Bismarcks langer Schatten - der politische Gebrauch einer Legende
Wie kein zweiter deutscher Staatsmann hat Otto von Bismarck Generationen von Deutschen fasziniert und ihre politischen Vorstellungen beeinflusst. Robert Gerwarth zeichnet Entstehung und Entwicklung des Bismarck-Mythos nach, der die politische Kultur Deutschlands seit dem Kaiserreich wesentlich prägte und mit dem wachsenden Wunsch nach einem neuen "charismatischen Führer" Hitler den Weg zur Macht erleichterte.
Die Erinnerung an Bismarck (1815-1898) diente in der Weimarer Republik vor allem antidemokratischen und nationalistischen Strömungen als Instrument zur Verbreitung ihrer Ideologie. Versuche der politischen Linken, mit der Rückbesinnung auf den ersten Kanzler des Deutschen Reichs Unterstützer für die Demokratie zu mobilisieren, blieben dagegen ohne große Resonanz. Mit der Stilisierung Otto von Bismarcks zum Retter wurde vielmehr die Sehnsucht nach einem "charismatischen Führer" angeheizt, die Hitler erfolgreich für sich nutzen konnte.
So wurde der Bismarck-Mythos von entscheidender Bedeutung für die Schwächung der ersten deutschen Republik. Auch nach 1945 endete der Kampf um die Deutung des "Eisernen Kanzlers" nicht: In Ost- und Westdeutschland diente die Legendenbildung um Bismarck sowie der Streit um seine Leistungen und Fehler stets politischen Zwecken.
Robert Gerwarth belegt mit seiner Studie überzeugend und präzise, welche Sprengkraft der Bismarck-Mythos für die politische Kultur im 20. Jahrhundert besaß.
- Bismarck zählt auch heute zu den beliebtesten Deutschen.
- Über den gefährlichen Wunsch nach einem "starken Mann" im Staat.
Wie kein zweiter deutscher Staatsmann hat Otto von Bismarck Generationen von Deutschen fasziniert und ihre politischen Vorstellungen beeinflusst. Robert Gerwarth zeichnet Entstehung und Entwicklung des Bismarck-Mythos nach, der die politische Kultur Deutschlands seit dem Kaiserreich wesentlich prägte und mit dem wachsenden Wunsch nach einem neuen "charismatischen Führer" Hitler den Weg zur Macht erleichterte.
Die Erinnerung an Bismarck (1815-1898) diente in der Weimarer Republik vor allem antidemokratischen und nationalistischen Strömungen als Instrument zur Verbreitung ihrer Ideologie. Versuche der politischen Linken, mit der Rückbesinnung auf den ersten Kanzler des Deutschen Reichs Unterstützer für die Demokratie zu mobilisieren, blieben dagegen ohne große Resonanz. Mit der Stilisierung Otto von Bismarcks zum Retter wurde vielmehr die Sehnsucht nach einem "charismatischen Führer" angeheizt, die Hitler erfolgreich für sich nutzen konnte.
So wurde der Bismarck-Mythos von entscheidender Bedeutung für die Schwächung der ersten deutschen Republik. Auch nach 1945 endete der Kampf um die Deutung des "Eisernen Kanzlers" nicht: In Ost- und Westdeutschland diente die Legendenbildung um Bismarck sowie der Streit um seine Leistungen und Fehler stets politischen Zwecken.
Robert Gerwarth belegt mit seiner Studie überzeugend und präzise, welche Sprengkraft der Bismarck-Mythos für die politische Kultur im 20. Jahrhundert besaß.
- Bismarck zählt auch heute zu den beliebtesten Deutschen.
