»Der Augenblick« das sind Reisen in den unbekannten Alltag einer Buchhändlerin, einer Kulturwissenschaftlerin, einer Arbeitslosen, einer Kioskfrau oder einer Bienenforscherin, in den Alltag von sechsundzwanzig Frauen, wie wir ihn so nur selten oder nie erzählt kriegen. Gabriele Goettle geht von der Selbstverständlichkeit aus, mit der sich Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen behaupten, sie interessiert sich für ihr Wissen, für ihre Lebenserfahrung, für ihre Besonderheit. Wenn die Medizinhistorikerin Ortrun Riha von der Pest erzählt, ist von Anfang an klar, dass »gegen eine plötzliche Verwandlung einer gesunden, friedlichen Bevölkerung in eine hochinfektiöse und todkranke trotz aller Krisenpläne keine moderne Gesellschaft gewappnet ist«. Wenn die Kulturhistorikerin Anna Bergmann darüber spricht, was es bedeutet, dass der Tod seit der ersten Herztransplantation 1967 nicht mehr durch den Stillstand von Herz und Kreislauf, sondern den des Gehirns festgestellt wird, bekommt die aktuelle Debatte um die Organspende eine andere Perspektive. Gabriele Goettles Reportagen kommen stets vom Allgemeinen zum Besonderen, vom Beruflichen zum Privaten, ihr Stil ist so schnörkellos wie empathisch. Sie nimmt die Subjektivität ihres Gegenübers ernst, und in einem Augenblick wird mehr von der Welterfahrung von Frauen deutlich, von ihren ganz unterschiedlichen Leben, als in vielen hochgelobten Gender-Debatten. Das ist der große Reiz dieser Reisen in einen unbekannten Alltag.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Der Respekt vor der Autorin ist dem Rezensenten deutlich anzumerken. Noch ein leiser Kritikpunkt, nämlich dass Garbiele Goettle in den hier versammelten Frauenporträts kaum Atmosphäre zulässt (aus Angst vor Kitsch?) wird zum Lob: Goettle konzentriere sich einfach auf die tollen Monologe, die laut Alex Rühle mitunter ganze, recht entlegene Wissensgebiete abstecken, etwa, wenn eine Bienenzüchterin erzählt, eine Ballerina oder eine alte Kioskbesitzerin die Wirtschaftswunderzeit Revue passieren lässt, perspektivisch von janz unten, freut sich Rühle, und im eigenen Tonfall. Für Rühle "oral history" vom Feinsten. Wenn es der Autorin darüber hinaus gelingt zu illustrieren, was Engagement heißen kann, ist Rühle vollends glücklich mit diesem Buch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.09.2012Frauen wie du und ich
Gabriele Goettle zeigt Autonomiepotentiale
Irgendwie hat man, auch ohne es wirklich zu wissen, auf dieses Buch gewartet. Denn in einer Zeit wie unserer, in der viel und mit gutem Grund über die Rollen debattiert wird, die Frauen in der Gesellschaft einnehmen, in der man fragt, wie viele Freiheiten Frauen fordern und welche Verantwortungen sie keinesfalls abgeben dürfen, in der diese wichtige Debatte immer wieder auf Abwege gerät und dann um sich selbst zu kreisen scheint, weil sie zwar einerseits nicht geführt werden kann, ohne verallgemeinernde Annahmen zugrundezulegen ("Die Frauen wollen . . ."), weil sie andererseits aber gerade von diesen Generalisierungen immer wieder bedroht wird, in einer solchen Zeit also ist es gut, die Frauen einmal selbst zu Wort kommen zu lassen. Das geht - man möge die nestbeschmutzende Bemerkung verzeihen - offenbar nicht unter vierhundert Seiten. Aber die haben es in sich.
Denn von wem reden wir eigentlich, wenn wir von Frauen reden? Darauf gibt die Journalistin Gabriele Goettle eine Antwort, oder besser, sie gibt 26 Antworten, so viele Kapitel hat ihr neues Buch "Der Augenblick". Die hier versammelten Texte waren zwar alle im Laufe der vergangenen Jahre schon in der "taz" zu lesen, aber sie sind es Wert, in Buchform zu erscheinen, zumal wenn, wie hier geschehen, eine kluge Anordnung dafür sorgt, dass sie sich immer wieder aufeinander beziehen. Alle Texte sind nach dem gleichen Schema aufgebaut: Sie beginnen mit einem Curriculum Vitae, dann folgt, vor allem bei ausgefallenen Berufsbildern oder politischer Tätigkeit, eine kurze Einführung ins Sujet, und schließlich sprechen die Frauen selbst - über das, was sie tun, und darüber, woher sie kommen. Denn darum geht es Gabriele Goettle: Um den Alltag von in Deutschland lebenden Frauen, die auf den ersten Blick Allerweltsfrauen sind, Ottonormalverbraucherinnen reinsten Wassers, Frauen wie du und ich. Es geht um die Frage, warum und wie sie wurden, was sie sind.
