Produktdetails
- Verlag: Propyläen
- 1994.
- Seitenzahl: 659
- Deutsch
- Abmessung: 328mm x 258mm x 73mm
- Gewicht: 2258g
- ISBN-13: 9783549058169
- Artikelnr.: 24642645
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.03.1995Funkelnde Scherben in der vormärzlichen Sonne
Dick, aber nicht rund: James J. Sheehans Werk über das Ende des alten Reiches und den Deutschen Bund
Es gibt nicht viele Epochen der deutschen Geschichte, die einen so völligen Umbruch darzustellen und zu erklären haben wie die siebenundachtzig Jahre zwischen 1763 und 1850. Politisch sind es drei Deutschland, die es zu beschreiben gilt: das alte Reich, mit seiner schwierigen, in neunhundert Jahren gewachsenen Verfassung, der napoleonische Wirbelsturm, der in Deutschland eine Reihe hochmoderner Staaten entstehen ließ, und schließlich der Vormärz, dessen Name schon die Ratlosigkeit darüber widerspiegelt, wie man diese Zeit am zutreffendsten bezeichnen könnte. Dazu kam eine in ihren Ursachen bis heute nicht geklärte Bevölkerungszunahme, die zusammen mit der einsetzenden Industrialisierung ganz neue Probleme schuf.
Die Brüche dieser Zeit zeigen sich auch in einem Umschlagen des Geschmacks in der Kunst. In den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts trat ein so radikaler Wandel vom höfischen Rokoko zum steifen Empire ein, daß Künstler der alten Stilrichtung keine Aufträge mehr erhielten und verarmten. Abgelöst wurde das Empire von dem einfacheren Biedermeier. In der Literatur und der Musik verlief der Wandel harmonischer, aber auch hier erlebte Deutschland grundlegende Veränderungen. Dasselbe gilt für die Theologie und Philosophie dieser Zeit. Diesen sechsten Band der Propyläengeschichte Deutschlands zu schreiben war daher keine leichte Aufgabe. Der Verlag legt zehn Jahre nach dem Erscheinen des fünften Bandes eine Übersetzung des bei Oxford University Press erschienenen Werkes von James J. Sheehan "German history 1770-1866" vor.
Sheehan beginnt seine Darstellung mit einer kurzgefaßten Beschreibung der alten Reichsverfassung, die insgesamt einen guten Überblick gibt. Die folgenden Abschnitte, die das Leben im alten Reich darstellen, sind allerdings eine herbe Enttäuschung. Nun sei gerne zugegeben, daß es eine gar nicht leicht zu lösende Aufgabe ist, auf wenigen Seiten die Lebensbedingungen im alten Reich darzustellen. Das geht wahrscheinlich nur, indem man die Funktionen des Reiches beschreibt und von daher an die Besonderheiten dieses eigenartigen Gebildes heranzukommen sucht. Sheehan wählt einen anderen Weg, indem er da und dort Beispiele aufzeigt, die das Reich als ein großes Chaos erscheinen lassen, ohne daß die innere, durchaus vorhandene Ordnung des Ganzen erkennbar wird. Wir wissen heute einfach mehr über die Zustände des Reiches in seinen letzten Jahrzehnten. Hier vermißt man die ordnende Hand des Herausgebers Dieter Groh.
Diese Tendenz wird noch durch unrichtige Angaben verstärkt. Der Bischof von Olmütz, um ein besonders krasses Beispiel zu nennen, der im Gegensatz zu den geistlichen Fürsten im Reich nie ein Fürst mit weltlichem Territorium war und der daher auch kein Münzrecht und keine Armee besaß, wird als Beispiel eines kirchlichen Fürsten herausgestellt, der eben mit diesen Einrichtungen den Kaiser verärgert habe. Ganz unbegreiflich ist, warum der Verfasser behauptet, die Fürsten und Reichsgrafen hätten sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch Rüstungen hoch verschuldet. Fast alle Reichsfürsten haben, mit Ausnahme der beiden Großmächte Österreich und Preußen, ihre Armeen verfallen lassen, um ihre Schloßbauten zu finanzieren. Die geringe Verteidigungsbereitschaft selbst so großer Territorien wie Sachsen oder Bayern ist gerade ein Charakteristikum des Reiches am Ende des 18. Jahrhunderts.
