Elf Erzählungen aus dem Nachlaß Bölls - entstanden zwischen 1936 und 1951.
In diesem Frühwerk, darunter zum ersten Mal ein Text des jungen Böll aus der Vorkriegszeit, wird der kritische und distanzierte Blick des engagierten Schriftstellers deutlich, wenn er über seine Umgebung und seine Zeit schreibt.Inhalt:- Die Brennenden- Der Flüchtling- Gefangen in Paris- Der blasse Hund- Das Rendez-Vous- Die Sippe Esaus- Die Geschichte der Brücke von Berkowo- Die Toten parieren nicht mehr- Verlorenes Paradies- Amerika- Anekdote vom deutschen Wunder
Informieren Sie sich auch über das größte editorische Unternehmen in der Geschichte des Verlags Kiepenheuer & Witsch: Heinrich Böll, Werke 1 - 27 Kölner Ausgabe
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
In diesem Frühwerk, darunter zum ersten Mal ein Text des jungen Böll aus der Vorkriegszeit, wird der kritische und distanzierte Blick des engagierten Schriftstellers deutlich, wenn er über seine Umgebung und seine Zeit schreibt.Inhalt:- Die Brennenden- Der Flüchtling- Gefangen in Paris- Der blasse Hund- Das Rendez-Vous- Die Sippe Esaus- Die Geschichte der Brücke von Berkowo- Die Toten parieren nicht mehr- Verlorenes Paradies- Amerika- Anekdote vom deutschen Wunder
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.1995Die Soutane hätte gepaßt
Erzählungen aus dem Nachlaß Heinrich Bölls / Von Walter Hinck
Wir kennen noch lange nicht den ganzen Böll, und wie es scheint, wird er uns auch noch eine Weile vorenthalten bleiben. Wer die beiden Haupterzählungen der neu herausgegebenen Prosastücke aus dem Nachlaß unbefangen lesen will, der sollte ein gut Teil von dem vergessen, was den Schriftsteller der Nachkriegsjahrzehnte als Verfasser der Kriegs-, Heimkehrer-und Trümmerliteratur und als Kritiker der Wohlstandsgesellschaft so unverwechselbar gemacht hat. Der auf den Roman "Der Engel schwieg" (1992) folgende Nachlaßband wird eröffnet durch eine Erzählung, die Böll als Neunzehnjähriger 1936/37 schrieb: "Die Brennenden". Wir tun gut daran, uns noch einmal von Bölls autobiographischem Bericht "Was soll aus dem Jungen bloß werden?" (1918) in seine Kölner Schulzeit zurückversetzen zu lassen.
Das Leben der Familie Böll stand im Einklang mit dem Beruf des Vaters, der sich als Handwerker-Künstler auf die Praxis des Kirchenlebens einstellte und neben Möbeln Altäre, Kanzeln und Kommunionsbänke, Beichtstühle und Heiligenfiguren entwarf. War man unter sich, lästerte und lachte man zwar gelegentlich über die Kirche und ihre schwarzen Diener, aber in der Nazizeit galt mehr denn je das Gelöbnis: "Katholisch, das sollten und wollten wir doch bleiben." Böll beteiligte sich an Bußwallfahrten Kölner Männer und trug demonstrativ die Fahne der Prozession. Dem Katholizismus Bölls war zwar heuchlerische Anpassung ein Greuel, doch nagten an ihm weder Zweifel, noch war er ein Ketzer.
In der Erzählung "Die Brennenden" ist es die Glaubensinbrunst der einen, die in den anderen das Erlebnis der Erweckung zündet. Der Drang nach der absoluten Reinheit des Glaubens stößt sich an den "Geldverdienerfratzen" von Scheinchristen, an der furchteinflößenden Ohrenbeichte, gelangt aber am Ende unbeirrt in den "klaren Besitz der Wahrheit".
Ein zum Selbstmord entschlossener Sechzehnjähriger wird durch die imaginäre Stimme eines jungen Priesters ins Leben zurückgerufen. In einem zweifelhaften Café begegnet er einer Dirne, die in der Maske der Sündigen nur auftritt, um Sünder zu retten. Zwei andere Paare finden durch Gebet und Gnade zur Liebe "mit Gottes Segen". Spenden sich im späteren Roman "Ansichten eines Clowns" (1963) die außerehelich Liebenden selbst das Sakrament der Ehe, so muß es hier durch die Kirche besiegelt sein. Alle stellen sich in die Obhut eines jungen Kaplans.
