Carl Schmitt gehört zu den prägendsten Figuren der deutschen Staatsrechtslehre des 20. Jahrhunderts. Erstmals werden die verschiedenen Varianten seiner zentralen Begriffsschrift, die heute weltweit rezipiert wird, in einer synoptischen Darstellung zugänglich gemacht. Darin treten die inhaltlichen Veränderungen augenfällig hervor, wodurch ein sicherer Ausgangspunkt für die Interpretation des Textes und seiner Entwicklung geschaffen ist. Darüber hinaus erleichtern die einführenden und kommentierenden Beiträge des Herausgebers den Zugang, indem sie die Werkgeschichte übersichtlich nachzeichnen, wertvolle Hintergrundinformationen zur Verfügung stellen und strittige Punkte in ihrem Kontext analysieren. Eine der wirkmächtigsten, insbesondere aber kontroversesten politischen Schriften der heutigen Zeit erhält somit eine solide wissenschaftliche Grundlage und wird neu erfahrbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.2018Eröffnet wird mit einem Paukenschlag
Ein Schlüsseltext von Carl Schmitt in allen Fassungen
Die wissenschaftliche Synopse beginnt 1776, als der Jenaer evangelische Theologe Johann Jakob Griesbach eine "Zusammenschau" der Evangelien von Lukas, Matthäus und Markus herausgab. Auch wenn dieses Verfahren seitdem den Weg in andere exegetische Wissenschaften gefunden hat, sozusagen säkularisiert wurde, ist die theologische Wurzel doch unverkennbar. Laut Carl Schmitt sind "alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre säkularisierte theologische Begriffe". Es ist eine besondere Pointe, dass die Carl-Schmitt-Forschung nun die theologisch konnotierte Synopse in Stellung bringt, und zwar für einen "Schlüsseltext" (Ernst-Wolfgang Böckenförde) zum staatsrechtlichen Werk Schmitts: "Der Begriff des Politischen".
Im Jahr 2003 erschien ein umfangreicher "kooperativer Kommentar". Jetzt gibt es eine Synopse. 1927 war der "Begriff des Politischen" im "Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik" erschienen. 1932, Schmitt war seit dem "Preußenschlagverfahren" eine öffentliche Person, erschien in der Hamburger "Hanseatischen Verlagsanstalt" eine erweiterte Buchausgabe, 1933 eine überarbeitete Fassung. 1963 brachte Schmitt, mittlerweile geächtet, doch weiter gelesen, die Fassung von 1932 mit Ergänzungen heraus. Diese Ausgabe ist bis heute lieferbar.
Die synoptische Darstellung erlaubt es nun, ohne umständliche Bibliotheksarbeit alle Ausgaben einfach zu vergleichen. Und selbst wenn man die Frage der editorischen Notwendigkeit aufwirft: Der Berliner Politikwissenschaftler Marco Walter hat einen ausgesprochen sorgfältig gemachten Band vorgelegt, der im Sinne der kritischen Exegese zur Historisierung Schmitts beitragen dürfte. Auch das, was Kritiker an Schmitt loben, wird in seinem klugen Kommentar seziert: Er eröffne viele seiner Bücher "mit fulminanten Paukenschlägen und anfangs stilistisch prägnant konkretisiert", doch scheine die Darstellung "im weiteren Verlauf bisweilen auszufasern" oder "ungebührlich lange bei einmal gewählten Fallbeispielen" zu verharren.
Auch für Walter ist Schmitt allerdings ein "Klassiker". Der beeindruckende Apparat seiner Ausgabe erlaubt zusätzliche Einblicke in die Werkstatt von Schmitt, der sich erkennbar mehr auf das Formulieren prägnanter Sätze als das seitengenaue Belegen von Fundstellen konzentrierte (allerdings wurden Nachweise nicht nur bei Schmitt bis in die Nachkriegszeit großzügig gehandhabt). Immer wieder liest man, ein Zitat oder sein Urheber "konnte nicht ermittelt werden".
Aber auch "Der Begriff des Politischen" ist immer wieder, und dabei nicht immer zutreffend, zitiert worden, am häufigsten wohl die "Unterscheidung von Freund und Feind" als Definition des Politischen, zuletzt noch nach der bayerischen Landtagswahl durch den früheren Bundesfinanzminister Theo Waigel mit Blick auf seine Partei. Wie in der Bundesrepublik üblich, gebrauchte Waigel den Satz als Negativfolie, um zu bedeuten, was Politik gerade nicht sein soll. Walters kommentierende Synopse kommt ohne dergleichen formelhafte Distanzierungen aus und benötigt kaum Textkritik.
