Zwei der aufregendsten Denker der Gegenwart im Gespräch über Kant und den Geist der Aufklärung
Wie kann ein Philosoph, der im Jahr 1724 geboren wurde, unser Denken heute maßgeblich beeinflussen?
Dreihundert Jahre nach der Geburt des alten Meisters in Königsberg treffen sich Daniel Kehlmann und Omri Boehm zu einer Reihe von Gesprächen über Immanuel Kant, die alles andere sind als akademisch-abgehoben. Denn der Begründer der modernen Philosophie selbst hat die grundlegenden Fragen des Menschseins benannt und erklärt: was man wissen kann, was man tun soll, was man hoffen darf.
Alle wichtigen Themen kommen zur Sprache: von Vernunft und Illusion bis zu Rassismus, Kolonialismus und Aufklärung; von Raum und Zeit bis zu Freiheit, Kunst, Gerechtigkeit und dem Problem des Bösen; von der Wissenschaft bis zum Glauben, vom Selbst bis zu Gott. Omri Boehm und Daniel Kehlmann behandeln Kant als Zeitgenossen, der uns heute noch wichtige Antworten auf aktuelle Fragen gebenkann.
Wie kann ein Philosoph, der im Jahr 1724 geboren wurde, unser Denken heute maßgeblich beeinflussen?
Dreihundert Jahre nach der Geburt des alten Meisters in Königsberg treffen sich Daniel Kehlmann und Omri Boehm zu einer Reihe von Gesprächen über Immanuel Kant, die alles andere sind als akademisch-abgehoben. Denn der Begründer der modernen Philosophie selbst hat die grundlegenden Fragen des Menschseins benannt und erklärt: was man wissen kann, was man tun soll, was man hoffen darf.
Alle wichtigen Themen kommen zur Sprache: von Vernunft und Illusion bis zu Rassismus, Kolonialismus und Aufklärung; von Raum und Zeit bis zu Freiheit, Kunst, Gerechtigkeit und dem Problem des Bösen; von der Wissenschaft bis zum Glauben, vom Selbst bis zu Gott. Omri Boehm und Daniel Kehlmann behandeln Kant als Zeitgenossen, der uns heute noch wichtige Antworten auf aktuelle Fragen gebenkann.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensent Michael Hesse findet toll, wie in Omri Boehms und Daniel Kehlmanns Gesprächsband über Kant "einfach drauflosgefragt" wird. Denn der Philosoph und der Bestsellerautor besprechen zwar eingehend diverse Themen der komplexen Philosophie Kants: So geht es um die verschiedenen Ichs und ihre Zeitlichkeit oder Unzeitlichkeit, um die Dekonstruktion der Metaphysik, die laut Boehm doch am Anfang allen westlichen Denkens stehe, um die heutige Relevanz der Erkenntnistheorie Kants, um die sogenannten apagogischen Beweise und vieles mehr - vor allem, wenn man sich bereits mit Kant auskenne, erwarten einen hier viele neue Denkanstöße, so Hesse. Aber andererseits schaffen es die Autoren eben auch, nicht in den "akademischen Tiefen" zu versinken, sondern sich der großen Theorie in lockerem Plauderton und ungewohnt "direkt", mit ganz normalen Fragen, die man sich auch als Nicht-Experte "eben stellt", zu nähern, lobt Hesse. Für ihn das "erfrischendste" Buch im großen Kant-Jubiläumsjahr
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.02.2024Wir klugen Tiere
Wie sie reden, wenn sie über Kant reden - der Philosoph Omri Boehm und der Schriftsteller Daniel Kehlmann im Gespräch
Von Miguel de la Riva
Die Philosophen haben schon immer zum Himmel geblickt. Doch lange bevor Menschen ins All flogen, haben sie auch vom Himmel zur Erde geschaut. Seit sich die Welt mit der kopernikanischen Wende zum unendlichen Universum weitete und die Erde aus dessen Zentrum verschwand, hat es Denker beschäftigt, wie unbedeutend der Mensch und sein Heimatplanet im kosmischen Maßstab erscheinen. Mehr als hundert Jahre bevor die Voyager-Aufnahme "Pale Blue Dot" die Erde als winzigen, schwach funkelnden Punkt im unermesslichen Nirgendwo zeigte, resümierte Nietzsche die Geschichte der Menschheit so: "In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der 'Weltgeschichte': aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mussten sterben."
