Ein junger Mann flieht aus seinem wohlhabenden Elternhaus. Verzweifelt und lebensmüde sucht er eine Möglichkeit, aus der Welt zu verschwinden - und findet sie, indem er sich zur Arbeit in einem Bergwerk verpflichtet. Das harte Leben unter Tage erweist sich als Wendepunkt in seinem Leben. Noch vor James Joyce, Marcel Proust und William Faulkner beschreibt Natsume S seki minutiös die Wahrnehmungen und Gedanken seines jugendlichen Antihelden. Was ist Identität? Worin besteht der eigene Charakter? Wer oder was trifft meine Entscheidungen?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.10.2016Unter welchen Schmerzen die Moderne zur Welt kam
Zu seinem hundertsten Todestag erscheinen zwei Romane des japanischen Prosa-Erneuerers Natsume Soseki neu
Nahezu unbemerkt, aber stetig schleichen sich immer mehr japanische Wörter ins Deutsche ein, vor allem im Bereich des Kulinarischen, des Lifestyles und der Popkultur. Hier nun ein neues Wort, aus dem unübersetzten Titel eines der berühmtesten japanischen Werke des zwanzigsten Jahrhunderts: Kokoro - ein Schlüsselwort nicht nur der Alltagssprache mit der Bedeutung "Herz, Seele", sondern auch in den beliebten Diskursen über das, was das Wesen des Japanischen ausmacht.
"Kokoro", der Seelenroman des Giganten der frühen literarischen Moderne, Natsume Soseki (1867 bis 1916), ist ein geheimnisvolles Werk und Gegenstand unzähliger Kommentare. Erzählt wird die Geschichte eines Schülers und späteren Studenten der Kaiserlichen Universität Tokio und seines Mentors, des eigenartig charismatischen, aber verschlossenen und zurückgezogen lebenden älteren Mannes, der im Werk ohne Namen bleibt und nur als "Sensei" (Lehrer, Meister), also mit der Anrede für Respektspersonen, tituliert wird. Die beiden begegnen sich zufällig in der Sommerfrische von Kamakura am Meer nahe Tokio, wo sich der Jüngere sogleich vom Sensei angezogen fühlt und fortan beharrlich um dessen Aufmerksamkeit und Zuwendung wirbt. Die Story ist einfach, und einfach, da nah am Lebensgefühl der beiden Protagonisten, mit Dialogen und Szenen aus dem Familienalltag der bürgerlichen Mittelschicht in der Metropole Tokio wie in der Provinz im Japan der aufstrebenden Moderne, scheint auch die Erzählweise. Doch dieser erste Eindruck täuscht, denn in seinen drei Teilen entfaltet der Roman einen eigentümlichen Sog, und der Autor verwickelt den Leser in immer mehr und immer dringlichere Fragen.
Die ersten beiden Teile, erzählt aus der Perspektive des jungen Mannes, bringen uns die Erlebniswelt eines behütet in der Provinz aufgewachsenen Hoffnungsträgers des neuen Japans nahe, der seinen Platz im Leben sucht, wobei seine Beziehung zum Sensei, der ihn als väterlicher Freund zugleich auf Distanz hält, immer wichtiger für ihn wird. Auch zur schönen und klugen Frau des Sensei entwickelt der junge Mann ein vertrauensvolles Verhältnis. Was aber, so fragt sich der Leser, hat es mit dem Tod des Sensei auf sich, von dem er schon bald eher beiläufig erfährt?
Im zweiten Teil erleben wir den jungen Mann in seiner Eingebundenheit in die Familie auf dem Lande, seine Heimatliebe und die Zwänge eines noch stark von der konfuzianischen Tradition geprägten sozialen Lebens. Den weitaus längsten Teil des Werks bildet die Lebensbeichte des im direkten Kontakt so oft abrupt schweigenden Sensei, der dem Studenten in einem langen Brief als einzigem Mitmenschen vor seinem Freitod seine Geheimnisse anvertraut.
Es geht um Vertrauen und Verrat, um Freundschaft und Individualismus, Selbstachtung und Verantwortung und um tiefsitzende, durch keine Aussprache mehr lösbare Verstrickung und Schuld. Das Werk urteilt nicht, es lässt uns teilhaben an den teils quälenden Selbsterkundungen der zwischen den konkurrierenden Wertesystemen Orientierung suchenden Japaner zweier Generationen in der frühen Moderne. Grundiert von erwachendem Interesse für das andere Geschlecht, aber zugleich mit eindeutig homoerotischen Untertönen, wird auch die Rolle der Frau neu verhandelt. Die Werdegänge der Männer spiegeln sich auf komplexe Weise ineinander, überschattet vom Tod des Kaisers Meiji 1912 als Zeitenwende. So findet der junge Mann im Sensei einen Vater und verleugnet zugleich seinen eigenen. Er verliert schließlich beide und macht sich in einem Akt schuldig, der an jenen Verrat erinnert, den der Sensei vor vielen Jahren beging und der ihn womöglich in den Selbstmord trieb.