Eine Wahlkampfrede von Winston Churchill konnte Schmitt allerdings nicht nach einer Anthologie von 1974 zitiert haben; bemerkenswert ist allerdings, dass der keineswegs anglophile Schmitt auch abseitigere englische Texte las, was unter deutschen "Gebildeten" keineswegs üblich war. Den Text der sozialistischen "Internationale" kannte er sicher nicht über den sympathischen alemannischen Liedermacher Walter Mossmann, dessen Namen man trotzdem gerne liest. Bei einem "Krieg gegen den Krieg" hatte Schmitt den amerikanischen Präsidenten Wilson und den Briand-Kellogg-Pakt vor Augen, nicht den eher randständigen Pazifisten Ernst Friedrich mit seinem "Anti-Kriegs-Museum"; Pazifisten wie dem Völkerrechtler Hans Wehberg konnte Schmitt, wenn sie konsequent waren, allerdings durchaus Respekt zollen.
Bei Schmitts erst 1963 ausformulierter Warnung vor einer "Vernichtung unwerten Lebens" vermisst man einen Hinweis auf den von Schmitt als Staatsrechtler geschätzten Karl Binding, der diesen unheilvollen Terminus wohl in der Rechtswissenschaft eingeführt hatte. Ein Personenregister führt den familiennamenlosen Leonardo da Vinci unter V auf und erklärt neben vielen, bei denen es sinnvoll ist (der Kirchenrechtler Emil Friedberg war aber nicht preußischer Justizminister, sondern sein Onkel Heinrich), auch Goethe und Bismarck. Nur bei "Hitler, Adolf" fehlt jede Erklärung.
MARTIN OTTO
Carl Schmitt: "Der Begriff des Politischen". Synoptische Darstellung der Texte.
Hrsg. von Marco Walter.
Duncker & Humblot Verlag, Berlin 2018.
331 S., Abb., br., 69,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Schlüsseltext von Carl Schmitt in allen Fassungen
Die wissenschaftliche Synopse beginnt 1776, als der Jenaer evangelische Theologe Johann Jakob Griesbach eine "Zusammenschau" der Evangelien von Lukas, Matthäus und Markus herausgab. Auch wenn dieses Verfahren seitdem den Weg in andere exegetische Wissenschaften gefunden hat, sozusagen säkularisiert wurde, ist die theologische Wurzel doch unverkennbar. Laut Carl Schmitt sind "alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre säkularisierte theologische Begriffe". Es ist eine besondere Pointe, dass die Carl-Schmitt-Forschung nun die theologisch konnotierte Synopse in Stellung bringt, und zwar für einen "Schlüsseltext" (Ernst-Wolfgang Böckenförde) zum staatsrechtlichen Werk Schmitts: "Der Begriff des Politischen".
Im Jahr 2003 erschien ein umfangreicher "kooperativer Kommentar". Jetzt gibt es eine Synopse. 1927 war der "Begriff des Politischen" im "Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik" erschienen. 1932, Schmitt war seit dem "Preußenschlagverfahren" eine öffentliche Person, erschien in der Hamburger "Hanseatischen Verlagsanstalt" eine erweiterte Buchausgabe, 1933 eine überarbeitete Fassung. 1963 brachte Schmitt, mittlerweile geächtet, doch weiter gelesen, die Fassung von 1932 mit Ergänzungen heraus. Diese Ausgabe ist bis heute lieferbar.
Die synoptische Darstellung erlaubt es nun, ohne umständliche Bibliotheksarbeit alle Ausgaben einfach zu vergleichen. Und selbst wenn man die Frage der editorischen Notwendigkeit aufwirft: Der Berliner Politikwissenschaftler Marco Walter hat einen ausgesprochen sorgfältig gemachten Band vorgelegt, der im Sinne der kritischen Exegese zur Historisierung Schmitts beitragen dürfte. Auch das, was Kritiker an Schmitt loben, wird in seinem klugen Kommentar seziert: Er eröffne viele seiner Bücher "mit fulminanten Paukenschlägen und anfangs stilistisch prägnant konkretisiert", doch scheine die Darstellung "im weiteren Verlauf bisweilen auszufasern" oder "ungebührlich lange bei einmal gewählten Fallbeispielen" zu verharren.