Eine ähnliche Beunruhigung findet sich schon bei Kant, direkt im Anschluss an eine berühmte Passage am Schluss der "Kritik der praktischen Vernunft". "Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir." Auch hier geht der Blick vom Himmel zum Betrachter zurück. Für Kant bezeichnet der "bestirnte Himmel" den Platz, "den ich in der äußern Sinnenwelt einnehme, und erweitert die Verknüpfung, darin ich stehe, ins unabsehlich Große mit Welten über Welten". Dieser "Anblick einer zahllosen Weltenmenge" jedoch "vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit, als eines tierischen Geschöpfs, das die Materie, daraus es ward, dem Planeten (einem bloßen Punkte im Weltall) wieder zurückgeben muß, nachdem es eine kurze Zeit (man weiß nicht wie) mit Lebenskraft versehen gewesen".
Vor diesem Hintergrund überrascht, dass Omri Boehm und Daniel Kehlmann ihrem Gesprächsband über den großen Aufklärer den Titel "Der bestirnte Himmel über mir" gegeben haben. Zwar sind sie überzeugt, die viel zitierte Passage enthalte die Essenz von Kants Philosophie, das, was ihr auch im 300. Geburtsjahr des Philosophen Aktualität verleiht. Diese Aktualität soll jedoch gerade aus dem "moralischen Gesetz" resultieren. Während wir uns beim Blick auf den "bestirnten Himmel" als nichtige Wesen erfahren, hätten wir durch das "moralische Gesetz" an einer Unendlichkeit Teil, die "ein von der Tierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart".
In diesem Wechselspiel von kosmischer Nichtigkeit und moralischer Größe des Menschen sehen Boehm und Kehlmann das Zentrum von Kants Philosophie. Sie lesen ihn vor allem als Gegner der Verabsolutierung einer wissenschaftlichen Weltsicht und einer damit einhergehenden Reduktion des Menschen auf ein biologisches Wesen. Schon in der Epoche der Aufklärung und also lange vor Nietzsche habe es die Tendenz gegeben, den Menschen auf ein "kluges Thier" zu reduzieren, und sie behaupte sich bis heute in Bestsellern wie Yuval Noah Hararis "Sapiens. Eine kurze Geschichte der Menschheit". Kant dagegen habe einen "universalistischen Humanismus" vertreten und "Menschheit" als moralische Kategorie verstanden, die mit dem Besitz von Freiheit zusammenhängt. Um diese Freiheit zu ermöglichen, habe die "Kritik der reinen Vernunft" nicht eine Neubegründung, sondern auch eine Begrenzung von Wissen und Wissenschaft versucht.
Die Probleme mit Kants Anthropologie beginnen für Boehm und Kehlmann darum nicht erst in den dort zu findenden rassistischen Passagen; dass Kant überhaupt eine naturkundliche Untersuchung des Menschen unternommen habe, sei der Skandal, den sich die Gesprächspartner offenbar nur durch die fortschreitende Demenz des Denkers im hohen Alter erklären können. Sie räumen allerdings ein, dass es alles andere als selbsterklärend ist, einen von jeder Empirie abstrahierenden Menschheits- und Freiheitsbegriff zu vertreten. Mit Kant sprechen sie hier von "regulativen Ideen". Ein Individuum handle in einer Haltung des "Als ob", "unabhängig von der Existenz eines realen Beispiels moralischen Handelns oder eines Falls in der Welt, der der Definition des Menschen genügt", wie Boehm sagt. Die "Denkbewegung der Antinomie", die hier sichtbar wird, erscheint Kehlmann als das "Persönlichste" an Kant: "Widersprüche, die man scheinbar hilflos nebeneinander stehen lassen muss und die dann letztlich doch ein konsistentes Bild ergeben - aber nicht, indem man sie auflöst, sondern indem man sich über ihre Unauflöslichkeit Rechenschaft ablegt." Kant gilt darum als "Meister der Ambivalenz".