Der Autor Soseki zählt bis heute zu den bekanntesten Schriftstellern seines Landes. Nach seinem Studium an der Kaiserlichen Universität Tokio war er als Englischlehrer in die Provinz gegangen und machte sich bald als Lyriker und mit humoristischen Erzählungen einen Namen. Nach einem für ihn traumatischen England-Aufenthalt - 1900 war er als staatlicher Stipendiat für zwei Jahre nach London geschickt worden - wurde er zunächst Universitätsdozent, gab die prestigereiche Position an der Eliteinstitution aber auf, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Fast alle seine Romane entstanden im Auftrag der Tageszeitung "Asahi", die ihn als Romancier einstellte. Der Druck, jährlich einen Roman in täglichen Fortsetzungen zu verfassen, war beträchtlich. Dennoch entstanden satirisch-zeitkritische und psychologisch meisterhaft ausgefeilte Werke, die nicht nur das große Publikum, sondern auch Generationen von Schriftstellern bis hin zu Haruki Murakami prägten.
Von gänzlich anderem Charakter als "Kokoro" ist Sosekis 1908 erschienener Roman "Der Bergmann". Er wirkt hochgradig experimentell, schon durch den stetigen Wechsel von slapstickhaften Dialogen und in sich kreisenden Reflexionen. Das kündigt sich bereits mit den ersten Zeilen an: "Eine ganze Weile schon laufe ich durch diesen Kiefernhain, und so ein Kiefernhain zieht sich viel länger hin, als er sich auf Bildern darstellt. So weit ich auch gehe, nichts als Kiefern. Ich komme hier einfach auf keinen grünen Zweig. Da kann ich laufen, so viel ich will, solange sich bei den Kiefern nichts tut, hab ich keine Chance. Wär schlauer gewesen, ich hätte mich von Anfang an nur hingestellt und sie angestarrt, bis sie als Erste wegschaun."
Der da so sinniert, ist ein junger Mann aus vornehmer Familie, der nach verkorksten Frauengeschichten von zu Hause ausreißt und zunächst ziellos flieht, bis er von einem Vermittler als Bergmann für ein Kupferbergwerk angeworben wird. Ein Probeeinstieg in die Grube, eine endlos scheinende Höllenfahrt, die sich fast über die gesamte Erzählung erstreckt, bringt das innere Chaos der Hauptfigur zutage: mit Hunger, Ekel und Begehren in einer Art Bewusstseinsstrom des Neunzehnjährigen, der unmittelbar erlebt und dies zugleich erzählend kommentiert.
Die Übersetzung durch Franz Hintereder-Emde, der auch ein sehr informatives Nachwort verfasst hat, liest sich frisch und fast ein wenig zu heutig, etwa mit jugendsprachlichen Ausdrücken wie "hey", "der Typ", "da machst du echt Geld". Die zeitgenössischen Leser waren eher irritiert von dem Roman ohne nennenswerten Plot, in dem es nicht etwa um die damals schon himmelschreiende Umweltzerstörung durch die Ashio-Kupfermine und die erbärmlichen Lebensverhältnisse der Bergleute ging. Das thematisierten andere, vom Sozialismus inspirierte Autoren. Soseki, dessen hundertster Todestag in diesem Jahr am 9. Dezember begangen wird, lebt im kollektiven Gedächtnis seiner Nation als intellektuelle Vaterfigur weiter, als hellsichtiger und skeptischer Beobachter der Schmerzen, die die Moderne verursacht hat.
IRMELA HIJIYA-KIRSCHNEREIT
Natsume Soseki: "Kokoro". Roman.
Aus dem Japanischen übersetzt und mit einem Nachwort von Oscar Benl. Kommentierte Neuausgabe. Manesse Verlag, Zürich 2016. 384 S., geb., 24,95 [Euro].
Natsume Soseki: "Der Bergmann". Roman.