Es wäre nun ungerecht, alle die Schiefheiten und Unrichtigkeiten aufzuzählen, die sich in den ersten drei Kapiteln über Politik, Gesellschaft und Kultur im 18. Jahrhundert finden, wenn sich nicht der Eindruck aufdrängen würde, daß der Verfasser seine Beispiele aus Unkenntnis der wahren Verhältnisse ausgewählt hat. Die Chance, von den wirklichen Verhältnissen ausgehend, die Unmöglichkeit, im Reich auf die Herausforderungen einer sich wandelnden Welt einzugehen und von daher das Weiterwirken ihrer Traditionen aufzuzeigen, ist damit leider vertan. Der nach 1806 überall in Deutschland, in den Rheinbundstaaten ebenso wie in Preußen einsetzende Reformeifer erklärt sich nämlich neben dem französischen Vorbild auch aus der Unmöglichkeit, Reformen in dem von der Rechtsordnung der Reichsverfassung gegebenen engen Rahmen durchzuführen. Das Ende des Reiches wirkte daher für jene Reformbeamten wie eine Befreiung, die sich mit den Ideen einer Modernisierung des Staates auseinandergesetzt hatten. Das Unverständnis der Bevölkerung für die nach 1806 einsetzenden Reformen findet hier seine Ursache.
Hat man die Enttäuschung über die drei einleitenden Kapitel überwunden, die deshalb besonders groß ist, weil das Buch den Titel "Der Ausklang des alten Reiches" trägt, so wird man bei der Schilderung des 19. Jahrhunderts reich entschädigt. Sheehan gelingt es, die politische Geschichte mit Sozial-, Wirtschafts- und Geistesgeschichte in jeweils klar gegliederten Unterabschnitten so miteinander zu verbinden, daß ein überzeugendes Gesamtbild entsteht. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Geistesgeschichte, wo dem Verfasser Schilderungen von großer Dichte gelingen, ohne daß etwa die politische Geschichte vernachlässigt würde. Manche Bereiche kommen allerdings etwas zu kurz. So hätte man sich gewünscht, in derselben Dichte etwas über die reiche, im ganzen Reich verbreitete Musikkultur an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zu erfahren. Eine Darstellung der bildenden Kunst fehlt ganz.
Die Stärke dieses Buches liegt weniger in breit angelegten Analysen, in denen Verbindungslinien zu allgemein europäischen Entwicklungen gezogen werden, als in Detailstudien, die mit großem Einfühlungsvermögen geboten werden.
So wird man nicht leicht eine ähnlich präzise Beschreibung der süddeutschen Verfassungsbewegung von 1818 bis 1820 finden. Dasselbe gilt für die katholische Reformbewegung in Deutschland in den Jahren 1815 bis 1830, die in den meisten Darstellungen höchstens am Rande erwähnt wird. Wer sonst hätte je die Auseinandersetzungen in der katholischen Theologie erwähnt, die mit dem Namen Georg Hermes und seines österreichischen Pendants Anton Günther verbunden waren? In beiden Fällen verzichtet Sheehan aber darauf, sie in den Zusammenhang mit der europäischen Entwicklung zu stellen, und erklärt sie als rein deutsche Phänomene.
Die süddeutschen Verfassungen haben aber eben in der französischen Charte von 1814 ihr Vorbild, und Metternichs Reaktion darauf ist eigentlich nur aus der Tatsache zu verstehen, daß die noch über die Charte hinausgehende Verfassung von Cádiz in der italienischen Staatenwelt zur selben Zeit Nachahmer fand. Die katholische Reformbewegung wiederum ist ohne die Sympathien des reformwilligen Papstes Pius VIII. und ohne das Wirken des Franzosen Lamennais nicht zu erklären. Sheehans Schilderung der protestantischen Theologie von Schleiermacher bis David Friedrich Strauß gehört zu den besonders gelungenen Partien des Buches. Der Autor versteht es, diese für die deutsche Geistesgeschichte so wichtige Entwicklung in einen geistigen Zusammenhang mit der Philosophie ihrer Zeit zu stellen.