Diese häufig wiederholte Charakterisierung findet sich erstmals an einer der wenigen Stellen, an denen die Gesprächsform ihre eigene Kreativität entfaltet und hervorbringt, worauf kein Gesprächspartner allein gekommen wäre. Öfter hat man es mit von Kehlmanns Einwürfen aufgelockerten Monologen Boehms zu tun. Das Gespräch mäandert, Behauptungen werden aufgestellt, die erst später eingeholt werden, dieselben Themen mehrfach variiert. Das ließe sich verkraften, wäre daraus eine leichtfüßige Einführung in Kants Denken entstanden. Das Gegenteil ist der Fall: Wer sich mit Kant nicht schon recht gut auskennt, den erwarten hohe Verständnisbarrieren.
Immerhin haben die Gesprächspartner einander viel zu sagen. Auch wenn häufig der Philosoph Boehm das letzte Wort behält, ist der Schriftsteller Kehlmann, der mal eine Doktorarbeit über das Erhabene bei Kant schreiben wollte, mehr als nur Stichwortgeber und Anekdotenerzähler. Im Interesse der Klarheit wie der Wahrheit hätte man sich aber gewünscht, dass er manchmal herausfordernder nachgefragt hätte. Ab und zu lässt er Boehm mit metaphysischen Spitzfindigkeiten davonkommen, etwa wenn dieser sich nicht darauf festlegen will, ob Freiheit tatsächlich die kausale Geschlossenheit der physischen Welt außer Kraft setzt.
Die von Boehm vorgetragene und von Kehlmann offenbar weitgehend geteilte Kant-Lesart ist nicht neu - sie findet sich in kondensierter Form schon in Boehms Buch "Radikaler Universalismus" (2022) - und auch nicht unumstritten. Indem Boehm den Universalismus aus einem anspruchsvollen Freiheitsbegriff begründet und nicht aus einer geteilten Vernunftbegabung oder der menschlichen Gleichheit, basiert dieser nicht auf rationaler Einsicht, sondern auf einer Transzendenz, die wir in der eigenen Person erleben: "Wenn Menschlichkeit von Freiheit abhängt, hängt sie von jenem Moment der Transzendenz ab, davon, in der eigenen Erfahrung an die wahre Unendlichkeit in uns zu rühren, von der Kant sprach, als er unsere 'Persönlichkeit' im Verhältnis zum bestirnten Himmel beschrieb", sagt Boehm.
Hier scheint der Universalismus zur theologischen Denkfigur, zum quasireligiösen Glaubensbekenntnis zu werden. Boehm hat es auch einen verbreiteten Irrtum genannt, den Universalismus als "Erbschaft des aufgeklärten Denkens" zu betrachten. Den "Rationalismus der Aufklärung" sieht er vielmehr als entschiedensten Herausforderer des Universalismus. Obwohl Boehm betont, das moralische Gesetz lasse sich nicht aus religiöser Offenbarung begründen, weil auch ein Gott seiner universellen Geltung unterworfen sei, folgt er der strukturell ähnlichen Annahme, dass es auf einem metaphysischen Absoluten und nicht auf rationaler Einsicht oder menschlicher Übereinkunft beruhen müsse.
Irritierend ist, dass Boehm und Kehlmann mit ihrer Betonung einer Begrenzung des Wissens zugunsten der Freiheit Kant so interpretieren, als ob er das Erkenntnisvermögen des Menschen von dessen moralischer Praxis abtrennen würde. Mehrmals heißt es im Gespräch, das Wesensmerkmal von Personen sei ihre Freiheit, also ihre Befähigung zu moralischem Handeln, nicht ihre Befähigung zur Wissenschaft. Im Sinne Kants dürfte das kaum sein. Dessen Satz über den bestirnten Himmel und das moralische Gesetz mündet darin, die Newton'sche Himmelsmechanik für die "Behandlung der moralischen Anlagen unserer Natur" als nachahmenswertes Beispiel zu empfehlen. Vernunft und Freiheit gehören für ihn unzertrennlich zusammen.