Aus dem Japanischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Franz Hintereder-Emde. Be.bra Verlag, Berlin 2016. 239 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zu seinem hundertsten Todestag erscheinen zwei Romane des japanischen Prosa-Erneuerers Natsume Soseki neu
Nahezu unbemerkt, aber stetig schleichen sich immer mehr japanische Wörter ins Deutsche ein, vor allem im Bereich des Kulinarischen, des Lifestyles und der Popkultur. Hier nun ein neues Wort, aus dem unübersetzten Titel eines der berühmtesten japanischen Werke des zwanzigsten Jahrhunderts: Kokoro - ein Schlüsselwort nicht nur der Alltagssprache mit der Bedeutung "Herz, Seele", sondern auch in den beliebten Diskursen über das, was das Wesen des Japanischen ausmacht.
"Kokoro", der Seelenroman des Giganten der frühen literarischen Moderne, Natsume Soseki (1867 bis 1916), ist ein geheimnisvolles Werk und Gegenstand unzähliger Kommentare. Erzählt wird die Geschichte eines Schülers und späteren Studenten der Kaiserlichen Universität Tokio und seines Mentors, des eigenartig charismatischen, aber verschlossenen und zurückgezogen lebenden älteren Mannes, der im Werk ohne Namen bleibt und nur als "Sensei" (Lehrer, Meister), also mit der Anrede für Respektspersonen, tituliert wird. Die beiden begegnen sich zufällig in der Sommerfrische von Kamakura am Meer nahe Tokio, wo sich der Jüngere sogleich vom Sensei angezogen fühlt und fortan beharrlich um dessen Aufmerksamkeit und Zuwendung wirbt. Die Story ist einfach, und einfach, da nah am Lebensgefühl der beiden Protagonisten, mit Dialogen und Szenen aus dem Familienalltag der bürgerlichen Mittelschicht in der Metropole Tokio wie in der Provinz im Japan der aufstrebenden Moderne, scheint auch die Erzählweise. Doch dieser erste Eindruck täuscht, denn in seinen drei Teilen entfaltet der Roman einen eigentümlichen Sog, und der Autor verwickelt den Leser in immer mehr und immer dringlichere Fragen.
Die ersten beiden Teile, erzählt aus der Perspektive des jungen Mannes, bringen uns die Erlebniswelt eines behütet in der Provinz aufgewachsenen Hoffnungsträgers des neuen Japans nahe, der seinen Platz im Leben sucht, wobei seine Beziehung zum Sensei, der ihn als väterlicher Freund zugleich auf Distanz hält, immer wichtiger für ihn wird. Auch zur schönen und klugen Frau des Sensei entwickelt der junge Mann ein vertrauensvolles Verhältnis. Was aber, so fragt sich der Leser, hat es mit dem Tod des Sensei auf sich, von dem er schon bald eher beiläufig erfährt?
Im zweiten Teil erleben wir den jungen Mann in seiner Eingebundenheit in die Familie auf dem Lande, seine Heimatliebe und die Zwänge eines noch stark von der konfuzianischen Tradition geprägten sozialen Lebens. Den weitaus längsten Teil des Werks bildet die Lebensbeichte des im direkten Kontakt so oft abrupt schweigenden Sensei, der dem Studenten in einem langen Brief als einzigem Mitmenschen vor seinem Freitod seine Geheimnisse anvertraut.
Es geht um Vertrauen und Verrat, um Freundschaft und Individualismus, Selbstachtung und Verantwortung und um tiefsitzende, durch keine Aussprache mehr lösbare Verstrickung und Schuld. Das Werk urteilt nicht, es lässt uns teilhaben an den teils quälenden Selbsterkundungen der zwischen den konkurrierenden Wertesystemen Orientierung suchenden Japaner zweier Generationen in der frühen Moderne. Grundiert von erwachendem Interesse für das andere Geschlecht, aber zugleich mit eindeutig homoerotischen Untertönen, wird auch die Rolle der Frau neu verhandelt. Die Werdegänge der Männer spiegeln sich auf komplexe Weise ineinander, überschattet vom Tod des Kaisers Meiji 1912 als Zeitenwende. So findet der junge Mann im Sensei einen Vater und verleugnet zugleich seinen eigenen. Er verliert schließlich beide und macht sich in einem Akt schuldig, der an jenen Verrat erinnert, den der Sensei vor vielen Jahren beging und der ihn womöglich in den Selbstmord trieb.