- Über den gefährlichen Wunsch nach einem "starken Mann" im Staat.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.05.2008Mächtiger Gegner
Der Bismarck-Mythos im Übergang vom deutschen Kaiserreich zur Weimarer Republik
Im Mythos wird Geschichte zum Orakel, dem politische Handlungsanweisungen abverlangt werden. Seine Weissagungen sind stets umstritten, denn sie entwerfen ein Vergangenheitsbild, in dem die Gegenwart Aufschlüsse über sich und den Weg in die Zukunft sucht. Streit über einen Mythos ist kein Zeichen für dessen Schwäche. Dessen politische Bedeutung lässt sich vielmehr an der Heftigkeit ablesen, mit der über ihn gestritten wird. Und an seiner Fähigkeit, seinen Sinn zu ändern. Nur starke Mythen sind fähig, einen Geschichtsbruch zu überstehen und ihm Sinn abzugewinnen. Der Bismarck-Mythos war ein starker Mythos. Er überstand mehrere Systemwechsel, wechselte dabei seine Bedeutung, die aber zu keiner Zeit eindeutig festgelegt war. Mythen behalten ihre Kraft, solange sie mehrdeutig sind.
Im Übergang vom deutschen Kaiserreich zur Weimarer Republik verkehrte der Bismarck-Mythos seine politische Zielrichtung. In der Monarchie hatte er die politische Ordnung gerechtfertigt, in der Republik verdammte er sie. Deshalb konnten ihn die Nationalsozialisten nutzen, um in "waghalsigen Ahnenreihen" - wie Joachim Fest schon 1973 geschrieben hat - Hitler zum Vollender deutscher Geschichte zu stilisieren. Im Zweiten Weltkrieg zeigte sich dann jedoch, dass sich der Bismarck-Mythos nicht grenzenlos umdeuten ließ. Die nationalsozialistische Propaganda verzichtete nahezu völlig auf ihn, während zur gleichen Zeit Bismarck in verschiedenen Widerstandskreisen als nationalkonservative Zukunftshoffnung und in sowjetischen Flugblättern als Repräsentant eines besseren, maßvollen Deutschland wiederentdeckt wurde. Auch nach 1945 diente die Berufung auf Bismarck zunächst noch dazu, eigene Ziele historisch zu legitimieren.
1998, als sich Bismarcks Todestag zum hundertsten Mal jährte, wussten hingegen 53 Prozent aller Deutschen nicht mehr, wer Bismarck war, wie eine Meinungsumfrage ergab, die als repräsentativ bezeichnet wurde. Als jedoch 2003 das ZDF den "größten Deutschen" küren ließ, setzten knapp vier Prozent von mehr als drei Millionen Menschen Bismarck immerhin auf den neunten Platz. Ob seine "Paten" - die letzten zehn von insgesamt 100 Personen wurden in der "Endrunde" von Prominenten vorgestellt - eine der vielen Varianten des Bismarck-Mythos weiterführten, untersucht der in Oxford lehrende Autor nicht. Er konzentriert sich auf die Zeit der Weimarer Republik.
Der ersten deutschen parlamentarischen Republik erwuchs, so Robert Gerwarths Analyse, die sich vorrangig auf eine Vielzahl von Zeitungen und Zeitschriften stützt, im Bismarck-Mythos ein mächtiger Gegner, der im "Bürgerkrieg der Erinnerungen und historischen Symbole" ideologische Waffen bereitstellte. Er rief eine idealisierte Vergangenheit auf, an der die Gegenwart gemessen und als zu dürftig verworfen wurde. Vor allem aber markierte er scharf die beiden Hauptmängel, welche die Antirepublikaner dem Weimarer Staat anlasteten: den Parlamentarismus als Staatsform der Sieger, der deutschen Geschichte vermeintlich fremd und unverträglich, übernommen zu haben; und die Unfähigkeit, einen charismatischen Führer hervorzubringen, der die Gegenwartsmisere überwindet. In einer Zeit, die nach neuen Ordnungen suchte, schien der Bismarck-Mythos einen vergangenheitsverbürgten Orientierungspunkt bereitzustellen: der erste deutsche Nationalstaat und sein Heros. Geschichtsdeutung wurde zur vergifteten Waffe in der Gegenwart. Deshalb spricht der Autor Hitlers Geschichtsbild, das er 1939 bei der Einweihung des Schlachtschiffs Bismarck kundtat, Plausibilität zu, sofern man die Berufung auf Bismarck durch den Mythos um ihn ersetzt: "Unter allen Männer, die beanspruchen können, ebenfalls Wegbereiter des neuen Reiches gewesen zu sein, ragt einer in gewaltiger Einsamkeit heraus: Bismarck."