Zuweilen ist man über die Zuordnung eines Themas erstaunt. Humboldts Bildungsreform gehört zu den Kernstücken der preußischen Reformen. Man ist daher überrascht, hierzu bei der sonst sehr eingehenden und ausführlichen Schilderung der preußischen Reformen lediglich die Bemerkung zu finden, es wären "einige Veränderungen im Bildungsbereich vorgenommen worden". Fünfzig Seiten später wird Humboldts Wirken als Bildungsreformer eingehend gewürdigt. Hier fehlt dann allerdings der Zusammenhang mit den anderen Reformen. Die Bildungsreform, mit ihrem Ideal des durch die Beschäftigung mit den Wissenschaften frei gewordenen Menschen, ist aber ein Kernstück des ein Torso gebliebenen preußischen Reformprogramms.
Die Neuordnung Deutschlands in dem auf dem Wiener Kongreß entstandenen Deutschen Bund sieht Sheehan als eine große Enttäuschung aller nationalen Hoffnungen. Dazu kam, und hier ist der Verfasser nicht weniger kritisch, das Versagen des in allen Ländern sich entwickelnden Beamtenabsolutismus, dem es in einer seltsamen Erstarrung ebenfalls nicht gelang, der großen Probleme der Zeit, wie der Folgen der einsetzenden Industrialisierung, der anwachsenden Bevölkerungszahl und der damit verbundenen zunehmenden Verarmung breiter Bevölkerungsschichten, Herr zu werden.
Das Versagen des Deutschen Bundes gegenüber den nationalen wirtschaftlichen und sozialen Problemen der Zeit ging sicherlich auf Metternich und seine Revolutionsangst zurück, aber es versagten, und das macht Sheehan sehr deutlich, eben auch die Bürokratien in den einzelnen Ländern, die am Ende keinen besseren Rat wußten, als das Militär mit allen verheerenden Folgen gegen die Revoltierenden einzusetzen. Die Revolutionsfurcht der Regierenden wird nicht weniger als die der Liberalen als Ursache für eine Entwicklung gezeigt, die dann in der Revolution von 1848/49 kumuliert. 1830 hatten die Regierenden die Warnungen vor revolutionären Kräften noch übersehen. 1848/49 wichen sie vor einer Entwicklung zurück, die sich mit etwas mehr Gelassenheit wahrscheinlich hätte steuern lassen. Sheehans Abschnitt über die Revolution wirkt etwas drangesetzt. Hier gibt es bessere Schilderungen.
Eine gewisse Schwäche dieses Werkes liegt in der Vernachlässigung wirtschaftlicher Zusammenhänge. Es fehlt ein Hinweis auf die Auswirkungen der von Napoleon gegen England verhängten Kontinentalsperre auf die wirtschaftliche und industrielle Entwicklung in Deutschland. Fast noch wichtiger wäre gewesen, den Zusammenhang aufzuzeigen, der zwischen dem Eisenbahnbau und der Entwicklung des deutschen Bankwesens bestand. Hier hat das Werk Schwächen, die auf der anderen Seite durch gute Lesbarkeit, eine klare Gliederung und durch den Reichtum an Gesichtspunkten wettgemacht wird. Es ist eine sehr eigenwillige Darstellung dieser Zeit, die manche Akzente anders setzt, als man es gewohnt ist. In der Darstellung geistesgeschichtlicher Entwicklungen erreicht dieses Werk eine Dichte und Überlegenheit, die beispielhaft ist. KARL OTMAR FREIHERR VON ARETIN
"Propyläen Geschichte Deutschlands". Band 6: James J. Sheehan: "Der Ausklang des alten Reiches". Deutschland seit dem Ende des Siebenjährigen Krieges bis zur gescheiterten Revolution. 1763 bis 1850. Deutsch von Karl Heinz Siber. Propyläen Verlag, Berlin 1994. 659 S., Abb., geb., 248,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dick, aber nicht rund: James J. Sheehans Werk über das Ende des alten Reiches und den Deutschen Bund
Es gibt nicht viele Epochen der deutschen Geschichte, die einen so völligen Umbruch darzustellen und zu erklären haben wie die siebenundachtzig Jahre zwischen 1763 und 1850. Politisch sind es drei Deutschland, die es zu beschreiben gilt: das alte Reich, mit seiner schwierigen, in neunhundert Jahren gewachsenen Verfassung, der napoleonische Wirbelsturm, der in Deutschland eine Reihe hochmoderner Staaten entstehen ließ, und schließlich der Vormärz, dessen Name schon die Ratlosigkeit darüber widerspiegelt, wie man diese Zeit am zutreffendsten bezeichnen könnte. Dazu kam eine in ihren Ursachen bis heute nicht geklärte Bevölkerungszunahme, die zusammen mit der einsetzenden Industrialisierung ganz neue Probleme schuf.
