Die haptische Wahrnehmung ist von elementarer Bedeutung für die Planung, Steuerung und Ausführung alltäglicher Handlungen. Diese dem Tastsinn zugeordnete Wahrnehmungsform findet immer größere Beachtung. Mit aktuellen Ergebnissen aus interdisziplinärer Forschung und Praxis dokumentiert das Buch das zunehmende Interesse an diesem vielseitigen Forschungsgebiet. Nach einer erkenntnistheoretischen und historischen Einführung widmen sich drei Kapitel neurophysiologischen Grundlagen sowie psychologischen und klinisch-neuropsychologischen Aspekten der haptischen Wahrnehmung. Vielfältige Beispiele unter anderem aus der Automobil- und Lebensmittelindustrie sowie der Raumfahrt verdeutlichen den praktischen Nutzen der dargestellten Erkenntnisse. Das gut verständliche Buch gewährt Fachkundigen und Studenten, aber auch interessierten Laien einen Einblick in dieses faszinierende Wissensgebiet, das stets neue Herausforderungen entdeckt und innovative Lösungen präsentiert.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.02.2002Wenn der Tastsinn zweimal klingelt
Vibrierend in den Adelsstand: Ein Sammelband über haptische Wahrnehmung macht begreiflich, warum die Hand unter die Haut geht
Treten wir nun allmählich aus dem visuellen in das haptische Zeitalter ein? Die Anzeichen scheinen sich jedenfalls zu mehren. Sexualtherapeuten konstatieren ein wachsendes "Kuschelbedürfnis", Heiler mit "magischen Händen" (Masseure und Chiropraktiker) finden derzeit großen Zuspruch, und auch die Konsumgüterindustrie hat inzwischen den Tastsinn als verkaufsförderndes Argument entdeckt. Gerhart Hauptmann scheint geahnt zu haben, welche Chancen die Wiederentdeckung des Tastsinnes bietet. In seinem utopischen Roman "Die Insel der großen Mutter" von 1924, der Züge einer Robinsonade trägt, findet man die prophetischen Worte: "Es ist nicht zu überschätzen, was eintreten wird, wenn die Hand aus dem Stand der Verachtung in den höchsten Adelsstand erhoben wird."
Doch der Tastsinn ist längst nicht auf die Hand beschränkt, wie bereits Aristoteles erkannte. Der Lehrer Alexander des Großen stellte auch schon die Frage nach der Einheitlichkeit des Tastsinnes, die über viele Jahrhunderte in der Forschung umstritten blieb. Wer sich über die neuesten Erkenntnisse zur haptischen Wahrnehmung informieren will, findet in dem vorliegenden Band den Tastsinn aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet, und zwar aus erkenntnistheoretischer, neurophysiologischer, psychologischer, klinischer-neuropsychologischer und anwendungsbezogener Sicht.
Das Problem beginnt schon bei der Terminologie. Statt vom Tastsinn spricht man heute in der Forschung lieber von der haptischen oder taktilen Wahrnehmung, die vom sensomotorischen beziehungsweise somatosensorischen System gesteuert wird. Allerdings gibt es Forscher, die dafür plädieren, Tastsinn als übergeordneten Eigenschaftsbegriff beizubehalten, wie Martin Grunwald in seiner einleitenden und sehr lesenswerten begriffsgeschichtlichen Studie darlegt. Die begriffliche Differenzierung zwischen taktil und haptisch, also zwischen passiver und aktiver Reizaufnahme, macht forschungsgeschichtlich durchaus Sinn, wie Matthias Johns sich daran anschließender historisch-philosophischer Exkurs über den Tastsinn vor Augen führt. Dank der in den letzten beiden Jahrzehnten entwickelten Methode der transkutanen Mikroelektrodentechnik wissen wir heute mehr über die Fähigkeit der sogenannten Mechanorezeptoren, die Veränderung der Intensität eines Reizes zu registrieren und an das Zentralnervensystem weiterzuleiten.
Wie der Forschungsüberblick von Lothar Beyer und Thomas Weiß zeigt, sind mehrere unterschiedliche Mechanorezeptorentypen an der Erkennung eines die Haut berührenden Gegenstandes beteiligt. Erst im Zentralnervensystem werden diese Einzelinformationen synthetisierend verarbeitet. Wie man sich nach neuesten Erkenntnissen den Informationsfluß im zentralen somatosensorischen System vorstellt, ist das Thema eines eigenen Beitrags von Thomas Weiss, der demonstriert, daß sich in bestimmten Hirnarealen Repräsentationen von Haut- und Muskelrezeptoren nachweisen lassen.