Gerwarth verwebt den Bismarck-Mythos mit der Geschichte der Weimarer Republik, ihren verschiedenen Entwicklungsphasen und ihren Kämpfen. So entsteht der Eindruck einer Allgegenwärtigkeit dieses Mythos bei den Anhängern wie bei den Gegnern. Ob das so war oder dieses Bild im Konstruktionsplan des Autors begründet ist, lässt sich auf der Grundlage dieses Buches nicht prüfen. Dazu müssen andere Darstellungen über die ideologischen Zerklüftungen in der Gesellschaft der Weimarer und ihre politischen Kämpfe konsultiert werden. Tut man das, wird man wohl doch sagen dürfen: Die Konfliktgeschichte dieser Zeit lässt sich auch ohne den Bismarck-Mythos erzählen, zumindest ohne ihn so ins Zentrum zu rücken. Es gibt offensichtlich auch andere rote Fäden, an denen sich das antidemokratische Denken und Handeln erschließen lässt.
Den Erklärungsanspruch des Autors zu relativieren bedeutet aber nicht, seine Leistung zu schmälern. Es gelingt ihm, dem Leser in eindringlichen Quellenstudien vor Augen zu führen, wie das Kaiserreich, das gerade erst zur Vergangenheit geworden war, in der Gestalt Bismarcks als Mythos aufersteht und als Geschichtswaffe gegen die Gegenwart eingesetzt wird. Daran waren Historiker wie Erich Marcks beteiligt, wenngleich einige wie Johannes Ziekursch ein ganz anderes Bild entwarfen, in dem Bismarck das Reich dem "Geist der Zeit entgegen" gegründet hat. Mit "Rückkehr zu Bismarck" verlangten die Anhänger der Monarchie die Restaurierung der untergegangenen Staatsordnung, die völkische Rechte hingegen beschwor mit dieser Formel den Willen, das kleindeutsche Reich als eine Abschlagszahlung zu nehmen, um nun zu erfüllen, was Bismarck verwehrt geblieben sei.
Auch im Linksliberalismus, in der Sozialdemokratie und bei den Kommunisten wurde Bismarck in Stellung gebracht, indem sie ihn zu demontieren suchten, um die politischen Gegner zu bekämpfen. Der Bismarck-Mythos ließ sich also in alle Richtungen ausdeuten. Wenn sich die demokratiewidrigen Varianten durchsetzten, so lag das nicht an dem Mythos, sondern an der Überwältigung der Republik durch ihre Gegner. Ihre Mythen siegten, weil ihre Verfechter siegten.
DIETER LANGEWIESCHE
Robert Gerwarth: Der Bismarck-Mythos. Die Deutschen und der Eiserne Kanzler. Siedler Verlag, München 2007. 285 S., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Bismarck-Mythos im Übergang vom deutschen Kaiserreich zur Weimarer Republik
Im Mythos wird Geschichte zum Orakel, dem politische Handlungsanweisungen abverlangt werden. Seine Weissagungen sind stets umstritten, denn sie entwerfen ein Vergangenheitsbild, in dem die Gegenwart Aufschlüsse über sich und den Weg in die Zukunft sucht. Streit über einen Mythos ist kein Zeichen für dessen Schwäche. Dessen politische Bedeutung lässt sich vielmehr an der Heftigkeit ablesen, mit der über ihn gestritten wird. Und an seiner Fähigkeit, seinen Sinn zu ändern. Nur starke Mythen sind fähig, einen Geschichtsbruch zu überstehen und ihm Sinn abzugewinnen. Der Bismarck-Mythos war ein starker Mythos. Er überstand mehrere Systemwechsel, wechselte dabei seine Bedeutung, die aber zu keiner Zeit eindeutig festgelegt war. Mythen behalten ihre Kraft, solange sie mehrdeutig sind.