Omri Boehm, Daniel Kehlmann: "Der bestirnte Himmel über mir. Ein Gespräch über Kant". Propyläen, 352 Seiten, 26 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie sie reden, wenn sie über Kant reden - der Philosoph Omri Boehm und der Schriftsteller Daniel Kehlmann im Gespräch
Von Miguel de la Riva
Die Philosophen haben schon immer zum Himmel geblickt. Doch lange bevor Menschen ins All flogen, haben sie auch vom Himmel zur Erde geschaut. Seit sich die Welt mit der kopernikanischen Wende zum unendlichen Universum weitete und die Erde aus dessen Zentrum verschwand, hat es Denker beschäftigt, wie unbedeutend der Mensch und sein Heimatplanet im kosmischen Maßstab erscheinen. Mehr als hundert Jahre bevor die Voyager-Aufnahme "Pale Blue Dot" die Erde als winzigen, schwach funkelnden Punkt im unermesslichen Nirgendwo zeigte, resümierte Nietzsche die Geschichte der Menschheit so: "In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der 'Weltgeschichte': aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mussten sterben."
Eine ähnliche Beunruhigung findet sich schon bei Kant, direkt im Anschluss an eine berühmte Passage am Schluss der "Kritik der praktischen Vernunft". "Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir." Auch hier geht der Blick vom Himmel zum Betrachter zurück. Für Kant bezeichnet der "bestirnte Himmel" den Platz, "den ich in der äußern Sinnenwelt einnehme, und erweitert die Verknüpfung, darin ich stehe, ins unabsehlich Große mit Welten über Welten". Dieser "Anblick einer zahllosen Weltenmenge" jedoch "vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit, als eines tierischen Geschöpfs, das die Materie, daraus es ward, dem Planeten (einem bloßen Punkte im Weltall) wieder zurückgeben muß, nachdem es eine kurze Zeit (man weiß nicht wie) mit Lebenskraft versehen gewesen".
Vor diesem Hintergrund überrascht, dass Omri Boehm und Daniel Kehlmann ihrem Gesprächsband über den großen Aufklärer den Titel "Der bestirnte Himmel über mir" gegeben haben. Zwar sind sie überzeugt, die viel zitierte Passage enthalte die Essenz von Kants Philosophie, das, was ihr auch im 300. Geburtsjahr des Philosophen Aktualität verleiht. Diese Aktualität soll jedoch gerade aus dem "moralischen Gesetz" resultieren. Während wir uns beim Blick auf den "bestirnten Himmel" als nichtige Wesen erfahren, hätten wir durch das "moralische Gesetz" an einer Unendlichkeit Teil, die "ein von der Tierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart".
In diesem Wechselspiel von kosmischer Nichtigkeit und moralischer Größe des Menschen sehen Boehm und Kehlmann das Zentrum von Kants Philosophie. Sie lesen ihn vor allem als Gegner der Verabsolutierung einer wissenschaftlichen Weltsicht und einer damit einhergehenden Reduktion des Menschen auf ein biologisches Wesen. Schon in der Epoche der Aufklärung und also lange vor Nietzsche habe es die Tendenz gegeben, den Menschen auf ein "kluges Thier" zu reduzieren, und sie behaupte sich bis heute in Bestsellern wie Yuval Noah Hararis "Sapiens. Eine kurze Geschichte der Menschheit". Kant dagegen habe einen "universalistischen Humanismus" vertreten und "Menschheit" als moralische Kategorie verstanden, die mit dem Besitz von Freiheit zusammenhängt. Um diese Freiheit zu ermöglichen, habe die "Kritik der reinen Vernunft" nicht eine Neubegründung, sondern auch eine Begrenzung von Wissen und Wissenschaft versucht.