Obwohl die Sprache "die plumpeste Vermittlerin unter den Menschen" genannt wird, hat der junge Autor noch ein ungebrochenes Verhältnis zum überlieferten literarischen und biblischen Wortgebrauch. Noch behaupten sich das altertümliche "ward" und das biblische "Weib". Der Autor der Erzählung "Die Brennenden" hätte auch unter eine Soutane gepaßt.
Natürlich kann dieser frühe Text das spätere gespannte Verhältnis Bölls zur Institution der Kirche nicht relativieren. Doch hat den vom Freund und zeitweiligen Sekretär Erich Kock bezeugten Wunsch des Schriftstellers, nicht ohne den Segen der Kirche begraben zu werden, noch kein erzählerischer Text so plausibel gemacht wie dieser.
Schon hier ist einmal von der "Größe Dostojewskis" die Rede. Daß sich die Titelerzählung des Bandes, "Der blasse Hund" (1947 entstanden), abseits vom Gros der Erzählungen dieser Jahre hält, hängt mit Bölls Bewunderung für den russischen Schriftsteller zusammen. Nirgendwo setzt sich das Dostojewskische Widerspruchsgeflecht von Moral und Verbrechen, Freiheit und Despotie, religiöser Inbrunst und intellektueller Hybris, Ordnung und Anarchie so sehr als Grundmuster durch wie hier.
Wie schon im ersten Prosatext wählt Böll die Technik von Rahmen- und Binnenerzählung. Ein Kaplan erzählt dem zu einer Leiche gerufenen Arzt die Geschichte des ermordeten Mörders Theodor Herold. Aus einer trostlosen Kindheit heraus entwickelt sich dieser dank seiner ungewöhnlichen Intelligenz zu einer großen Hoffnung des Ordens, in dessen Internat er erzogen wird. Aber im Widerstreit mit dem Hochmut unterliegt die Frömmigkeit. In der Wehrmacht um die Offizierslaufbahn gebracht, tritt Herold während des Krieges in die SS ein und wird zum Mittäter der "viehischen Grausamkeiten" im Namen "von Rasse, Ehre und unbedingtem Gehorsam". Sein Freund, ein Geistlicher, verweigert ihm den christlichen Beistand, auch nach dem Krieg. Herold setzt nun sein grausames Handwerk unter anderen Voraussetzungen fort. Er sammelt um sich eine Bande aus Schwarzhändlern, Einbrechern und Mördern, die schließlich, aufgehetzt von einer abgewiesenen Frau, ihren Führer auf brutale Weise tötet.
In keiner anderen Erzählung der Nachkriegsjahre hat Böll die Spannung zwischen religiösem Gnadenbewußtsein und Nihilismus und die Anfälligkeit des Geistes für Haß und Verbrechen, aber auch priesterliches Versagen so grell beleuchtet wie hier. Doch es wird auch verständlich, warum er sich nicht sonderlich um einen Abdruck der Erzählung bemühte. Die heimliche Mitverantwortung für das Verbrechen, die dem den christlichen Beistand verweigernden Kirchenmann unterstellt wird, hätte allzu leicht als Entlastung der Schergen Hitlers und Himmlers verstanden werden können. Heute lesen wir die Erzählung zumindest in ihrem Ansatz als Zeugnis eines Fragens von Dostojewskischer Radikalität.
Auf die Figur des Kaplans scheint der frühe Böll geradezu fixiert gewesen zu sein. Auch in der 1946 entstandenen Erzählung "Der Flüchtling" fehlt dem Geistlichen die christliche Nächstenliebe. Dagegen stellt in der Erzählung "Gefangen in Paris" eine Französin alle durch die Erziehung errichteten Tabus zurück und rettet in den Wirren des Rückzugs einen deutschen Soldaten vor der Entdeckung und wird ihrem in der französischen Armee kämpfenden Mann - wenn auch nicht in einem tieferen Sinn - untreu. Diese überhaupt nicht prüde und dennoch mit bekannter Böllscher Keuschheit geschriebene deutsch-französische Liebesgeschichte hatte längst ihren Erstdruck verdient.
