widerspricht der These vom islamischen Erwachen. "Die wichtigste erklärende Variable für den Umbruch dürfte aber in der demographischen Entwicklung liegen: Die arabische Revolte von 2011 ist vor allem ein Aufstand der Jugend."
Trotz der breiten Basis für konservative Volksparteien religiöser Prägung werde die Zeit für die alte Garde der Muslimbrüder bald auslaufen; zu sehr drängten die jungen Reformer auf wirtschaftlichen und politischen Wandel. Ihr Ziel: der Aufbau eines erfolgreichen Staates und damit verbunden das Ende der Klientelwirtschaft, welche die Mubarak-Ära bislang überdauerte. Das könne nur ohne jene "kalkulierende(n) Opportunisten" gelingen, als die Abdel-Samad die Altvordern der Bewegung beschreibt.
Von Mubarak über Jahre geduldet, erklärten sie unmittelbar nach dessen Sturz dem Militärrat ihre ungebrochene Loyalität. Im Gegensatz zu den säkularen Gruppierungen stimmten sie den vom Bündnis der Generäle vorgeschlagenen Verfassungsänderungen zu: Als diese im Frühjahr 2011 in einem Referendum bestätigt wurden, benannten sie sich um in Partei für Gerechtigkeit und Freiheit. Die damit suggerierte Nähe zur Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyep Erdogan ist gewollt. Davon, ob sie dessen wirtschaftlichen und politischen Modernisierungskurs auf ägyptische Verhältnisse übertragen können, hängt Wohl und Wehe der Revolution letztlich ab.
Aber auch die Zukunft Tunesiens und der von Perthes als "halbdemokratische Transformateure" bezeichneten Staaten Jordanien, Marokko, Kuweit, Algerien und Irak steht und fällt mit der inneren Entwicklung des politischen Islam in diesen Ländern: Sollten sich reformerische Kräfte mit ihren Vorstellungen parlamentarischer Demokratie, Gewaltenteilung und der Abhaltung regelmäßig freier Wahlen durchsetzen, könnte dem türkischen Modell tatsächlich Erfolg beschieden sein in der arabischen Welt. Eng damit verbunden: der Einfluss der neben Ägypten großen islamischen Regionalmächte auf die Entwicklungen in den postrevolutionären Staaten, der mehr und mehr zu einem Wettstreit zwischen der liberalen Türkei und des reaktionären Saudi-Arabien wird.
Eines jedenfalls haben die arabischen Aufstände schon jetzt erreicht: den Siegeszug des gewaltsamen, terroristischen Dschihad beendet, den Al Qaida in der Dekade nach dem 11. September 2001 antrat. "Die Tötung Bin Ladens durch amerikanische Spezialeinheiten war für die junge Generation nicht mehr als eine historische Fußnote", so Perthes.
Auch die kläglich gescheiterten Versuche des neuen Al-Qaida-Chefs, Ayman al Zawahiri, die Bewegung auf dem Tahrir-Platz auf die Errichtung eines islamischen Staates einzuschwören, zeugen vom Niedergang des Dschihadismus als islamischer Ideologie. Im bündigen Resümé von Perthes: "Die arabischen Aufstände von 2011 waren nirgendwo auch nur ansatzweise eine islamische Revolution."
MARKUS BICKEL.
Hamed Abdel-Samad: "Krieg oder Frieden". Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens.
Droemer Verlag, München 2011. 236 S., br., 18,- [Euro].
Michael Lüders: "Tage des Zorns". Die arabische Revolution verändert die Welt.
Verlag C.H. Beck, München 2011. 207 S., Abb., geb., 19,95 [Euro].
Volker Perthes: "Der Aufstand". Die arabische Revolution und ihre Folgen.
Pantheon Verlag, München 2011. 224 S., br., 12,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aufstand der Jugend: Ein Jahr nach dem Beginn der Arabellion beschäftigen sich mehrere Bücher mit den Hintergründen, dem Verlauf und den Folgen der Umstürze.
