Im Jahr 2000 veröffentlichte das Clay Institute eine Liste mit sieben Rätseln der Mathematik und setzte ein Preisgeld von jeweils einer Million US-Dollar für deren Lösung aus. Eines dieser berühmten "Millennium-Probleme" war der Beweis der Poincaré-Vermutung, an dem sich die klügsten Köpfe seit fast hundert Jahren die Zähne ausbissen. 2002 wurde der Beweis erbracht - von Grigori Jakowlewitsch "Grischa" Perelman, einem exzentrischen russisch-jüdischen Mathematiker. Es war eine Sensation, die Welt der Mathematik lag ihm zu Füßen, und er bekam das Preisgeld zugesprochen. Aber er lehnte ab, nicht nur das Geld, sondern zunehmend auch die Welt. Heute lebt Grischa Perelman, den manche mit Isaac Newton vergleichen, ohne Festanstellung und völlig zurückgezogen bei seiner Mutter in St. Petersburg. Warum war gerade er in der Lage, das Problem zu lösen - und was ist danach mit ihm geschehen? Masha Gessen begibt sich auf Perelmans Spuren, von seinen Anfängen als Wunderkind im Leningrad der 1970er Jahre bis zu seinem Rückzug. Aus Gesprächen mit ehemaligen Mitschülern, Lehrern und Kollegen entsteht nach und nach das Bild eines Mannes, dessen fast übermenschliche gedankliche Strenge ihn zu mathematischen Höchstleistungen befähigt, aber auch immer stärker von der Welt entfremdet. "Der Beweis des Jahrhunderts" ist eine spannende Reise in die Welt der Mathematik. Vor allem aber erzählt es die faszinierende Geschichte eines der größten Genies unserer Zeit. Eine Geschichte von Triumph und Tragik.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.09.2013Das Genie lebt im Hotel Mama
Aus zweiter Hand: Masha Gessen widmet dem russischen Mathematiker Grigorij Perelman eine Biographie
Die Poincarésche Vermutung war eines der schwierigsten mathematischen Probleme des zwanzigsten Jahrhunderts, an dem sich Mathematiker aus aller Welt fast hundert Jahre lang die Zähne ausbissen. Erst im Jahre 2002 gelang es einem sechsunddreißigjährigen Russen, sie zu beweisen. Worüber wohl kaum eine Nachricht in die Tageszeitungen und Nachrichtensendungen gelangt wäre, hätte sich das russische Genie nicht recht exzentrisch verhalten. Grigorij Perelman schlug jede Ehrung aus. Als man ihm die Fields-Medaille und damit ein Preisgeld von einer Million Dollar verleihen wollte, lehnte er ab. 2005 gab er sogar seine Arbeit in einem Sankt Petersburger Forschungsinstitut auf, weil er, wie er sagte, von der Mathematik enttäuscht sei und nun etwas anderes ausprobieren wolle. Seitdem wohnt er bei seiner Mutter am Stadtrand von Sankt Petersburg.
Doch nicht Grigorij Perelman steht am Anfang der Geschichte, sondern der französische Mathematiker Henri Poincaré. Er vermutete 1904, dass jede einfach zusammenhängende, kompakte, unberandete, dreidimensionale Mannigfaltigkeit homöomorph zur 3-Sphäre ist. Bei dieser, für mathematische Laien völlig unverständlichen Vermutung aus der Topologie handelt es sich um Eigenschaften gekrümmter dreidimensionaler Flächen im vierdimensionalen Raum. Vereinfacht und eine Dimension niedriger gesehen, geht es um Oberflächen von Körpern, auf denen Gummiringe liegen. Auf einer Kugeloberfläche lässt sich der Ring zu einem Punkt zusammenziehen, nicht jedoch auf der Oberfläche einer Kaffeetasse, wenn der Gummiring den Henkel umschlingt. Das Problem erwies sich als schwieriger als gedacht, und im Jahr 2000 lobte das Clay Mathematics Institute in Cambridge in Massachusetts für die Lösung von sieben Jahrtausendproblemen jeweils eine Million Dollar aus. Das fünfte dieser Jahrtausendprobleme war die Poincarésche Vermutung.