Der Autor Soseki zählt bis heute zu den bekanntesten Schriftstellern seines Landes. Nach seinem Studium an der Kaiserlichen Universität Tokio war er als Englischlehrer in die Provinz gegangen und machte sich bald als Lyriker und mit humoristischen Erzählungen einen Namen. Nach einem für ihn traumatischen England-Aufenthalt - 1900 war er als staatlicher Stipendiat für zwei Jahre nach London geschickt worden - wurde er zunächst Universitätsdozent, gab die prestigereiche Position an der Eliteinstitution aber auf, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Fast alle seine Romane entstanden im Auftrag der Tageszeitung "Asahi", die ihn als Romancier einstellte. Der Druck, jährlich einen Roman in täglichen Fortsetzungen zu verfassen, war beträchtlich. Dennoch entstanden satirisch-zeitkritische und psychologisch meisterhaft ausgefeilte Werke, die nicht nur das große Publikum, sondern auch Generationen von Schriftstellern bis hin zu Haruki Murakami prägten.
Von gänzlich anderem Charakter als "Kokoro" ist Sosekis 1908 erschienener Roman "Der Bergmann". Er wirkt hochgradig experimentell, schon durch den stetigen Wechsel von slapstickhaften Dialogen und in sich kreisenden Reflexionen. Das kündigt sich bereits mit den ersten Zeilen an: "Eine ganze Weile schon laufe ich durch diesen Kiefernhain, und so ein Kiefernhain zieht sich viel länger hin, als er sich auf Bildern darstellt. So weit ich auch gehe, nichts als Kiefern. Ich komme hier einfach auf keinen grünen Zweig. Da kann ich laufen, so viel ich will, solange sich bei den Kiefern nichts tut, hab ich keine Chance. Wär schlauer gewesen, ich hätte mich von Anfang an nur hingestellt und sie angestarrt, bis sie als Erste wegschaun."
Der da so sinniert, ist ein junger Mann aus vornehmer Familie, der nach verkorksten Frauengeschichten von zu Hause ausreißt und zunächst ziellos flieht, bis er von einem Vermittler als Bergmann für ein Kupferbergwerk angeworben wird. Ein Probeeinstieg in die Grube, eine endlos scheinende Höllenfahrt, die sich fast über die gesamte Erzählung erstreckt, bringt das innere Chaos der Hauptfigur zutage: mit Hunger, Ekel und Begehren in einer Art Bewusstseinsstrom des Neunzehnjährigen, der unmittelbar erlebt und dies zugleich erzählend kommentiert.
Die Übersetzung durch Franz Hintereder-Emde, der auch ein sehr informatives Nachwort verfasst hat, liest sich frisch und fast ein wenig zu heutig, etwa mit jugendsprachlichen Ausdrücken wie "hey", "der Typ", "da machst du echt Geld". Die zeitgenössischen Leser waren eher irritiert von dem Roman ohne nennenswerten Plot, in dem es nicht etwa um die damals schon himmelschreiende Umweltzerstörung durch die Ashio-Kupfermine und die erbärmlichen Lebensverhältnisse der Bergleute ging. Das thematisierten andere, vom Sozialismus inspirierte Autoren. Soseki, dessen hundertster Todestag in diesem Jahr am 9. Dezember begangen wird, lebt im kollektiven Gedächtnis seiner Nation als intellektuelle Vaterfigur weiter, als hellsichtiger und skeptischer Beobachter der Schmerzen, die die Moderne verursacht hat.
IRMELA HIJIYA-KIRSCHNEREIT
Natsume Soseki: "Kokoro". Roman.
Aus dem Japanischen übersetzt und mit einem Nachwort von Oscar Benl. Kommentierte Neuausgabe. Manesse Verlag, Zürich 2016. 384 S., geb., 24,95 [Euro].
Natsume Soseki: "Der Bergmann". Roman.
Aus dem Japanischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Franz Hintereder-Emde. Be.bra Verlag, Berlin 2016. 239 S., geb., 26,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Irmela Hijiya-Kirschnereit weist auf den experimentellen Charakter des erstmals 1908 erschienenen Romans von Natsume Soseki hin. Slapstickhafte Dialoge und in sich kreisende Reflexionen, meint sie, wechseln sich ab, wenn der Autor vom Auszug eines jungen Mannes von zu Hause und von dessen Erlebnissen als Grubenarbeiter erzählt. Der Abstieg in die Hölle der Mine symbolisiert für die Rezensentin die Offenlegung des inneren Chaos der Figur. Ihr Bewusstseinsstrom voller Ekel und Begehren lässt sie vergessen, dass Soseki in diesem Buch wenig Wert auf einen Plot legte. Die kritische Blick des Autors auf die japanische Moderne kommt laut Rezensentin auch so zur Geltung. Ein informatives Nachwort ergänzt den Band, meint sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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