Die Probleme mit Kants Anthropologie beginnen für Boehm und Kehlmann darum nicht erst in den dort zu findenden rassistischen Passagen; dass Kant überhaupt eine naturkundliche Untersuchung des Menschen unternommen habe, sei der Skandal, den sich die Gesprächspartner offenbar nur durch die fortschreitende Demenz des Denkers im hohen Alter erklären können. Sie räumen allerdings ein, dass es alles andere als selbsterklärend ist, einen von jeder Empirie abstrahierenden Menschheits- und Freiheitsbegriff zu vertreten. Mit Kant sprechen sie hier von "regulativen Ideen". Ein Individuum handle in einer Haltung des "Als ob", "unabhängig von der Existenz eines realen Beispiels moralischen Handelns oder eines Falls in der Welt, der der Definition des Menschen genügt", wie Boehm sagt. Die "Denkbewegung der Antinomie", die hier sichtbar wird, erscheint Kehlmann als das "Persönlichste" an Kant: "Widersprüche, die man scheinbar hilflos nebeneinander stehen lassen muss und die dann letztlich doch ein konsistentes Bild ergeben - aber nicht, indem man sie auflöst, sondern indem man sich über ihre Unauflöslichkeit Rechenschaft ablegt." Kant gilt darum als "Meister der Ambivalenz".
Diese häufig wiederholte Charakterisierung findet sich erstmals an einer der wenigen Stellen, an denen die Gesprächsform ihre eigene Kreativität entfaltet und hervorbringt, worauf kein Gesprächspartner allein gekommen wäre. Öfter hat man es mit von Kehlmanns Einwürfen aufgelockerten Monologen Boehms zu tun. Das Gespräch mäandert, Behauptungen werden aufgestellt, die erst später eingeholt werden, dieselben Themen mehrfach variiert. Das ließe sich verkraften, wäre daraus eine leichtfüßige Einführung in Kants Denken entstanden. Das Gegenteil ist der Fall: Wer sich mit Kant nicht schon recht gut auskennt, den erwarten hohe Verständnisbarrieren.
Immerhin haben die Gesprächspartner einander viel zu sagen. Auch wenn häufig der Philosoph Boehm das letzte Wort behält, ist der Schriftsteller Kehlmann, der mal eine Doktorarbeit über das Erhabene bei Kant schreiben wollte, mehr als nur Stichwortgeber und Anekdotenerzähler. Im Interesse der Klarheit wie der Wahrheit hätte man sich aber gewünscht, dass er manchmal herausfordernder nachgefragt hätte. Ab und zu lässt er Boehm mit metaphysischen Spitzfindigkeiten davonkommen, etwa wenn dieser sich nicht darauf festlegen will, ob Freiheit tatsächlich die kausale Geschlossenheit der physischen Welt außer Kraft setzt.
Die von Boehm vorgetragene und von Kehlmann offenbar weitgehend geteilte Kant-Lesart ist nicht neu - sie findet sich in kondensierter Form schon in Boehms Buch "Radikaler Universalismus" (2022) - und auch nicht unumstritten. Indem Boehm den Universalismus aus einem anspruchsvollen Freiheitsbegriff begründet und nicht aus einer geteilten Vernunftbegabung oder der menschlichen Gleichheit, basiert dieser nicht auf rationaler Einsicht, sondern auf einer Transzendenz, die wir in der eigenen Person erleben: "Wenn Menschlichkeit von Freiheit abhängt, hängt sie von jenem Moment der Transzendenz ab, davon, in der eigenen Erfahrung an die wahre Unendlichkeit in uns zu rühren, von der Kant sprach, als er unsere 'Persönlichkeit' im Verhältnis zum bestirnten Himmel beschrieb", sagt Boehm.
Hier scheint der Universalismus zur theologischen Denkfigur, zum quasireligiösen Glaubensbekenntnis zu werden. Boehm hat es auch einen verbreiteten Irrtum genannt, den Universalismus als "Erbschaft des aufgeklärten Denkens" zu betrachten. Den "Rationalismus der Aufklärung" sieht er vielmehr als entschiedensten Herausforderer des Universalismus. Obwohl Boehm betont, das moralische Gesetz lasse sich nicht aus religiöser Offenbarung begründen, weil auch ein Gott seiner universellen Geltung unterworfen sei, folgt er der strukturell ähnlichen Annahme, dass es auf einem metaphysischen Absoluten und nicht auf rationaler Einsicht oder menschlicher Übereinkunft beruhen müsse.