Im Übergang vom deutschen Kaiserreich zur Weimarer Republik verkehrte der Bismarck-Mythos seine politische Zielrichtung. In der Monarchie hatte er die politische Ordnung gerechtfertigt, in der Republik verdammte er sie. Deshalb konnten ihn die Nationalsozialisten nutzen, um in "waghalsigen Ahnenreihen" - wie Joachim Fest schon 1973 geschrieben hat - Hitler zum Vollender deutscher Geschichte zu stilisieren. Im Zweiten Weltkrieg zeigte sich dann jedoch, dass sich der Bismarck-Mythos nicht grenzenlos umdeuten ließ. Die nationalsozialistische Propaganda verzichtete nahezu völlig auf ihn, während zur gleichen Zeit Bismarck in verschiedenen Widerstandskreisen als nationalkonservative Zukunftshoffnung und in sowjetischen Flugblättern als Repräsentant eines besseren, maßvollen Deutschland wiederentdeckt wurde. Auch nach 1945 diente die Berufung auf Bismarck zunächst noch dazu, eigene Ziele historisch zu legitimieren.
1998, als sich Bismarcks Todestag zum hundertsten Mal jährte, wussten hingegen 53 Prozent aller Deutschen nicht mehr, wer Bismarck war, wie eine Meinungsumfrage ergab, die als repräsentativ bezeichnet wurde. Als jedoch 2003 das ZDF den "größten Deutschen" küren ließ, setzten knapp vier Prozent von mehr als drei Millionen Menschen Bismarck immerhin auf den neunten Platz. Ob seine "Paten" - die letzten zehn von insgesamt 100 Personen wurden in der "Endrunde" von Prominenten vorgestellt - eine der vielen Varianten des Bismarck-Mythos weiterführten, untersucht der in Oxford lehrende Autor nicht. Er konzentriert sich auf die Zeit der Weimarer Republik.
Der ersten deutschen parlamentarischen Republik erwuchs, so Robert Gerwarths Analyse, die sich vorrangig auf eine Vielzahl von Zeitungen und Zeitschriften stützt, im Bismarck-Mythos ein mächtiger Gegner, der im "Bürgerkrieg der Erinnerungen und historischen Symbole" ideologische Waffen bereitstellte. Er rief eine idealisierte Vergangenheit auf, an der die Gegenwart gemessen und als zu dürftig verworfen wurde. Vor allem aber markierte er scharf die beiden Hauptmängel, welche die Antirepublikaner dem Weimarer Staat anlasteten: den Parlamentarismus als Staatsform der Sieger, der deutschen Geschichte vermeintlich fremd und unverträglich, übernommen zu haben; und die Unfähigkeit, einen charismatischen Führer hervorzubringen, der die Gegenwartsmisere überwindet. In einer Zeit, die nach neuen Ordnungen suchte, schien der Bismarck-Mythos einen vergangenheitsverbürgten Orientierungspunkt bereitzustellen: der erste deutsche Nationalstaat und sein Heros. Geschichtsdeutung wurde zur vergifteten Waffe in der Gegenwart. Deshalb spricht der Autor Hitlers Geschichtsbild, das er 1939 bei der Einweihung des Schlachtschiffs Bismarck kundtat, Plausibilität zu, sofern man die Berufung auf Bismarck durch den Mythos um ihn ersetzt: "Unter allen Männer, die beanspruchen können, ebenfalls Wegbereiter des neuen Reiches gewesen zu sein, ragt einer in gewaltiger Einsamkeit heraus: Bismarck."
Gerwarth verwebt den Bismarck-Mythos mit der Geschichte der Weimarer Republik, ihren verschiedenen Entwicklungsphasen und ihren Kämpfen. So entsteht der Eindruck einer Allgegenwärtigkeit dieses Mythos bei den Anhängern wie bei den Gegnern. Ob das so war oder dieses Bild im Konstruktionsplan des Autors begründet ist, lässt sich auf der Grundlage dieses Buches nicht prüfen. Dazu müssen andere Darstellungen über die ideologischen Zerklüftungen in der Gesellschaft der Weimarer und ihre politischen Kämpfe konsultiert werden. Tut man das, wird man wohl doch sagen dürfen: Die Konfliktgeschichte dieser Zeit lässt sich auch ohne den Bismarck-Mythos erzählen, zumindest ohne ihn so ins Zentrum zu rücken. Es gibt offensichtlich auch andere rote Fäden, an denen sich das antidemokratische Denken und Handeln erschließen lässt.