Die Brüche dieser Zeit zeigen sich auch in einem Umschlagen des Geschmacks in der Kunst. In den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts trat ein so radikaler Wandel vom höfischen Rokoko zum steifen Empire ein, daß Künstler der alten Stilrichtung keine Aufträge mehr erhielten und verarmten. Abgelöst wurde das Empire von dem einfacheren Biedermeier. In der Literatur und der Musik verlief der Wandel harmonischer, aber auch hier erlebte Deutschland grundlegende Veränderungen. Dasselbe gilt für die Theologie und Philosophie dieser Zeit. Diesen sechsten Band der Propyläengeschichte Deutschlands zu schreiben war daher keine leichte Aufgabe. Der Verlag legt zehn Jahre nach dem Erscheinen des fünften Bandes eine Übersetzung des bei Oxford University Press erschienenen Werkes von James J. Sheehan "German history 1770-1866" vor.
Sheehan beginnt seine Darstellung mit einer kurzgefaßten Beschreibung der alten Reichsverfassung, die insgesamt einen guten Überblick gibt. Die folgenden Abschnitte, die das Leben im alten Reich darstellen, sind allerdings eine herbe Enttäuschung. Nun sei gerne zugegeben, daß es eine gar nicht leicht zu lösende Aufgabe ist, auf wenigen Seiten die Lebensbedingungen im alten Reich darzustellen. Das geht wahrscheinlich nur, indem man die Funktionen des Reiches beschreibt und von daher an die Besonderheiten dieses eigenartigen Gebildes heranzukommen sucht. Sheehan wählt einen anderen Weg, indem er da und dort Beispiele aufzeigt, die das Reich als ein großes Chaos erscheinen lassen, ohne daß die innere, durchaus vorhandene Ordnung des Ganzen erkennbar wird. Wir wissen heute einfach mehr über die Zustände des Reiches in seinen letzten Jahrzehnten. Hier vermißt man die ordnende Hand des Herausgebers Dieter Groh.
Diese Tendenz wird noch durch unrichtige Angaben verstärkt. Der Bischof von Olmütz, um ein besonders krasses Beispiel zu nennen, der im Gegensatz zu den geistlichen Fürsten im Reich nie ein Fürst mit weltlichem Territorium war und der daher auch kein Münzrecht und keine Armee besaß, wird als Beispiel eines kirchlichen Fürsten herausgestellt, der eben mit diesen Einrichtungen den Kaiser verärgert habe. Ganz unbegreiflich ist, warum der Verfasser behauptet, die Fürsten und Reichsgrafen hätten sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch Rüstungen hoch verschuldet. Fast alle Reichsfürsten haben, mit Ausnahme der beiden Großmächte Österreich und Preußen, ihre Armeen verfallen lassen, um ihre Schloßbauten zu finanzieren. Die geringe Verteidigungsbereitschaft selbst so großer Territorien wie Sachsen oder Bayern ist gerade ein Charakteristikum des Reiches am Ende des 18. Jahrhunderts.