Irritierend ist, dass Boehm und Kehlmann mit ihrer Betonung einer Begrenzung des Wissens zugunsten der Freiheit Kant so interpretieren, als ob er das Erkenntnisvermögen des Menschen von dessen moralischer Praxis abtrennen würde. Mehrmals heißt es im Gespräch, das Wesensmerkmal von Personen sei ihre Freiheit, also ihre Befähigung zu moralischem Handeln, nicht ihre Befähigung zur Wissenschaft. Im Sinne Kants dürfte das kaum sein. Dessen Satz über den bestirnten Himmel und das moralische Gesetz mündet darin, die Newton'sche Himmelsmechanik für die "Behandlung der moralischen Anlagen unserer Natur" als nachahmenswertes Beispiel zu empfehlen. Vernunft und Freiheit gehören für ihn unzertrennlich zusammen.
Omri Boehm, Daniel Kehlmann: "Der bestirnte Himmel über mir. Ein Gespräch über Kant". Propyläen, 352 Seiten, 26 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.04.2024Einfach anfangen
Es ist nie zu spät, diesen Philosophen zu verstehen. Ein paar Startpunkte, vier gute neue Einführungen – und ein junger Klassiker.
Insbesondere Philosophen raten erst mal zur Lektüre der Originaltexte. Wer den langen, harten Weg gehen will, darf entsprechend mit der „Kritik der reinen Vernunft“ beginnen. Leichter ist es, wenn man mit kleinen und kleineren Schriften anfängt. Klassischerweise also zuerst mit den acht Seiten von „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“, dann vielleicht noch „Was heißt: sich im Denken orientieren?“ und „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“ und schließlich die ersten beiden Abschnitte der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ und „Zum ewigen Frieden“.
Mit Marcus Willascheks neuem Buch „Kant – Die Revolution des Denkens“ (C.H. Beck, München 2023, 430 Seiten, 28 Euro) gibt es allerdings auch einen großartigen alternativen Startpunkt. In 30 kurzen, jeweils für sich lesbaren Kapiteln führt der Frankfurter Philosophieprofessor schwungvoll und fundiert in nahezu sämtliche Aspekte von Kants Leben und Denken ein. Ein ideale Handreichung zum Einstieg – und zum Vertiefen.
Eine perfekte Ergänzung dazu ist „Der bestirnte Himmel über mir – Ein Gespräch über Kant“ (Propyläen, Berlin 2024, 350 Seiten, 26 Euro) von Daniel Kehlmann und Omri Boehm. Der 1979 in Haifa geborene Boehm ist Philosophieprofessor an der New Yorker New School, gerade hat er für sein Buch „Radikaler Universalismus“, in dem Kants Begriff von Aufklärung eine wichtige Rolle spielt, den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung erhalten. Kehlmann gehört spätestens seit seinem Roman „Die Vermessung der Welt“ zu den bedeutendsten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart, und bevor ihm der Erfolg in die Quere kam, arbeitete er an einer Doktorarbeit über die Ästhetik Kants. Kundig, aber ohne falsche Ehrfurcht und immer wieder angenehm kontrovers diskutieren die beiden viele große Fragen Kants: Braucht Moral Gott? Darf man aus Menschenliebe lügen? Ist Freiheit des Handelns möglich? Was ist der Mensch? Die perfekte Einführung für alle, die keine Lust haben, eine Einführung zu lesen.
Immer noch empfehlenswert ist Manfred Kühns große Biografie „Kant“ aus dem Jahr 2003 (C.H. Beck, 640 Seiten, 30 Euro). Eindrucksvoll akribisch, mit einem Akzent auf Kindheit, Jugend, Studienzeit und den Jahren vor dem großen Ruhm. Dabei für ambitionierte Einsteiger so gut geeignet wie für erfahrenere Kant-Leser. Kühn, der lange in den USA und Marburg Philosophie lehrte, kennt sich nicht aber nur gut aus, er ist auch ein souveräner Erzähler seines Stoffs. Ein echter junger Klassiker der Sekundärliteratur zu Leben und Werk des Philosophen.
Die kurze Einführung der Saison haben Gabriele Gava und Achim Vesper vorgelegt: „Kants Philosophie“ (C.H. Beck, München 2024; 128 Seiten, 12 Euro). Gava, Professor für Philosophie an der Universität Turin, und Vesper, derzeit Vertreter von Marcus Willaschek an der Uni Frankfurt, beschränken sich auf so gehaltvolle wie zugängliche Skizzen der drei großen Kritiken und der „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“. Das abschließende sechste Kapitel dürfte auch für Leserinnen interessant sein, die keine Einführung mehr nötig haben: Vesper und Gava verhandeln dort ganz aktuelle Diskussionen wie die jüngste Debatte zu Frage, ob Kant ein Rassist war.