Wer zu spät kommt, den belohnt der Wähler. Zumindest in Ägypten. Als Sieger aus den Parlamentswahlen gingen dort islamistische Parteien hervor, die sich am Aufstand gegen Husni Mubarak zunächst nicht beteiligt hatten. Erst als die von säkularen Kräften getragene Revolte Ende Januar 2011 an Fahrt aufnahm, rief die Führung der Muslimbruderschaft den Präsidenten zu Reformen auf; ohne dass sich ihre Anhänger an den Protesten beteiligten. Geschadet hat ihr diese Haltung nicht: Bei den anstehenden Koalitionsverhandlungen kann sie zwischen liberalen Bündnispartnern und den extremistischen Salafiten der Nur-Partei wählen. Die hatten sich erst gar nicht der Freiheitsbewegung auf Kairos Tahrir-Platz angeschlossen, sondern warteten den Sturz Mubaraks ab, ehe sie die politische Bühne betraten.
Ein Jahr nach dem Sieg der Achtzehn-Tage-Revolution in Ägypten und der Flucht des tunesischen Präsidenten Zine al Abidine Ben Ali nach Saudi-Arabien ist fast ein Dutzend deutschsprachiger Sachbücher erschienen, die sich der schnell als "Arabischer Frühling" titulierten Aufstände in unterschiedlicher Form annehmen. Die Journalisten Karim El-Gawhary, Julia Gerlach und Jörg Armbruster etwa haben ihre Vororterlebnisse zu Papier gebracht; vornehmlich in Reportageform schildern sie den Verlauf der Ereignisse in Nordafrika in der ersten Jahreshälfte 2011. Der Deutsch-Ägypter Hamed Abdel-Samad, bis zu seiner Auswanderung nach Deutschland Anfang der neunziger Jahre selbst Mitglied der Muslimbruderschaft, nimmt dagegen sowohl die Rolle des Aktivisten wie des kritischen Beobachters ein.
Michael Lüders und Volker Perthes gehen darüber hinaus: Sie werfen den Blick nach vorn, entwerfen Szenarien, wo die arabischen Staaten in ein paar Jahren stehen könnten. Getragen sind ihre Analysen von verhaltenem Optimismus. Nicht zuletzt der sachkundige Blick auf die unterschiedlichen Vertreter des politischen Islam macht die Lektüre spannend. Die erwartete Pluralisierung der politischen Systeme fordere auch Ägyptens Muslimbrüder und ihre arabischen Geschwister heraus, so die einigende These: Sie müssten sich lösen "von einer dogmatisch verstandenen Scharia" und offen zeigen "für neue Ideen und Bündnisse", schreibt Lüders. Perthes, Direktor der Berliner Stiftung für Wissenschaft und Politik, kommt zu dem Schluss: "Die Öffnung der politischen Systeme zwingt auch das politisch-islamische Spektrum zu mehr Pluralismus."
Nicht den Durchmarsch der religiösen Kräfte, wie von manchem im Westen gefürchtet, sehen die Autoren als zwangsläufige Folge der arabischen Transformation an, sondern deren Ausdifferenzierung in extremistische, konservative und progressive Strömungen, was in manchen Fällen zu Spaltung und Zersplitterung führen wird. In Ägypten hat dieser Prozess längst begonnen. Abdel-Samad verweist darauf, dass die 1928 gegründeten Muslimbrüder schon immer unterschiedliche Flügel hatte - einen missionarischen, der sich mit der Al-Azhar-Universtität identifizierte, einen salafitisch-konservativen, einen dschihadistischen sowie einen liberalen.
Diese "innere Zerrissenheit" werde bald noch deutlicher hervortreten. Anschaulich beschreibt er, wie sich viele junge Muslimbrüder der Bewegung ihrer säkularen Altersgenossen auf dem Tahrir-Platz anschlossen - gegen das Votum ihrer Parteioberen, die für ihn "nur die andere Seite der Medaille Mubarak" darstellen. Auch Perthes widerspricht der These vom islamischen Erwachen. "Die wichtigste erklärende Variable für den Umbruch dürfte aber in der demographischen Entwicklung liegen: Die arabische Revolte von 2011 ist vor allem ein Aufstand der Jugend."
Trotz der breiten Basis für konservative Volksparteien religiöser Prägung werde die Zeit für die alte Garde der Muslimbrüder bald auslaufen; zu sehr drängten die jungen Reformer auf wirtschaftlichen und politischen Wandel. Ihr Ziel: der Aufbau eines erfolgreichen Staates und damit verbunden das Ende der Klientelwirtschaft, welche die Mubarak-Ära bislang überdauerte. Das könne nur ohne jene "kalkulierende(n) Opportunisten" gelingen, als die Abdel-Samad die Altvordern der Bewegung beschreibt.