Den Erklärungsanspruch des Autors zu relativieren bedeutet aber nicht, seine Leistung zu schmälern. Es gelingt ihm, dem Leser in eindringlichen Quellenstudien vor Augen zu führen, wie das Kaiserreich, das gerade erst zur Vergangenheit geworden war, in der Gestalt Bismarcks als Mythos aufersteht und als Geschichtswaffe gegen die Gegenwart eingesetzt wird. Daran waren Historiker wie Erich Marcks beteiligt, wenngleich einige wie Johannes Ziekursch ein ganz anderes Bild entwarfen, in dem Bismarck das Reich dem "Geist der Zeit entgegen" gegründet hat. Mit "Rückkehr zu Bismarck" verlangten die Anhänger der Monarchie die Restaurierung der untergegangenen Staatsordnung, die völkische Rechte hingegen beschwor mit dieser Formel den Willen, das kleindeutsche Reich als eine Abschlagszahlung zu nehmen, um nun zu erfüllen, was Bismarck verwehrt geblieben sei.
Auch im Linksliberalismus, in der Sozialdemokratie und bei den Kommunisten wurde Bismarck in Stellung gebracht, indem sie ihn zu demontieren suchten, um die politischen Gegner zu bekämpfen. Der Bismarck-Mythos ließ sich also in alle Richtungen ausdeuten. Wenn sich die demokratiewidrigen Varianten durchsetzten, so lag das nicht an dem Mythos, sondern an der Überwältigung der Republik durch ihre Gegner. Ihre Mythen siegten, weil ihre Verfechter siegten.
DIETER LANGEWIESCHE
Robert Gerwarth: Der Bismarck-Mythos. Die Deutschen und der Eiserne Kanzler. Siedler Verlag, München 2007. 285 S., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.07.2007Ein starkes Geschütz der Republikgegner
„Zurück zu Bismarck!” – Robert Gerwarth erzählt, wie die Deutschen den Mythos des Eisernen Kanzlers erfanden und missbrauchten
Als Otto von Bismarcks Regentschaft 1890 zu Ende ging, reagierte die deutsche Öffentlichkeit mit erstaunlichem Gleichmut. Dass Sozialdemokraten, Zentrumskatholiken und Linksliberale dem Reichsgründer nicht nachtrauern würden, war zu erwarten gewesen. Aber auch auf der politischen Rechten deutete zunächst kaum etwas auf jene retrospektive Idealisierung hin, die sich in den Jahren nach Bismarcks politischem Rückzug langsam entfalten und nach seinem Tod rapide verstärken sollte. Spätestens um die Jahrhundertwende war aus dem zu Lebzeiten persönlich und politisch umstrittenen Bismarck eine heroische Kultfigur geworden.
Der „Eiserne Kanzler” wurde verklärt, glorifiziert, mythisch überhöht. Der „Bismarck-Mythos” avancierte zu einem zentralen Bestandteil der politischen Kultur des wilhelminischen Deutschland. Zum einen unterfütterte er die nationalistisch-konservative Opposition gegen das Regiment des Kaisers, zum anderen erfüllte er eine übergeordnete, systemstabilisierende Funktion im Kampf gegen „Reichsfeinde” aller Art. Vielerorts wurden Bismarck-Gesellschaften gegründet, Denkmäler und Statuen errichtet, literarisch-triviale Huldigungen verfasst und Bismarck-Devotionalien unter die Leute gebracht. Auch Bismarck selbst hatte noch in seinen letzten Jahren an der eigenen Legende gestrickt. Immer wieder sorgte die „Kassandra im Sachsenwald” mit unfreundlichen politischen Kommentaren für Verdruss. Sein Memoirenwerk „Gedanken und Erinnerungen” ließ Bismarck wohlweislich erst nach seinem Tod publizieren – als Vermächtnis sozusagen, das seine Wirkung aufs Publikum nicht verfehlte und zu einem Bestseller wurde.