Und dann ist da noch der große Gesprächsband von den alten Freunden und Komplizen Alexander Kluge und Oskar Negt, ihre „Kant Kommentare“ (Spector Books, Leipzig 2023, 480 Seiten, 26 Euro). Kern der neun, „Stationen“ genannten Kapitel des Buchs sind die Protokolle mehrerer Gespräche, die die beiden im Laufe der Jahre über Kants Denken geführt haben, in den Nullerjahren in Kluges „Primetime“-Nachtfenster auf RTL und zuletzt privat während der Pandemie. Daneben gibt’s, wie so oft in Kluge-Kompendien, allerlei Zitiertes, Assoziiertes, Historisches und Allegorisches, „Geschichten zu Themen von Immanuel Kant“. Der im Alter von 89 Jahren Anfang Februar verstorbene linke Sozialphilosoph und Kant-Kenner Negt hat die Rolle des Experten, der 92-jährige Geschichtsnerd Kluge ist der ewig neugierige Anreger und Lotse der Dialoge. Beide haben zweifelsohne den Mut, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Man tut bei der Lektüre gut daran, nicht Ordnung zu erwarten, sondern bereit zu sein für intellektuelle Epiphanien aller Art. Kluge: „Ist Kant hartherzig?“ Negt: „Er hat die Skeptiker in gewisser Weise verachtet.“ Kluge: „Die Skeptiker reiten nur am Horizont vorbei. Sie helfen keinem.“ Negt: „Ihnen fehlt der Block, an dem sie sich abarbeiten müssen.“
CRAB
Marcus Willaschek:
Kant.
Die Revolution
des Denkens.
C. H. Beck, München 2023. 430 Seiten, 28 Euro.
Omri Boehm,
Daniel Kehlmann:
Der bestirnte Himmel
über mir – Ein Gespräch über Kant. Übersetzungen aus dem Englischen von Michael Adrian.
Propyläen-Verlag,
Berlin 2024.
349 Seiten, 26 Euro.
Manfred Kühn:
Kant.
Eine Biografie.
Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer.
C. H. Beck, München 2003. 639 Seiten, 29,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Es ist nie zu spät, diesen Philosophen zu verstehen. Ein paar Startpunkte, vier gute neue Einführungen – und ein junger Klassiker.
Insbesondere Philosophen raten erst mal zur Lektüre der Originaltexte. Wer den langen, harten Weg gehen will, darf entsprechend mit der „Kritik der reinen Vernunft“ beginnen. Leichter ist es, wenn man mit kleinen und kleineren Schriften anfängt. Klassischerweise also zuerst mit den acht Seiten von „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“, dann vielleicht noch „Was heißt: sich im Denken orientieren?“ und „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis“ und schließlich die ersten beiden Abschnitte der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ und „Zum ewigen Frieden“.
Mit Marcus Willascheks neuem Buch „Kant – Die Revolution des Denkens“ (C.H. Beck, München 2023, 430 Seiten, 28 Euro) gibt es allerdings auch einen großartigen alternativen Startpunkt. In 30 kurzen, jeweils für sich lesbaren Kapiteln führt der Frankfurter Philosophieprofessor schwungvoll und fundiert in nahezu sämtliche Aspekte von Kants Leben und Denken ein. Ein ideale Handreichung zum Einstieg – und zum Vertiefen.