Von Mubarak über Jahre geduldet, erklärten sie unmittelbar nach dessen Sturz dem Militärrat ihre ungebrochene Loyalität. Im Gegensatz zu den säkularen Gruppierungen stimmten sie den vom Bündnis der Generäle vorgeschlagenen Verfassungsänderungen zu: Als diese im Frühjahr 2011 in einem Referendum bestätigt wurden, benannten sie sich um in Partei für Gerechtigkeit und Freiheit. Die damit suggerierte Nähe zur Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyep Erdogan ist gewollt. Davon, ob sie dessen wirtschaftlichen und politischen Modernisierungskurs auf ägyptische Verhältnisse übertragen können, hängt Wohl und Wehe der Revolution letztlich ab.
Aber auch die Zukunft Tunesiens und der von Perthes als "halbdemokratische Transformateure" bezeichneten Staaten Jordanien, Marokko, Kuweit, Algerien und Irak steht und fällt mit der inneren Entwicklung des politischen Islam in diesen Ländern: Sollten sich reformerische Kräfte mit ihren Vorstellungen parlamentarischer Demokratie, Gewaltenteilung und der Abhaltung regelmäßig freier Wahlen durchsetzen, könnte dem türkischen Modell tatsächlich Erfolg beschieden sein in der arabischen Welt. Eng damit verbunden: der Einfluss der neben Ägypten großen islamischen Regionalmächte auf die Entwicklungen in den postrevolutionären Staaten, der mehr und mehr zu einem Wettstreit zwischen der liberalen Türkei und des reaktionären Saudi-Arabien wird.
Eines jedenfalls haben die arabischen Aufstände schon jetzt erreicht: den Siegeszug des gewaltsamen, terroristischen Dschihad beendet, den Al Qaida in der Dekade nach dem 11. September 2001 antrat. "Die Tötung Bin Ladens durch amerikanische Spezialeinheiten war für die junge Generation nicht mehr als eine historische Fußnote", so Perthes.
Auch die kläglich gescheiterten Versuche des neuen Al-Qaida-Chefs, Ayman al Zawahiri, die Bewegung auf dem Tahrir-Platz auf die Errichtung eines islamischen Staates einzuschwören, zeugen vom Niedergang des Dschihadismus als islamischer Ideologie. Im bündigen Resümé von Perthes: "Die arabischen Aufstände von 2011 waren nirgendwo auch nur ansatzweise eine islamische Revolution."
MARKUS BICKEL.
Hamed Abdel-Samad: "Krieg oder Frieden". Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens.
Droemer Verlag, München 2011. 236 S., br., 18,- [Euro].
Michael Lüders: "Tage des Zorns". Die arabische Revolution verändert die Welt.
Verlag C.H. Beck, München 2011. 207 S., Abb., geb., 19,95 [Euro].
Volker Perthes: "Der Aufstand". Die arabische Revolution und ihre Folgen.
Pantheon Verlag, München 2011. 224 S., br., 12,99 [Euro].
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"Volker Perthes' fundierter Analyse der aktuellen Entwicklungen in der arabischen Welt ist zu wünschen, dass sie viele Leser findet." Richard von Weizsäcker
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Aus den rund ein Dutzend umfassenden deutschsprachigen Büchern zur arabischen Revolution, die vor einem Jahr in Ägypten ihren Anfang nahm, hat Markus Bickel auch dieses Buch herausgegriffen. Volker Perthes blickt in seinem Buch zum arabischen Frühling "verhalten" optimistisch in die Zukunft, stellt der Rezensent fest. Für den Autor ist die arabische Revolution vor allem ein "Aufstand der Jugend", die der dschihadistischen Bewegung, die mit den Al-Qaida-Anschlägen vom 11. September begann, ein Ende setzt. Insbesondere dass der Autor, Direktor der Berliner Stiftung für Wissenschaft und Politik", die unterschiedlichen Strömungen des politischen Islam in den Blick nimmt, macht die Lektüre für den eingenommenen Rezensenten so fesselnd.
© Perlentaucher Medien GmbH
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