Perelman wird 1966 in Leningrad als Kind jüdischer Eltern geboren. Seine Mutter ist Mathematiklehrerin. Schon in jungen Jahren wird er in Mathematikclubs zum Hochleistungssportler gedrillt. 1982 gewinnt er eine Goldmedaille bei der Internationalen Mathematikolympiade, wird ohne Aufnahmeprüfung zum Studium zugelassen und ist deshalb vom offiziell nicht existierenden, aber stets vorhandenen Antisemitismus in der Sowjetunion nicht betroffen. Nach dem Studium arbeitet er am Steklow-Institut für Mathematik in Leningrad, zwischen 1992 und 1995 an verschiedenen Universitäten in den Vereinigten Staaten. Trotz Angeboten aus Princeton und Stanford kehrt er 1995 ans Steklow-Institut zurück, wo er zurückgezogen die nächsten sieben Jahre am Beweis der Poincaréschen Vermutung arbeitet.
Das übliche Verfahren, seine Arbeit bei einer Fachzeitschrift einzureichen, wo sie vor Veröffentlichung von Fachleuten geprüft wird, umgeht Perelman: Er stellt seinen Beweis 2002 und 2003 in drei Teilen auf die Website arXiv.org, die wissenschaftliche Vorabdrucke veröffentlicht. Anschließend informiert er die Fachwelt per E-Mail. Seine Veröffentlichung ist nur 66 Seiten lang und extrem knapp formuliert. Weil er es ablehnt, seine Argumentation ausführlich darzustellen und in einem Fachblatt zu publizieren, übernehmen das andere Mathematiker für ihn. 700 Seiten umfassen ihre Publikationen darüber, und schließlich kommen sie 2006 zum Schluss: Perelmans Beweis ist wasserdicht.
Masha Gessen geht es nicht um die Mathematik selbst, sondern um die Menschen hinter der Mathematik. Sie ist nur ein Jahr älter als Perelman und hat wie er russisch-jüdische Wurzeln. Sie zeichnet die Lebensgeschichte Grigorij Perelmans nach, ohne ihn jemals gesprochen zu haben. Ihre Informationen über ihn stammen ausschließlich aus Gesprächen mit seinen Lehrern, Kollegen und Wegbegleitern. Perelman scheut die Öffentlichkeit. Darum kann man sich die Frage stellen, ob es redlich war, ihn gegen seinen erklärten Willen zum Gegenstand eines biographischen Versuchs zu machen. Im vorletzten Kapitel ihres Buches versteigt sich Masha Gessen sogar zu einer Ferndiagnose. Sie vermutet, dass Perelman unter dem Asperger-Syndrom leidet, einer autistischen Störung. Das hätte nicht sein müssen.
HEINRICH HEMME
Masha Gessen: "Der Beweis des Jahrhunderts". Die faszinierende Geschichte des Mathematikers Grigorij Perelman.
Aus dem Englischen von Klaus Binder und Bernd Leineweber. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 300 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aus zweiter Hand: Masha Gessen widmet dem russischen Mathematiker Grigorij Perelman eine Biographie
Die Poincarésche Vermutung war eines der schwierigsten mathematischen Probleme des zwanzigsten Jahrhunderts, an dem sich Mathematiker aus aller Welt fast hundert Jahre lang die Zähne ausbissen. Erst im Jahre 2002 gelang es einem sechsunddreißigjährigen Russen, sie zu beweisen. Worüber wohl kaum eine Nachricht in die Tageszeitungen und Nachrichtensendungen gelangt wäre, hätte sich das russische Genie nicht recht exzentrisch verhalten. Grigorij Perelman schlug jede Ehrung aus. Als man ihm die Fields-Medaille und damit ein Preisgeld von einer Million Dollar verleihen wollte, lehnte er ab. 2005 gab er sogar seine Arbeit in einem Sankt Petersburger Forschungsinstitut auf, weil er, wie er sagte, von der Mathematik enttäuscht sei und nun etwas anderes ausprobieren wolle. Seitdem wohnt er bei seiner Mutter am Stadtrand von Sankt Petersburg.
Doch nicht Grigorij Perelman steht am Anfang der Geschichte, sondern der französische Mathematiker Henri Poincaré. Er vermutete 1904, dass jede einfach zusammenhängende, kompakte, unberandete, dreidimensionale Mannigfaltigkeit homöomorph zur 3-Sphäre ist. Bei dieser, für mathematische Laien völlig unverständlichen Vermutung aus der Topologie handelt es sich um Eigenschaften gekrümmter dreidimensionaler Flächen im vierdimensionalen Raum. Vereinfacht und eine Dimension niedriger gesehen, geht es um Oberflächen von Körpern, auf denen Gummiringe liegen. Auf einer Kugeloberfläche lässt sich der Ring zu einem Punkt zusammenziehen, nicht jedoch auf der Oberfläche einer Kaffeetasse, wenn der Gummiring den Henkel umschlingt. Das Problem erwies sich als schwieriger als gedacht, und im Jahr 2000 lobte das Clay Mathematics Institute in Cambridge in Massachusetts für die Lösung von sieben Jahrtausendproblemen jeweils eine Million Dollar aus. Das fünfte dieser Jahrtausendprobleme war die Poincarésche Vermutung.