Einen wichtigen Baustein zur Theorie der haptischen Wahrnehmung hat die Gestaltpsychologie geliefert. Sie begreift die Wahrnehmung als einen aktiven Prozeß, der nicht an spezifische Sinnesmodalitäten (etwa Sehen oder Tasten) geknüpft ist, "sondern auf eine allgemeine Gegenständlichkeit verweist, die erst sekundär durch die Sinnesorgane eine für diese spezifische Färbung erhält" (Alf Zimmer). Experimentelle Studien scheinen diesen Ansatz zu bestätigen. So konnte man zum Beispiel feststellen, daß der Tastsinn ähnlichen Sinnestäuschungen unterliegt wie das Sehen. Neuere experimentelle Studien bestätigen auch die Vermutung, daß blinde Menschen taktile Informationen effizienter als Sehende auswerten.
Für ein breiteres Publikum dürften die Beiträge von Interesse sein, die sich auf Anwendungsaspekte beziehen. Designern geht es zwar immer noch vornehmlich um den visuellen Eindruck, den ein Gebrauchsgegenstand hinterläßt, doch erinnert man sich inzwischen wieder an die Mahnungen des Bauhauskünstlers Johannes Itten, durch haptische Erfahrung im wahrsten Sinne des Wortes ein Fingerspitzengefühl zur Beurteilung von Texturen zu bekommen. Ein modernes Handy-Design muß inzwischen auch haptische Qualitäten haben, wie Rainer Schönhammer bemerkt, da die "heikle Sozialpsychologie des öffentlichen Telefonierens" zur (wahlweisen) Substitution des Klingelns durch Vibration geführt hat.
Auch deutsche Autofirmen beschäftigen inzwischen Experten für "Haptik Design" im Fahrzeugbau. Für den Einsatz im Straßenverkehr ist ein taktiler Sessel geeignet, der die Möglichkeit der Massage bietet, was diejenigen Auto- und Lkw-Fahrer sicherlich zu schätzen wissen, die täglich lange Strecken fahren. Auch bei der Entwicklung von Blindenleitstreifen sind Haptik-Experten gefragt. Und schließlich sind noch die ungeahnten Möglichkeiten neuer (?) taktiler Erfahrung zu erwähnen, die der sogenannte Cybersex bietet.
ROBERT JÜTTE
Martin Grunwald, Lothar Beyer (Hrsg.): "Der bewegte Sinn". Grundlagen und Anwendungen zur haptischen Wahrnehmung. Birkhäuser Verlag, Basel 2001. 281 S., Abb., br., 49,08.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vibrierend in den Adelsstand: Ein Sammelband über haptische Wahrnehmung macht begreiflich, warum die Hand unter die Haut geht
Treten wir nun allmählich aus dem visuellen in das haptische Zeitalter ein? Die Anzeichen scheinen sich jedenfalls zu mehren. Sexualtherapeuten konstatieren ein wachsendes "Kuschelbedürfnis", Heiler mit "magischen Händen" (Masseure und Chiropraktiker) finden derzeit großen Zuspruch, und auch die Konsumgüterindustrie hat inzwischen den Tastsinn als verkaufsförderndes Argument entdeckt. Gerhart Hauptmann scheint geahnt zu haben, welche Chancen die Wiederentdeckung des Tastsinnes bietet. In seinem utopischen Roman "Die Insel der großen Mutter" von 1924, der Züge einer Robinsonade trägt, findet man die prophetischen Worte: "Es ist nicht zu überschätzen, was eintreten wird, wenn die Hand aus dem Stand der Verachtung in den höchsten Adelsstand erhoben wird."
Doch der Tastsinn ist längst nicht auf die Hand beschränkt, wie bereits Aristoteles erkannte. Der Lehrer Alexander des Großen stellte auch schon die Frage nach der Einheitlichkeit des Tastsinnes, die über viele Jahrhunderte in der Forschung umstritten blieb. Wer sich über die neuesten Erkenntnisse zur haptischen Wahrnehmung informieren will, findet in dem vorliegenden Band den Tastsinn aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet, und zwar aus erkenntnistheoretischer, neurophysiologischer, psychologischer, klinischer-neuropsychologischer und anwendungsbezogener Sicht.
Das Problem beginnt schon bei der Terminologie. Statt vom Tastsinn spricht man heute in der Forschung lieber von der haptischen oder taktilen Wahrnehmung, die vom sensomotorischen beziehungsweise somatosensorischen System gesteuert wird. Allerdings gibt es Forscher, die dafür plädieren, Tastsinn als übergeordneten Eigenschaftsbegriff beizubehalten, wie Martin Grunwald in seiner einleitenden und sehr lesenswerten begriffsgeschichtlichen Studie darlegt. Die begriffliche Differenzierung zwischen taktil und haptisch, also zwischen passiver und aktiver Reizaufnahme, macht forschungsgeschichtlich durchaus Sinn, wie Matthias Johns sich daran anschließender historisch-philosophischer Exkurs über den Tastsinn vor Augen führt. Dank der in den letzten beiden Jahrzehnten entwickelten Methode der transkutanen Mikroelektrodentechnik wissen wir heute mehr über die Fähigkeit der sogenannten Mechanorezeptoren, die Veränderung der Intensität eines Reizes zu registrieren und an das Zentralnervensystem weiterzuleiten.