So bedeutsam der Bismarck-Mythos schon im Kaiserreich gewesen war, eine nachgerade verhängnisvolle Rolle wuchs ihm erst in der Weimarer Republik zu. Wie der Historiker Robert Gerwarth in seiner analytisch scharfsinnigen, stets anschaulichen, stellenweise freilich auch redundanten Studie zeigt, wurde der Bismarck-Mythos für die erste deutsche Demokratie zu einer schweren Belastung und trug nicht unwesentlich zu ihrem Scheitern bei. Unter dem Schlachtruf „Zurück zu Bismarck” versammelten sich jene, die sich mit der republikanischen Wende nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg nicht abfinden wollten. Vordergründig stand dabei die adäquate historische Einordnung des ehemaligen Reichskanzlers und preußischen Ministerpräsidenten zur Debatte, in Wahrheit ging es aber um den historischen Standort der Weimarer Republik, mehr noch: um ihre Existenzberechtigung als solche. Der Bismarck-Mythos stärkte zentrale Elemente der rechten Agitation gegen Weimar: die Ablehnung des westlichen Parlamentarismus und die Forderung nach einer starken, charismatischen Führergestalt.
Die junge Republik geriet in einen erbitterten „Bürgerkrieg der Erinnerungen und historischen Symbole”. Vielleicht hätte sie ihn gewinnen können, wenn eines ihrer ersten Projekte – die Eingliederung Deutsch-Österreichs ins Reich – geglückt wäre. Dann hätte sie sich als Vollenderin des Bismarckschen Einigungswerks darstellen können. Doch der Versailler Friedensvertrag vereitelte das Vorhaben. Auch in den Folgejahren ist es den republiktreuen Kräften nie gelungen, den Bismarck-Mythos zu diskreditieren oder durch einen ebenso strahlkräftigen „Gegen-Mythos” zu neutralisieren. Selbst der Versuch Gustav Stresemanns, den ideologischen Verzerrungen der Rechten ein alternatives Bismarck-Bild – das des nüchternen Realpolitikers – entgegenzusetzen und so die eigene, verständigungsorientierte Außenpolitik zu legitimieren, blieb in seiner Wirkung begrenzt. Ob es sich um historische Kontroversen mit Bezug zur politischen Gegenwart handelte oder um aktuelle politische Konflikte, die mit historischen Argumenten ausgefochten wurden – stets wurde von den Gegnern der Republik das Bismarck-Geschütz in Stellung gebracht. Bei der Reichspräsidentenwahl 1925 konstruierten sie ganz bewusst eine geradezu mythologische Verbindung zwischen Bismarck und dem späteren Wahlsieger Hindenburg, den sie als „Nachfolger” und „Retter” präsentierten. Dem lag ein Kalkül zugrunde, das sich, wie Hindenburgs Wahlkampfleiter offen bekannte, den Umstand zunutze machte, dass der „deutsche Nationalcharakter” das „patriarchalische Vorbild” liebe und sich zu einer Persönlichkeit hingezogen fühle, der man „Rettungskräfte mystischer Art zuschreibt”.
Die sich nach 1929 verschärfende wirtschaftliche und politische Krise brachte die Sehnsucht nach einem bismarckgleichen „Erlöser” noch stärker zur Geltung. Hitler hat zwar die Parole „Zurück zu Bismarck” nicht übernommen; dennoch beutete niemand das entsprechende Verlangen mit größerem demagogischen Geschick aus als er.
Auch wenn Gerwarth die Bedeutung Bismarcks für Hitlers Selbstverständnis vermutlich überschätzt, kann es doch keinem Zweifel unterliegen, dass der Bismarck-Mythos dem Naziführer das ideologische Feld bereitete und ihm half, seine Herrschaft zu stabilisieren. Insbesondere verringerte er die Kluft zu Teilen des konservativen Bürgertums. Manche brauchten, so Gerwarth, zwölf Jahre, um zu erkennen, dass Hitlers „Machtergreifung” nicht den Sieg der „Ideen von 1871” bedeutete. Vielmehr markierte sie den Anfang vom Ende jenes Reiches, das Bismarck gegründet hatte – und zugleich den Anfang vom Ende des Bismarck-Mythos. ULRICH TEUSCH
ROBERT GERWARTH: Der Bismarck-Mythos. Die Deutschen und der Eiserne Kanzler. Siedler Verlag, München 2007. 287 Seiten, 19,95 Euro.