Es wäre nun ungerecht, alle die Schiefheiten und Unrichtigkeiten aufzuzählen, die sich in den ersten drei Kapiteln über Politik, Gesellschaft und Kultur im 18. Jahrhundert finden, wenn sich nicht der Eindruck aufdrängen würde, daß der Verfasser seine Beispiele aus Unkenntnis der wahren Verhältnisse ausgewählt hat. Die Chance, von den wirklichen Verhältnissen ausgehend, die Unmöglichkeit, im Reich auf die Herausforderungen einer sich wandelnden Welt einzugehen und von daher das Weiterwirken ihrer Traditionen aufzuzeigen, ist damit leider vertan. Der nach 1806 überall in Deutschland, in den Rheinbundstaaten ebenso wie in Preußen einsetzende Reformeifer erklärt sich nämlich neben dem französischen Vorbild auch aus der Unmöglichkeit, Reformen in dem von der Rechtsordnung der Reichsverfassung gegebenen engen Rahmen durchzuführen. Das Ende des Reiches wirkte daher für jene Reformbeamten wie eine Befreiung, die sich mit den Ideen einer Modernisierung des Staates auseinandergesetzt hatten. Das Unverständnis der Bevölkerung für die nach 1806 einsetzenden Reformen findet hier seine Ursache.
Hat man die Enttäuschung über die drei einleitenden Kapitel überwunden, die deshalb besonders groß ist, weil das Buch den Titel "Der Ausklang des alten Reiches" trägt, so wird man bei der Schilderung des 19. Jahrhunderts reich entschädigt. Sheehan gelingt es, die politische Geschichte mit Sozial-, Wirtschafts- und Geistesgeschichte in jeweils klar gegliederten Unterabschnitten so miteinander zu verbinden, daß ein überzeugendes Gesamtbild entsteht. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Geistesgeschichte, wo dem Verfasser Schilderungen von großer Dichte gelingen, ohne daß etwa die politische Geschichte vernachlässigt würde. Manche Bereiche kommen allerdings etwas zu kurz. So hätte man sich gewünscht, in derselben Dichte etwas über die reiche, im ganzen Reich verbreitete Musikkultur an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zu erfahren. Eine Darstellung der bildenden Kunst fehlt ganz.
Die Stärke dieses Buches liegt weniger in breit angelegten Analysen, in denen Verbindungslinien zu allgemein europäischen Entwicklungen gezogen werden, als in Detailstudien, die mit großem Einfühlungsvermögen geboten werden.
So wird man nicht leicht eine ähnlich präzise Beschreibung der süddeutschen Verfassungsbewegung von 1818 bis 1820 finden. Dasselbe gilt für die katholische Reformbewegung in Deutschland in den Jahren 1815 bis 1830, die in den meisten Darstellungen höchstens am Rande erwähnt wird. Wer sonst hätte je die Auseinandersetzungen in der katholischen Theologie erwähnt, die mit dem Namen Georg Hermes und seines österreichischen Pendants Anton Günther verbunden waren? In beiden Fällen verzichtet Sheehan aber darauf, sie in den Zusammenhang mit der europäischen Entwicklung zu stellen, und erklärt sie als rein deutsche Phänomene.
Die süddeutschen Verfassungen haben aber eben in der französischen Charte von 1814 ihr Vorbild, und Metternichs Reaktion darauf ist eigentlich nur aus der Tatsache zu verstehen, daß die noch über die Charte hinausgehende Verfassung von Cádiz in der italienischen Staatenwelt zur selben Zeit Nachahmer fand. Die katholische Reformbewegung wiederum ist ohne die Sympathien des reformwilligen Papstes Pius VIII. und ohne das Wirken des Franzosen Lamennais nicht zu erklären. Sheehans Schilderung der protestantischen Theologie von Schleiermacher bis David Friedrich Strauß gehört zu den besonders gelungenen Partien des Buches. Der Autor versteht es, diese für die deutsche Geistesgeschichte so wichtige Entwicklung in einen geistigen Zusammenhang mit der Philosophie ihrer Zeit zu stellen.