Schon an den Anfang der Spätausgabe früher Erzählungen unter dem Titel "Die Verwundung" (1983) plazierte Böll einen Text, der jetzt als Teil jenes Romanfragments "Verlorenes Paradies" (1949) erscheint, von dem überarbeitete Partien auch in den Roman "Der Engel schwieg" eingegangen sind. Im Band "Die Verwundung" heißt dieser Text "Die Liebesnacht" und setzt gleich zu Beginn den stärksten Akzent der Sammlung, komprimiert die Atmosphäre von Geborgenheit und gleichzeitiger Verlorenheit in einer kurzen, dem Krieg abgewonnenen Liebesnacht. Jetzt erst wird deutlich, mit welcher Kunst des Aussparens und der Konzentration Böll das Teilstück eines Romans zu einer selbständigen Erzählung umgeformt hatte - was wir schon kannten, war die bessere Fassung.
Die beiden Herausgeber des Nachlaßbandes, Viktor Böll und Karl Heiner Busse, gehen den umgekehrten Weg bei der "Geschichte der Brücke von Berkowo", indem sie eine in den Roman "Wo warst du, Adam!" (1951) eingearbeitete Erzählung in ihrer Selbständigkeit wiederherstellen. Nur begegnen wir ihr eben nicht zum ersten Mal. Und nicht alle von den Herausgebern ausgewählten Texte sind ein unbedingter Gewinn. Die Kurzgeschichte "Amerika" illustriert mit dem Motiv der Andacht des Brotessens lediglich noch einmal die fast sakrale Bedeutung des Brotes im Werke Bölls, die "Anekdote vom deutschen Wunder" führt einen hübschen, aber allenfalls für eine satirische Glosse reichenden Einfall aus.
Dennoch werden sich die Böll-Leser diese Sammlung nicht entgehen lassen. Gilt das auch für junge, für neue Leser? Auf das Problem verweist in seinem eindringlichen, nie hagiographisch werdenden Nachwort Heinrich Vormweg. Die von Böll geistig mitgeprägte Bonner Republik sei durch die "Berliner Republik" (Jürgen Habermas) abgelöst worden.
Die Stellungnahmen von Günter Grass zu dieser neuen Republik kennen wir; nur vermuten läßt sich, wie Heinrich Böll, der die Entwicklung der Bonner Republik ja auch mit Reden und Essays, Analysen und Polemiken begleitet hat, auf sie reagiert hätte. Aber liegt eine Chance nicht gerade darin, den Büchner- und Nobelpreisträger unabgelenkt von seinen Reden zur jeweiligen Lage der Nation zu lesen? Wir sind mit der "Wende" von 1989/90 noch lange nicht aus jenem historischen Prozeß entlassen, dessen kritischer Beobachter Böll durch Jahrzehnte hindurch gewesen ist. Machen wir Ernst damit, den Erzähler Heinrich Böll zu lesen, ohne insgeheim immer den Kommentator der aktuellen Situation mithören zu wollen.
Heinrich Böll: "Der blasse Hund". Erzählungen. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1995. 207 S., geb., 29,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erzählungen aus dem Nachlaß Heinrich Bölls / Von Walter Hinck
Wir kennen noch lange nicht den ganzen Böll, und wie es scheint, wird er uns auch noch eine Weile vorenthalten bleiben. Wer die beiden Haupterzählungen der neu herausgegebenen Prosastücke aus dem Nachlaß unbefangen lesen will, der sollte ein gut Teil von dem vergessen, was den Schriftsteller der Nachkriegsjahrzehnte als Verfasser der Kriegs-, Heimkehrer-und Trümmerliteratur und als Kritiker der Wohlstandsgesellschaft so unverwechselbar gemacht hat. Der auf den Roman "Der Engel schwieg" (1992) folgende Nachlaßband wird eröffnet durch eine Erzählung, die Böll als Neunzehnjähriger 1936/37 schrieb: "Die Brennenden". Wir tun gut daran, uns noch einmal von Bölls autobiographischem Bericht "Was soll aus dem Jungen bloß werden?" (1918) in seine Kölner Schulzeit zurückversetzen zu lassen.
Das Leben der Familie Böll stand im Einklang mit dem Beruf des Vaters, der sich als Handwerker-Künstler auf die Praxis des Kirchenlebens einstellte und neben Möbeln Altäre, Kanzeln und Kommunionsbänke, Beichtstühle und Heiligenfiguren entwarf. War man unter sich, lästerte und lachte man zwar gelegentlich über die Kirche und ihre schwarzen Diener, aber in der Nazizeit galt mehr denn je das Gelöbnis: "Katholisch, das sollten und wollten wir doch bleiben." Böll beteiligte sich an Bußwallfahrten Kölner Männer und trug demonstrativ die Fahne der Prozession. Dem Katholizismus Bölls war zwar heuchlerische Anpassung ein Greuel, doch nagten an ihm weder Zweifel, noch war er ein Ketzer.