Auch für Walter ist Schmitt allerdings ein "Klassiker". Der beeindruckende Apparat seiner Ausgabe erlaubt zusätzliche Einblicke in die Werkstatt von Schmitt, der sich erkennbar mehr auf das Formulieren prägnanter Sätze als das seitengenaue Belegen von Fundstellen konzentrierte (allerdings wurden Nachweise nicht nur bei Schmitt bis in die Nachkriegszeit großzügig gehandhabt). Immer wieder liest man, ein Zitat oder sein Urheber "konnte nicht ermittelt werden".
Aber auch "Der Begriff des Politischen" ist immer wieder, und dabei nicht immer zutreffend, zitiert worden, am häufigsten wohl die "Unterscheidung von Freund und Feind" als Definition des Politischen, zuletzt noch nach der bayerischen Landtagswahl durch den früheren Bundesfinanzminister Theo Waigel mit Blick auf seine Partei. Wie in der Bundesrepublik üblich, gebrauchte Waigel den Satz als Negativfolie, um zu bedeuten, was Politik gerade nicht sein soll. Walters kommentierende Synopse kommt ohne dergleichen formelhafte Distanzierungen aus und benötigt kaum Textkritik.
Eine Wahlkampfrede von Winston Churchill konnte Schmitt allerdings nicht nach einer Anthologie von 1974 zitiert haben; bemerkenswert ist allerdings, dass der keineswegs anglophile Schmitt auch abseitigere englische Texte las, was unter deutschen "Gebildeten" keineswegs üblich war. Den Text der sozialistischen "Internationale" kannte er sicher nicht über den sympathischen alemannischen Liedermacher Walter Mossmann, dessen Namen man trotzdem gerne liest. Bei einem "Krieg gegen den Krieg" hatte Schmitt den amerikanischen Präsidenten Wilson und den Briand-Kellogg-Pakt vor Augen, nicht den eher randständigen Pazifisten Ernst Friedrich mit seinem "Anti-Kriegs-Museum"; Pazifisten wie dem Völkerrechtler Hans Wehberg konnte Schmitt, wenn sie konsequent waren, allerdings durchaus Respekt zollen.
Bei Schmitts erst 1963 ausformulierter Warnung vor einer "Vernichtung unwerten Lebens" vermisst man einen Hinweis auf den von Schmitt als Staatsrechtler geschätzten Karl Binding, der diesen unheilvollen Terminus wohl in der Rechtswissenschaft eingeführt hatte. Ein Personenregister führt den familiennamenlosen Leonardo da Vinci unter V auf und erklärt neben vielen, bei denen es sinnvoll ist (der Kirchenrechtler Emil Friedberg war aber nicht preußischer Justizminister, sondern sein Onkel Heinrich), auch Goethe und Bismarck. Nur bei "Hitler, Adolf" fehlt jede Erklärung.
MARTIN OTTO
Carl Schmitt: "Der Begriff des Politischen". Synoptische Darstellung der Texte.
Hrsg. von Marco Walter.
Duncker & Humblot Verlag, Berlin 2018.
331 S., Abb., br., 69,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Carl Schmitts Arbeit über den 'Begriff des Politischen' (zuerst erschienen 1927 im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik) kann trotz ihres vergleichsweise geringen Umfangs als ein Hauptwerk, vielleicht sogar das Hauptwerk des Autors angesehen werden; [...] Die von Marco Walter im Auftrag der Carl-Schmitt-Gesellschaft herausgegebene Synopse ist zugleich ein Produkt und ein Handwerkszeug dieser Carl-Schmitt-Renaissance.« Dr. Ernst R. Zivier, in: Recht und Politik, Heft 4/2018
»Der Berliner Politikwissenschaftler Marco Walter hat einen ausgesprochen sorgfältig gemachten Band vorgelegt, der im Sinne der kritischen Exegese zur Historisierung Schmitts beitragen dürfte.[...]«Martin Otto, in: FAZ, Nr. 258 vom 06.11.2018
»Der Berliner Politikwissenschaftler Marco Walter hat einen ausgesprochen sorgfältig gemachten Band vorgelegt, der im Sinne der kritischen Exegese zur Historisierung Schmitts beitragen dürfte.[...]«Martin Otto, in: FAZ, Nr. 258 vom 06.11.2018