Eine perfekte Ergänzung dazu ist „Der bestirnte Himmel über mir – Ein Gespräch über Kant“ (Propyläen, Berlin 2024, 350 Seiten, 26 Euro) von Daniel Kehlmann und Omri Boehm. Der 1979 in Haifa geborene Boehm ist Philosophieprofessor an der New Yorker New School, gerade hat er für sein Buch „Radikaler Universalismus“, in dem Kants Begriff von Aufklärung eine wichtige Rolle spielt, den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung erhalten. Kehlmann gehört spätestens seit seinem Roman „Die Vermessung der Welt“ zu den bedeutendsten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart, und bevor ihm der Erfolg in die Quere kam, arbeitete er an einer Doktorarbeit über die Ästhetik Kants. Kundig, aber ohne falsche Ehrfurcht und immer wieder angenehm kontrovers diskutieren die beiden viele große Fragen Kants: Braucht Moral Gott? Darf man aus Menschenliebe lügen? Ist Freiheit des Handelns möglich? Was ist der Mensch? Die perfekte Einführung für alle, die keine Lust haben, eine Einführung zu lesen.
Immer noch empfehlenswert ist Manfred Kühns große Biografie „Kant“ aus dem Jahr 2003 (C.H. Beck, 640 Seiten, 30 Euro). Eindrucksvoll akribisch, mit einem Akzent auf Kindheit, Jugend, Studienzeit und den Jahren vor dem großen Ruhm. Dabei für ambitionierte Einsteiger so gut geeignet wie für erfahrenere Kant-Leser. Kühn, der lange in den USA und Marburg Philosophie lehrte, kennt sich nicht aber nur gut aus, er ist auch ein souveräner Erzähler seines Stoffs. Ein echter junger Klassiker der Sekundärliteratur zu Leben und Werk des Philosophen.
Die kurze Einführung der Saison haben Gabriele Gava und Achim Vesper vorgelegt: „Kants Philosophie“ (C.H. Beck, München 2024; 128 Seiten, 12 Euro). Gava, Professor für Philosophie an der Universität Turin, und Vesper, derzeit Vertreter von Marcus Willaschek an der Uni Frankfurt, beschränken sich auf so gehaltvolle wie zugängliche Skizzen der drei großen Kritiken und der „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“. Das abschließende sechste Kapitel dürfte auch für Leserinnen interessant sein, die keine Einführung mehr nötig haben: Vesper und Gava verhandeln dort ganz aktuelle Diskussionen wie die jüngste Debatte zu Frage, ob Kant ein Rassist war.
Und dann ist da noch der große Gesprächsband von den alten Freunden und Komplizen Alexander Kluge und Oskar Negt, ihre „Kant Kommentare“ (Spector Books, Leipzig 2023, 480 Seiten, 26 Euro). Kern der neun, „Stationen“ genannten Kapitel des Buchs sind die Protokolle mehrerer Gespräche, die die beiden im Laufe der Jahre über Kants Denken geführt haben, in den Nullerjahren in Kluges „Primetime“-Nachtfenster auf RTL und zuletzt privat während der Pandemie. Daneben gibt’s, wie so oft in Kluge-Kompendien, allerlei Zitiertes, Assoziiertes, Historisches und Allegorisches, „Geschichten zu Themen von Immanuel Kant“. Der im Alter von 89 Jahren Anfang Februar verstorbene linke Sozialphilosoph und Kant-Kenner Negt hat die Rolle des Experten, der 92-jährige Geschichtsnerd Kluge ist der ewig neugierige Anreger und Lotse der Dialoge. Beide haben zweifelsohne den Mut, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Man tut bei der Lektüre gut daran, nicht Ordnung zu erwarten, sondern bereit zu sein für intellektuelle Epiphanien aller Art. Kluge: „Ist Kant hartherzig?“ Negt: „Er hat die Skeptiker in gewisser Weise verachtet.“ Kluge: „Die Skeptiker reiten nur am Horizont vorbei. Sie helfen keinem.“ Negt: „Ihnen fehlt der Block, an dem sie sich abarbeiten müssen.“
CRAB
Marcus Willaschek:
Kant.
Die Revolution
des Denkens.
C. H. Beck, München 2023. 430 Seiten, 28 Euro.
Omri Boehm,
Daniel Kehlmann:
Der bestirnte Himmel
über mir – Ein Gespräch über Kant. Übersetzungen aus dem Englischen von Michael Adrian.
Propyläen-Verlag,
Berlin 2024.
349 Seiten, 26 Euro.
Manfred Kühn:
Kant.
Eine Biografie.
Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer.
C. H. Beck, München 2003. 639 Seiten, 29,90 Euro.
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