In der Erzählung "Die Brennenden" ist es die Glaubensinbrunst der einen, die in den anderen das Erlebnis der Erweckung zündet. Der Drang nach der absoluten Reinheit des Glaubens stößt sich an den "Geldverdienerfratzen" von Scheinchristen, an der furchteinflößenden Ohrenbeichte, gelangt aber am Ende unbeirrt in den "klaren Besitz der Wahrheit".
Ein zum Selbstmord entschlossener Sechzehnjähriger wird durch die imaginäre Stimme eines jungen Priesters ins Leben zurückgerufen. In einem zweifelhaften Café begegnet er einer Dirne, die in der Maske der Sündigen nur auftritt, um Sünder zu retten. Zwei andere Paare finden durch Gebet und Gnade zur Liebe "mit Gottes Segen". Spenden sich im späteren Roman "Ansichten eines Clowns" (1963) die außerehelich Liebenden selbst das Sakrament der Ehe, so muß es hier durch die Kirche besiegelt sein. Alle stellen sich in die Obhut eines jungen Kaplans.
Obwohl die Sprache "die plumpeste Vermittlerin unter den Menschen" genannt wird, hat der junge Autor noch ein ungebrochenes Verhältnis zum überlieferten literarischen und biblischen Wortgebrauch. Noch behaupten sich das altertümliche "ward" und das biblische "Weib". Der Autor der Erzählung "Die Brennenden" hätte auch unter eine Soutane gepaßt.
Natürlich kann dieser frühe Text das spätere gespannte Verhältnis Bölls zur Institution der Kirche nicht relativieren. Doch hat den vom Freund und zeitweiligen Sekretär Erich Kock bezeugten Wunsch des Schriftstellers, nicht ohne den Segen der Kirche begraben zu werden, noch kein erzählerischer Text so plausibel gemacht wie dieser.
Schon hier ist einmal von der "Größe Dostojewskis" die Rede. Daß sich die Titelerzählung des Bandes, "Der blasse Hund" (1947 entstanden), abseits vom Gros der Erzählungen dieser Jahre hält, hängt mit Bölls Bewunderung für den russischen Schriftsteller zusammen. Nirgendwo setzt sich das Dostojewskische Widerspruchsgeflecht von Moral und Verbrechen, Freiheit und Despotie, religiöser Inbrunst und intellektueller Hybris, Ordnung und Anarchie so sehr als Grundmuster durch wie hier.
Wie schon im ersten Prosatext wählt Böll die Technik von Rahmen- und Binnenerzählung. Ein Kaplan erzählt dem zu einer Leiche gerufenen Arzt die Geschichte des ermordeten Mörders Theodor Herold. Aus einer trostlosen Kindheit heraus entwickelt sich dieser dank seiner ungewöhnlichen Intelligenz zu einer großen Hoffnung des Ordens, in dessen Internat er erzogen wird. Aber im Widerstreit mit dem Hochmut unterliegt die Frömmigkeit. In der Wehrmacht um die Offizierslaufbahn gebracht, tritt Herold während des Krieges in die SS ein und wird zum Mittäter der "viehischen Grausamkeiten" im Namen "von Rasse, Ehre und unbedingtem Gehorsam". Sein Freund, ein Geistlicher, verweigert ihm den christlichen Beistand, auch nach dem Krieg. Herold setzt nun sein grausames Handwerk unter anderen Voraussetzungen fort. Er sammelt um sich eine Bande aus Schwarzhändlern, Einbrechern und Mördern, die schließlich, aufgehetzt von einer abgewiesenen Frau, ihren Führer auf brutale Weise tötet.
In keiner anderen Erzählung der Nachkriegsjahre hat Böll die Spannung zwischen religiösem Gnadenbewußtsein und Nihilismus und die Anfälligkeit des Geistes für Haß und Verbrechen, aber auch priesterliches Versagen so grell beleuchtet wie hier. Doch es wird auch verständlich, warum er sich nicht sonderlich um einen Abdruck der Erzählung bemühte. Die heimliche Mitverantwortung für das Verbrechen, die dem den christlichen Beistand verweigernden Kirchenmann unterstellt wird, hätte allzu leicht als Entlastung der Schergen Hitlers und Himmlers verstanden werden können. Heute lesen wir die Erzählung zumindest in ihrem Ansatz als Zeugnis eines Fragens von Dostojewskischer Radikalität.