Sie sind: Buchhändlerin, Medizinhistorikerin, Kulturwissenschaftlerin, Bäuerin, Ballerina, Schulleiterin oder arbeitslos. Manche haben seltene oder beinahe ausgestorbene Berufe: Die Dresdner "Moulagenkünstlerin" Elfriede Walther etwa ist über achtzig Jahre alt und eine der letzten, die noch weiß, wie man plastische, detailgetreue Abbilder von äußerlichen Krankheitssymptomen, etwa Tumorbeulen, anfertigt. Viele arbeiten bei sozial tätigen Vereinen, die sie oft auch selbst gegründet haben: Das Berliner Krisentelefon "Pflege in Not" etwa oder die Beratungsstelle für Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution in Frankfurt/Oder, "Bella Donna". Gerade diese Frauen wirken oft wie weibliche Don Quijotes, die mit unerschöpflicher Energie gegen bürokratische Windmühlen kämpfen, natürlich vor allem weil sie mehr und schnellere finanzielle Unterstützung brauchen.
Oft ist die Arbeit der vorgestellten Frauen sehr wichtig, schlecht bezahlt und wenig angesehen - und was erstaunt, ist die ungeheure Konsequenz, mit der sie alle, ganz gleich ob sie am Ende Erfolg hatten oder nicht, ihre Wege gegangen sind. Autonomie ist das Schlüsselwort, auffällig ist das Fehlen jeden Kompromisses, es scheint keine Deals zu geben. So aber ist das, was diese Frauen auszeichnet, gleichzeitig auch etwas, das sie in gewisser Weise isoliert: Denn die Mehrzahl von ihnen ist zwischen 1940 und 1965 geboren, mithin in einer Zeit, in der schon viele Frauen die Frage nach der Priorität der Familie vor dem Beruf mit einem "Ja, aber . . ." beantwortet haben. Eine Frau mit Ehemann, zwei Kindern und Teilzeitjob, sei es als Lehrerin, als Sekretärin oder Krankenschwester, fehlt hier aber völlig. Auch Frauen unter vierzig Jahren sucht man vergebens. Und schließlich zeugt die Auswahl der Frauen auch von einer Milieuvorliebe auf Seiten der Autorin: Gabriele Goettles Bäuerin lebt eben nicht im Allgäu, sondern im Wendland und ist seit Jahrzehnten in der Anti-AKW-Bewegung engagiert. In diesem Buch ist sie damit gewissermaßen prima inter pares.
Das alles schmälert den zugleich spannenden und tiefblickenden Charakter dieses Buches keineswegs. Es wären aber gute Gründe, das Spektrum künftig zu erweitern und so etwas zu schaffen, das tatsächlich ein Panorama des weiblichen Teils unserer Gesellschaft sein könnte. Dann würde man auch sehen, dass vierhundert Seiten dafür viel zu wenig sind.
LENA BOPP
Gabriele Goettle: "Der Augenblick". Reisen durch den unbekannten Alltag. Reportagen.
Kunstmann Verlag, München 2012. 396 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gabriele Goettle zeigt Autonomiepotentiale
Irgendwie hat man, auch ohne es wirklich zu wissen, auf dieses Buch gewartet. Denn in einer Zeit wie unserer, in der viel und mit gutem Grund über die Rollen debattiert wird, die Frauen in der Gesellschaft einnehmen, in der man fragt, wie viele Freiheiten Frauen fordern und welche Verantwortungen sie keinesfalls abgeben dürfen, in der diese wichtige Debatte immer wieder auf Abwege gerät und dann um sich selbst zu kreisen scheint, weil sie zwar einerseits nicht geführt werden kann, ohne verallgemeinernde Annahmen zugrundezulegen ("Die Frauen wollen . . ."), weil sie andererseits aber gerade von diesen Generalisierungen immer wieder bedroht wird, in einer solchen Zeit also ist es gut, die Frauen einmal selbst zu Wort kommen zu lassen. Das geht - man möge die nestbeschmutzende Bemerkung verzeihen - offenbar nicht unter vierhundert Seiten. Aber die haben es in sich.