Zuweilen ist man über die Zuordnung eines Themas erstaunt. Humboldts Bildungsreform gehört zu den Kernstücken der preußischen Reformen. Man ist daher überrascht, hierzu bei der sonst sehr eingehenden und ausführlichen Schilderung der preußischen Reformen lediglich die Bemerkung zu finden, es wären "einige Veränderungen im Bildungsbereich vorgenommen worden". Fünfzig Seiten später wird Humboldts Wirken als Bildungsreformer eingehend gewürdigt. Hier fehlt dann allerdings der Zusammenhang mit den anderen Reformen. Die Bildungsreform, mit ihrem Ideal des durch die Beschäftigung mit den Wissenschaften frei gewordenen Menschen, ist aber ein Kernstück des ein Torso gebliebenen preußischen Reformprogramms.
Die Neuordnung Deutschlands in dem auf dem Wiener Kongreß entstandenen Deutschen Bund sieht Sheehan als eine große Enttäuschung aller nationalen Hoffnungen. Dazu kam, und hier ist der Verfasser nicht weniger kritisch, das Versagen des in allen Ländern sich entwickelnden Beamtenabsolutismus, dem es in einer seltsamen Erstarrung ebenfalls nicht gelang, der großen Probleme der Zeit, wie der Folgen der einsetzenden Industrialisierung, der anwachsenden Bevölkerungszahl und der damit verbundenen zunehmenden Verarmung breiter Bevölkerungsschichten, Herr zu werden.
Das Versagen des Deutschen Bundes gegenüber den nationalen wirtschaftlichen und sozialen Problemen der Zeit ging sicherlich auf Metternich und seine Revolutionsangst zurück, aber es versagten, und das macht Sheehan sehr deutlich, eben auch die Bürokratien in den einzelnen Ländern, die am Ende keinen besseren Rat wußten, als das Militär mit allen verheerenden Folgen gegen die Revoltierenden einzusetzen. Die Revolutionsfurcht der Regierenden wird nicht weniger als die der Liberalen als Ursache für eine Entwicklung gezeigt, die dann in der Revolution von 1848/49 kumuliert. 1830 hatten die Regierenden die Warnungen vor revolutionären Kräften noch übersehen. 1848/49 wichen sie vor einer Entwicklung zurück, die sich mit etwas mehr Gelassenheit wahrscheinlich hätte steuern lassen. Sheehans Abschnitt über die Revolution wirkt etwas drangesetzt. Hier gibt es bessere Schilderungen.
Eine gewisse Schwäche dieses Werkes liegt in der Vernachlässigung wirtschaftlicher Zusammenhänge. Es fehlt ein Hinweis auf die Auswirkungen der von Napoleon gegen England verhängten Kontinentalsperre auf die wirtschaftliche und industrielle Entwicklung in Deutschland. Fast noch wichtiger wäre gewesen, den Zusammenhang aufzuzeigen, der zwischen dem Eisenbahnbau und der Entwicklung des deutschen Bankwesens bestand. Hier hat das Werk Schwächen, die auf der anderen Seite durch gute Lesbarkeit, eine klare Gliederung und durch den Reichtum an Gesichtspunkten wettgemacht wird. Es ist eine sehr eigenwillige Darstellung dieser Zeit, die manche Akzente anders setzt, als man es gewohnt ist. In der Darstellung geistesgeschichtlicher Entwicklungen erreicht dieses Werk eine Dichte und Überlegenheit, die beispielhaft ist. KARL OTMAR FREIHERR VON ARETIN
"Propyläen Geschichte Deutschlands". Band 6: James J. Sheehan: "Der Ausklang des alten Reiches". Deutschland seit dem Ende des Siebenjährigen Krieges bis zur gescheiterten Revolution. 1763 bis 1850. Deutsch von Karl Heinz Siber. Propyläen Verlag, Berlin 1994. 659 S., Abb., geb., 248,- DM.
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