Perelman wird 1966 in Leningrad als Kind jüdischer Eltern geboren. Seine Mutter ist Mathematiklehrerin. Schon in jungen Jahren wird er in Mathematikclubs zum Hochleistungssportler gedrillt. 1982 gewinnt er eine Goldmedaille bei der Internationalen Mathematikolympiade, wird ohne Aufnahmeprüfung zum Studium zugelassen und ist deshalb vom offiziell nicht existierenden, aber stets vorhandenen Antisemitismus in der Sowjetunion nicht betroffen. Nach dem Studium arbeitet er am Steklow-Institut für Mathematik in Leningrad, zwischen 1992 und 1995 an verschiedenen Universitäten in den Vereinigten Staaten. Trotz Angeboten aus Princeton und Stanford kehrt er 1995 ans Steklow-Institut zurück, wo er zurückgezogen die nächsten sieben Jahre am Beweis der Poincaréschen Vermutung arbeitet.
Das übliche Verfahren, seine Arbeit bei einer Fachzeitschrift einzureichen, wo sie vor Veröffentlichung von Fachleuten geprüft wird, umgeht Perelman: Er stellt seinen Beweis 2002 und 2003 in drei Teilen auf die Website arXiv.org, die wissenschaftliche Vorabdrucke veröffentlicht. Anschließend informiert er die Fachwelt per E-Mail. Seine Veröffentlichung ist nur 66 Seiten lang und extrem knapp formuliert. Weil er es ablehnt, seine Argumentation ausführlich darzustellen und in einem Fachblatt zu publizieren, übernehmen das andere Mathematiker für ihn. 700 Seiten umfassen ihre Publikationen darüber, und schließlich kommen sie 2006 zum Schluss: Perelmans Beweis ist wasserdicht.
Masha Gessen geht es nicht um die Mathematik selbst, sondern um die Menschen hinter der Mathematik. Sie ist nur ein Jahr älter als Perelman und hat wie er russisch-jüdische Wurzeln. Sie zeichnet die Lebensgeschichte Grigorij Perelmans nach, ohne ihn jemals gesprochen zu haben. Ihre Informationen über ihn stammen ausschließlich aus Gesprächen mit seinen Lehrern, Kollegen und Wegbegleitern. Perelman scheut die Öffentlichkeit. Darum kann man sich die Frage stellen, ob es redlich war, ihn gegen seinen erklärten Willen zum Gegenstand eines biographischen Versuchs zu machen. Im vorletzten Kapitel ihres Buches versteigt sich Masha Gessen sogar zu einer Ferndiagnose. Sie vermutet, dass Perelman unter dem Asperger-Syndrom leidet, einer autistischen Störung. Das hätte nicht sein müssen.
HEINRICH HEMME
Masha Gessen: "Der Beweis des Jahrhunderts". Die faszinierende Geschichte des Mathematikers Grigorij Perelman.
Aus dem Englischen von Klaus Binder und Bernd Leineweber. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 300 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Eine faszinierende Biografie."
The New York Review of Books 17.12.2012
The New York Review of Books 17.12.2012
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Heinrich Hemme stellt sich die Frage, ob so ein Buch redlich ist. Eine Biografie nur anhand der Aussagen von Lehrern, Kollegen und Wegbegleitern zu erstellen, ohne den quicklebendigen Menschen zu befragen oder um Erlaubnis zu bitten, erscheint Hemme immerhin seltsam. Alledings lässt sich das scheue Mathematikgenie Grigorij Perelman auch nicht in die Karten schauen. Fragen ließe sich auch, warum dann ausgerechnet ein Buch über den Menschen Perelman zu schreiben ist und nicht über seine Passion, die Mathematik? Wenn Masha Gessen Perelmans Lebensgeschichte überdies mit der Ferndiagnose "Asperger Syndrom" krönt, steigt der Rezensent aus.
© Perlentaucher Medien GmbH
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