Ein Realpolitiker mit Doggen im Park seines Gutes Friedrichsruh Foto: Scherl
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„Zurück zu Bismarck!” – Robert Gerwarth erzählt, wie die Deutschen den Mythos des Eisernen Kanzlers erfanden und missbrauchten
Als Otto von Bismarcks Regentschaft 1890 zu Ende ging, reagierte die deutsche Öffentlichkeit mit erstaunlichem Gleichmut. Dass Sozialdemokraten, Zentrumskatholiken und Linksliberale dem Reichsgründer nicht nachtrauern würden, war zu erwarten gewesen. Aber auch auf der politischen Rechten deutete zunächst kaum etwas auf jene retrospektive Idealisierung hin, die sich in den Jahren nach Bismarcks politischem Rückzug langsam entfalten und nach seinem Tod rapide verstärken sollte. Spätestens um die Jahrhundertwende war aus dem zu Lebzeiten persönlich und politisch umstrittenen Bismarck eine heroische Kultfigur geworden.
Der „Eiserne Kanzler” wurde verklärt, glorifiziert, mythisch überhöht. Der „Bismarck-Mythos” avancierte zu einem zentralen Bestandteil der politischen Kultur des wilhelminischen Deutschland. Zum einen unterfütterte er die nationalistisch-konservative Opposition gegen das Regiment des Kaisers, zum anderen erfüllte er eine übergeordnete, systemstabilisierende Funktion im Kampf gegen „Reichsfeinde” aller Art. Vielerorts wurden Bismarck-Gesellschaften gegründet, Denkmäler und Statuen errichtet, literarisch-triviale Huldigungen verfasst und Bismarck-Devotionalien unter die Leute gebracht. Auch Bismarck selbst hatte noch in seinen letzten Jahren an der eigenen Legende gestrickt. Immer wieder sorgte die „Kassandra im Sachsenwald” mit unfreundlichen politischen Kommentaren für Verdruss. Sein Memoirenwerk „Gedanken und Erinnerungen” ließ Bismarck wohlweislich erst nach seinem Tod publizieren – als Vermächtnis sozusagen, das seine Wirkung aufs Publikum nicht verfehlte und zu einem Bestseller wurde.
So bedeutsam der Bismarck-Mythos schon im Kaiserreich gewesen war, eine nachgerade verhängnisvolle Rolle wuchs ihm erst in der Weimarer Republik zu. Wie der Historiker Robert Gerwarth in seiner analytisch scharfsinnigen, stets anschaulichen, stellenweise freilich auch redundanten Studie zeigt, wurde der Bismarck-Mythos für die erste deutsche Demokratie zu einer schweren Belastung und trug nicht unwesentlich zu ihrem Scheitern bei. Unter dem Schlachtruf „Zurück zu Bismarck” versammelten sich jene, die sich mit der republikanischen Wende nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg nicht abfinden wollten. Vordergründig stand dabei die adäquate historische Einordnung des ehemaligen Reichskanzlers und preußischen Ministerpräsidenten zur Debatte, in Wahrheit ging es aber um den historischen Standort der Weimarer Republik, mehr noch: um ihre Existenzberechtigung als solche. Der Bismarck-Mythos stärkte zentrale Elemente der rechten Agitation gegen Weimar: die Ablehnung des westlichen Parlamentarismus und die Forderung nach einer starken, charismatischen Führergestalt.