Wie der Forschungsüberblick von Lothar Beyer und Thomas Weiß zeigt, sind mehrere unterschiedliche Mechanorezeptorentypen an der Erkennung eines die Haut berührenden Gegenstandes beteiligt. Erst im Zentralnervensystem werden diese Einzelinformationen synthetisierend verarbeitet. Wie man sich nach neuesten Erkenntnissen den Informationsfluß im zentralen somatosensorischen System vorstellt, ist das Thema eines eigenen Beitrags von Thomas Weiss, der demonstriert, daß sich in bestimmten Hirnarealen Repräsentationen von Haut- und Muskelrezeptoren nachweisen lassen.
Einen wichtigen Baustein zur Theorie der haptischen Wahrnehmung hat die Gestaltpsychologie geliefert. Sie begreift die Wahrnehmung als einen aktiven Prozeß, der nicht an spezifische Sinnesmodalitäten (etwa Sehen oder Tasten) geknüpft ist, "sondern auf eine allgemeine Gegenständlichkeit verweist, die erst sekundär durch die Sinnesorgane eine für diese spezifische Färbung erhält" (Alf Zimmer). Experimentelle Studien scheinen diesen Ansatz zu bestätigen. So konnte man zum Beispiel feststellen, daß der Tastsinn ähnlichen Sinnestäuschungen unterliegt wie das Sehen. Neuere experimentelle Studien bestätigen auch die Vermutung, daß blinde Menschen taktile Informationen effizienter als Sehende auswerten.
Für ein breiteres Publikum dürften die Beiträge von Interesse sein, die sich auf Anwendungsaspekte beziehen. Designern geht es zwar immer noch vornehmlich um den visuellen Eindruck, den ein Gebrauchsgegenstand hinterläßt, doch erinnert man sich inzwischen wieder an die Mahnungen des Bauhauskünstlers Johannes Itten, durch haptische Erfahrung im wahrsten Sinne des Wortes ein Fingerspitzengefühl zur Beurteilung von Texturen zu bekommen. Ein modernes Handy-Design muß inzwischen auch haptische Qualitäten haben, wie Rainer Schönhammer bemerkt, da die "heikle Sozialpsychologie des öffentlichen Telefonierens" zur (wahlweisen) Substitution des Klingelns durch Vibration geführt hat.
Auch deutsche Autofirmen beschäftigen inzwischen Experten für "Haptik Design" im Fahrzeugbau. Für den Einsatz im Straßenverkehr ist ein taktiler Sessel geeignet, der die Möglichkeit der Massage bietet, was diejenigen Auto- und Lkw-Fahrer sicherlich zu schätzen wissen, die täglich lange Strecken fahren. Auch bei der Entwicklung von Blindenleitstreifen sind Haptik-Experten gefragt. Und schließlich sind noch die ungeahnten Möglichkeiten neuer (?) taktiler Erfahrung zu erwähnen, die der sogenannte Cybersex bietet.
ROBERT JÜTTE
Martin Grunwald, Lothar Beyer (Hrsg.): "Der bewegte Sinn". Grundlagen und Anwendungen zur haptischen Wahrnehmung. Birkhäuser Verlag, Basel 2001. 281 S., Abb., br., 49,08
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Robert Jütte ruft das "haptische Zeitalter" aus. Sexualtherapeuten und Masseure profitierten von einem wachsenden Bedürfnis nach Streicheleinheiten und selbst Auto- oder Handydesigner berücksichtigten neuerdings den haptischen Aspekt. Doch mit der Begriffsbestimmung fängt es schon an, weiß Jütte. Bleibt man lieber bei Tastsinn, wie es altmodisch heißt? Spricht man vom sensomotorischen System? Von der haptischen oder taktilen Wahrnehmung? Aufschluss gibt darüber der vorliegende Sammelband, und zwar aus erkenntnistheoretischer, neurophysiologischer, psychologischer und anwendungsbezogener Sicht, wie Jütte berichtet. Für Laien ist wohl hauptsächlich das anwendungsbezogene Kapitel interessant, vermutet der Rezensent, hier lasse sich allerlei über die Forschung zu Blindenleitstreifen oder Autositze mit Massageeigenschaften erfahren. Eine lesenswerte begriffsgeschichtliche Einführung biete zudem der Aufsatz des Herausgebers Grunwald, wohingegen Mitherausgeber Beyer zusammen mit Thomas Weiß den Forschungsüberblick gewährleiste. Insgesamt, so Jütte: eine gelungene Einführung für Laien ebenso wie ein interessantes Kompendium für Leute vom Fach.
© Perlentaucher Medien GmbH
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