Auf die Figur des Kaplans scheint der frühe Böll geradezu fixiert gewesen zu sein. Auch in der 1946 entstandenen Erzählung "Der Flüchtling" fehlt dem Geistlichen die christliche Nächstenliebe. Dagegen stellt in der Erzählung "Gefangen in Paris" eine Französin alle durch die Erziehung errichteten Tabus zurück und rettet in den Wirren des Rückzugs einen deutschen Soldaten vor der Entdeckung und wird ihrem in der französischen Armee kämpfenden Mann - wenn auch nicht in einem tieferen Sinn - untreu. Diese überhaupt nicht prüde und dennoch mit bekannter Böllscher Keuschheit geschriebene deutsch-französische Liebesgeschichte hatte längst ihren Erstdruck verdient.
Schon an den Anfang der Spätausgabe früher Erzählungen unter dem Titel "Die Verwundung" (1983) plazierte Böll einen Text, der jetzt als Teil jenes Romanfragments "Verlorenes Paradies" (1949) erscheint, von dem überarbeitete Partien auch in den Roman "Der Engel schwieg" eingegangen sind. Im Band "Die Verwundung" heißt dieser Text "Die Liebesnacht" und setzt gleich zu Beginn den stärksten Akzent der Sammlung, komprimiert die Atmosphäre von Geborgenheit und gleichzeitiger Verlorenheit in einer kurzen, dem Krieg abgewonnenen Liebesnacht. Jetzt erst wird deutlich, mit welcher Kunst des Aussparens und der Konzentration Böll das Teilstück eines Romans zu einer selbständigen Erzählung umgeformt hatte - was wir schon kannten, war die bessere Fassung.
Die beiden Herausgeber des Nachlaßbandes, Viktor Böll und Karl Heiner Busse, gehen den umgekehrten Weg bei der "Geschichte der Brücke von Berkowo", indem sie eine in den Roman "Wo warst du, Adam!" (1951) eingearbeitete Erzählung in ihrer Selbständigkeit wiederherstellen. Nur begegnen wir ihr eben nicht zum ersten Mal. Und nicht alle von den Herausgebern ausgewählten Texte sind ein unbedingter Gewinn. Die Kurzgeschichte "Amerika" illustriert mit dem Motiv der Andacht des Brotessens lediglich noch einmal die fast sakrale Bedeutung des Brotes im Werke Bölls, die "Anekdote vom deutschen Wunder" führt einen hübschen, aber allenfalls für eine satirische Glosse reichenden Einfall aus.
Dennoch werden sich die Böll-Leser diese Sammlung nicht entgehen lassen. Gilt das auch für junge, für neue Leser? Auf das Problem verweist in seinem eindringlichen, nie hagiographisch werdenden Nachwort Heinrich Vormweg. Die von Böll geistig mitgeprägte Bonner Republik sei durch die "Berliner Republik" (Jürgen Habermas) abgelöst worden.
Die Stellungnahmen von Günter Grass zu dieser neuen Republik kennen wir; nur vermuten läßt sich, wie Heinrich Böll, der die Entwicklung der Bonner Republik ja auch mit Reden und Essays, Analysen und Polemiken begleitet hat, auf sie reagiert hätte. Aber liegt eine Chance nicht gerade darin, den Büchner- und Nobelpreisträger unabgelenkt von seinen Reden zur jeweiligen Lage der Nation zu lesen? Wir sind mit der "Wende" von 1989/90 noch lange nicht aus jenem historischen Prozeß entlassen, dessen kritischer Beobachter Böll durch Jahrzehnte hindurch gewesen ist. Machen wir Ernst damit, den Erzähler Heinrich Böll zu lesen, ohne insgeheim immer den Kommentator der aktuellen Situation mithören zu wollen.
Heinrich Böll: "Der blasse Hund". Erzählungen. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1995. 207 S., geb., 29,80 DM.
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»Wir werden [...] Zeugen beim Werden eines Schriftstellers, der in seinem Frühwerk insgesamt soviel kunstvoller und artistisch wagemutiger erscheint als in seinen vielgerühmten Romanchroniken späterer Jahre.« Gert Ueding Die Welt