Die junge Republik geriet in einen erbitterten „Bürgerkrieg der Erinnerungen und historischen Symbole”. Vielleicht hätte sie ihn gewinnen können, wenn eines ihrer ersten Projekte – die Eingliederung Deutsch-Österreichs ins Reich – geglückt wäre. Dann hätte sie sich als Vollenderin des Bismarckschen Einigungswerks darstellen können. Doch der Versailler Friedensvertrag vereitelte das Vorhaben. Auch in den Folgejahren ist es den republiktreuen Kräften nie gelungen, den Bismarck-Mythos zu diskreditieren oder durch einen ebenso strahlkräftigen „Gegen-Mythos” zu neutralisieren. Selbst der Versuch Gustav Stresemanns, den ideologischen Verzerrungen der Rechten ein alternatives Bismarck-Bild – das des nüchternen Realpolitikers – entgegenzusetzen und so die eigene, verständigungsorientierte Außenpolitik zu legitimieren, blieb in seiner Wirkung begrenzt. Ob es sich um historische Kontroversen mit Bezug zur politischen Gegenwart handelte oder um aktuelle politische Konflikte, die mit historischen Argumenten ausgefochten wurden – stets wurde von den Gegnern der Republik das Bismarck-Geschütz in Stellung gebracht. Bei der Reichspräsidentenwahl 1925 konstruierten sie ganz bewusst eine geradezu mythologische Verbindung zwischen Bismarck und dem späteren Wahlsieger Hindenburg, den sie als „Nachfolger” und „Retter” präsentierten. Dem lag ein Kalkül zugrunde, das sich, wie Hindenburgs Wahlkampfleiter offen bekannte, den Umstand zunutze machte, dass der „deutsche Nationalcharakter” das „patriarchalische Vorbild” liebe und sich zu einer Persönlichkeit hingezogen fühle, der man „Rettungskräfte mystischer Art zuschreibt”.
Die sich nach 1929 verschärfende wirtschaftliche und politische Krise brachte die Sehnsucht nach einem bismarckgleichen „Erlöser” noch stärker zur Geltung. Hitler hat zwar die Parole „Zurück zu Bismarck” nicht übernommen; dennoch beutete niemand das entsprechende Verlangen mit größerem demagogischen Geschick aus als er.
Auch wenn Gerwarth die Bedeutung Bismarcks für Hitlers Selbstverständnis vermutlich überschätzt, kann es doch keinem Zweifel unterliegen, dass der Bismarck-Mythos dem Naziführer das ideologische Feld bereitete und ihm half, seine Herrschaft zu stabilisieren. Insbesondere verringerte er die Kluft zu Teilen des konservativen Bürgertums. Manche brauchten, so Gerwarth, zwölf Jahre, um zu erkennen, dass Hitlers „Machtergreifung” nicht den Sieg der „Ideen von 1871” bedeutete. Vielmehr markierte sie den Anfang vom Ende jenes Reiches, das Bismarck gegründet hatte – und zugleich den Anfang vom Ende des Bismarck-Mythos. ULRICH TEUSCH
ROBERT GERWARTH: Der Bismarck-Mythos. Die Deutschen und der Eiserne Kanzler. Siedler Verlag, München 2007. 287 Seiten, 19,95 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
"Lobenswert knapp und anschaulich", so beurteilt Cord Aschenbrenner die Dissertation des Historikers Robert Gerwarth über den Bismarck-Mythos. Mit dem Buch liegt erstmals seit 1945 eine Untersuchung vor, die sich ausführlich mit der Stilisierung und Instrumentalisierung Bismarcks auseinandersetzt, freut sich der Rezensent. Er referiert zusammenfassend, wie der "Mythos Bismarck", der heute weitgehend vergessen sei, die Politik zu Beginn des 20. Jahrhunderts entscheidend prägte. Bismarck wurde besonders nach dem ersten Weltkrieg zu einer "politischen Chiffre" die wach halten sollte, dass es allein die Kraft eines großen Führers war und nicht der Parlamentarismus, dem Deutschland die verlorene Größe verdankte, wie der Rezensent berichtet. Besonders diesen Aspekt des machtvollen Mythos, dem die republikanischen Parteien nicht viel entgegenzusetzen hatten und der schließlich den Weg für den Aufstieg Adolf Hitlers bereitete, findet der Rezensent hochinteressant.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Ein lesenswertes und flüssig geschriebenes Buch, das neue Perspektiven öffnet, indem es die Geschichte der Bismarck-Deutungen skizziert." ELMSHORNER NACHRICHTEN