Denn von wem reden wir eigentlich, wenn wir von Frauen reden? Darauf gibt die Journalistin Gabriele Goettle eine Antwort, oder besser, sie gibt 26 Antworten, so viele Kapitel hat ihr neues Buch "Der Augenblick". Die hier versammelten Texte waren zwar alle im Laufe der vergangenen Jahre schon in der "taz" zu lesen, aber sie sind es Wert, in Buchform zu erscheinen, zumal wenn, wie hier geschehen, eine kluge Anordnung dafür sorgt, dass sie sich immer wieder aufeinander beziehen. Alle Texte sind nach dem gleichen Schema aufgebaut: Sie beginnen mit einem Curriculum Vitae, dann folgt, vor allem bei ausgefallenen Berufsbildern oder politischer Tätigkeit, eine kurze Einführung ins Sujet, und schließlich sprechen die Frauen selbst - über das, was sie tun, und darüber, woher sie kommen. Denn darum geht es Gabriele Goettle: Um den Alltag von in Deutschland lebenden Frauen, die auf den ersten Blick Allerweltsfrauen sind, Ottonormalverbraucherinnen reinsten Wassers, Frauen wie du und ich. Es geht um die Frage, warum und wie sie wurden, was sie sind.
Sie sind: Buchhändlerin, Medizinhistorikerin, Kulturwissenschaftlerin, Bäuerin, Ballerina, Schulleiterin oder arbeitslos. Manche haben seltene oder beinahe ausgestorbene Berufe: Die Dresdner "Moulagenkünstlerin" Elfriede Walther etwa ist über achtzig Jahre alt und eine der letzten, die noch weiß, wie man plastische, detailgetreue Abbilder von äußerlichen Krankheitssymptomen, etwa Tumorbeulen, anfertigt. Viele arbeiten bei sozial tätigen Vereinen, die sie oft auch selbst gegründet haben: Das Berliner Krisentelefon "Pflege in Not" etwa oder die Beratungsstelle für Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution in Frankfurt/Oder, "Bella Donna". Gerade diese Frauen wirken oft wie weibliche Don Quijotes, die mit unerschöpflicher Energie gegen bürokratische Windmühlen kämpfen, natürlich vor allem weil sie mehr und schnellere finanzielle Unterstützung brauchen.
Oft ist die Arbeit der vorgestellten Frauen sehr wichtig, schlecht bezahlt und wenig angesehen - und was erstaunt, ist die ungeheure Konsequenz, mit der sie alle, ganz gleich ob sie am Ende Erfolg hatten oder nicht, ihre Wege gegangen sind. Autonomie ist das Schlüsselwort, auffällig ist das Fehlen jeden Kompromisses, es scheint keine Deals zu geben. So aber ist das, was diese Frauen auszeichnet, gleichzeitig auch etwas, das sie in gewisser Weise isoliert: Denn die Mehrzahl von ihnen ist zwischen 1940 und 1965 geboren, mithin in einer Zeit, in der schon viele Frauen die Frage nach der Priorität der Familie vor dem Beruf mit einem "Ja, aber . . ." beantwortet haben. Eine Frau mit Ehemann, zwei Kindern und Teilzeitjob, sei es als Lehrerin, als Sekretärin oder Krankenschwester, fehlt hier aber völlig. Auch Frauen unter vierzig Jahren sucht man vergebens. Und schließlich zeugt die Auswahl der Frauen auch von einer Milieuvorliebe auf Seiten der Autorin: Gabriele Goettles Bäuerin lebt eben nicht im Allgäu, sondern im Wendland und ist seit Jahrzehnten in der Anti-AKW-Bewegung engagiert. In diesem Buch ist sie damit gewissermaßen prima inter pares.
Das alles schmälert den zugleich spannenden und tiefblickenden Charakter dieses Buches keineswegs. Es wären aber gute Gründe, das Spektrum künftig zu erweitern und so etwas zu schaffen, das tatsächlich ein Panorama des weiblichen Teils unserer Gesellschaft sein könnte. Dann würde man auch sehen, dass vierhundert Seiten dafür viel zu wenig sind.
LENA BOPP
Gabriele Goettle: "Der Augenblick". Reisen durch den unbekannten Alltag. Reportagen.
Kunstmann Verlag, München 2012. 396 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main