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Was Gerd-Peter Eigner mit Der blaue Koffer als Vermächtnis hinterlassen hat, liest sich wie ein autobiographischer Roman. Es geht um das Werden eines Vertriebenenkinds - dessen Vater in den letzten Kriegstagen umgebracht wurde - zum Mann und Schriftsteller. Ein grandioses Zeitpanorama.

Produktbeschreibung
Was Gerd-Peter Eigner mit Der blaue Koffer als Vermächtnis hinterlassen hat, liest sich wie ein autobiographischer Roman. Es geht um das Werden eines Vertriebenenkinds - dessen Vater in den letzten Kriegstagen umgebracht wurde - zum Mann und Schriftsteller. Ein grandioses Zeitpanorama.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Hans Christoph Buch macht deutlich, dass eine gewisse Sperrigkeit zu Gerd-Peter Eigner als Autor dazugehört. Eigners zu Lebzeiten des Autors unpublizierter autobiografischer Entwicklungsroman hat es durchaus in sich, gibt Buch zu bedenken, möchte das aber als Einladung an den Leser verstanden wissen, sich diesem Textrumm zu widmen. Eigner erzählt darin von seinen vitalen Lehr- und Wanderjahren ebenso wie von Krieg und Vertreibung und den Erfahrungen als Flüchtlingskind, so Buch. Auch wenn das Buch dem Rezensenten "manchmal überorchestriert" erscheint mit seinen verschiedenen Sprachebenen und "barocken" Metaphern, so ist es doch im besten Sinn ein Solitär in der Literatur, meint er.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.04.2023

Zurück aus dem Permafrost
Kein leichtes Gepäck: Gerd-Peter Eigners autobiographisches Manuskript "Der blaue Koffer"

Gerd-Peter Eigner war ein Elefant im Porzellanladen der deutschen Literatur, der häufig aneckte und dabei eine Menge Geschirr zerschlug: ein Urvieh wie das Mammut auf dem Umschlag seines letzten, noch zu Lebzeiten erschienenen Lyrikbands. Als Serientäter publizierte er alle Jubeljahre ein dickleibiges Buch, das stets aufs Neue Befremden und Bewunderung hervorrief. Der 2008 erschienene Roman "Die italienische Begeisterung" wurde mit gleich drei Literaturpreisen bedacht und trug bei zu seinem Ruf, ein genialischer, aber schwer handhabbarer Autor zu sein.

Vielleicht ist das der Grund, warum sein autobiographisches Manuskript "Der blaue Koffer", das fertig vorlag, von Verlag zu Verlag wanderte und unveröffentlicht blieb, obwohl alle, die es gelesen hatten, beeindruckt waren von der außerordentlichen Qualität des Texts. "Betrachten Sie sich als Suhrkamp-Autor", hatte Raimund Fellinger, die graue Eminenz des Suhrkamp Verlags, zu Gerd-Peter Eigner gesagt, und es ist nicht nachvollziehbar, warum die Veröffentlichung im Sande verlief. Die Wechselbäder von Hoffnung und Enttäuschung zerrütteten Eigners ohnehin angeschlagene Gesundheit, und sein früher Tod entzog allen Spekulationen den Boden.

In jüngeren Jahren sah er aus wie Lino Ventura, der geräuschvoll in ein Baguette-Brot beißt, und wie der Krimi-Star hatte Eigner immer Hunger und vor allem Durst. Der Vergleich ist nicht unangebracht, denn Anfang der Sechzigerjahre, als der französische Film weltweit ausstrahlte, lebte Eigner in Paris, und das war mehr als nur eine Episode seiner Autobiographie: "Er dreht sich im Kreise. Blickt ins Leere, ins Brausen und Rauschen um sich herum. Fahrzeuge. Gesichter. Strümpfe. Beine. Brunnen und Denkmäler. Wände, von denen die einen die Plakate kratzen und auf die die anderen neue kleben. Karussell. Les Mitraillettes, noch aufs Pflaster gerichtete Läufe der Maschinenpistolen am Eingang zur Metro."

Paris war der ideale Ort für sein literarisches Schaffen, das Café Flore zum Beispiel, wo er Genet las, Juan Goytisolo traf und Sartre aus der Ferne bewunderte. Eigners spätere Wohn- und Arbeitsstätten in Marokko, Kreta, Olevano und Berlin überlagern die formativen Jahre in Frankreich, wo er mit achtzehn per Autostopp eintraf und erst einmal blieb. In diese Zeit fallen heterosexuelle und homoerotische Erlebnisse, die sein Leben und Schreiben grundierten. Paris stand für Befreiung, ein "Fest des Lebens" wie für Hemingway und Gertrude Stein Generationen zuvor. Doch Eigners blauer Koffer, mit dem seine Mutter aus Schlesien floh, war und ist kein leichtes Gepäck: Es gibt ihn wirklich, den Koffer, und er enthält Eigners Nachlass, den er der Berliner Akademie der Künste vermachte. Darüber hinaus birgt der Koffer eine schwer zu bewältigende Last: die Kriegs- und Nachkriegszeit, Flucht und Vertreibung aus Schlesien, wo Sowjetsoldaten seinen Vater erschossen in einem Provinzbahnhof, der - Zufall oder nicht? - an der Strecke nach Auschwitz lag.

"Oberschlesien. Überhaupt der Osten. Zurück in die Vergangenheit. (. . .) Da kann man aus dem Vollen des Leeren schöpfen. Es anfüllen mit dem, was man studiert und worüber man hinlänglich nachgedacht hat. Eine Art Familiensaga."

Das ist viel, zu viel für einen 1942 geborenen Jungen, den es mit seiner Mutter nach Wilhelmshaven verschlägt, wo er als Flüchtlingskind nicht willkommen ist und aufwächst mit den Hinterlassenschaften der Kriegsmarine, wie Günter Grass sie in "Katz und Maus" beschreibt. Grass, Gräfin Dönhoff und anderen Chronisten ist es zu verdanken, dass die Massenflucht aus den Ostgebieten heute kein Tabuthema mehr ist wie früher, da deutsche Schuld so viel schwerer wog als Vergewaltigungen und Kriegsgräuel der Roten Armee.

Eigner boxt sich durch - wörtlich und nicht im übertragenen Sinn: Er spielt Geige, trainiert im Boxverein, tritt als Turmspringer auf Sportfesten an, schwänzt die Schule, hängt in Jazzkellern und Theaterkantinen herum, liest viel und fährt mit ersten Gedichten Erfolge bei Lehrern und Mitschülerinnen ein.

"Nicht wichtig, wer es ist, der geschrieben hat. Hauptsache, es steht geschrieben. (. . .) Nicht allein die anderen sind ihn los, er selbst ist sich los. Mit der Niederschrift ist er selbst nicht mehr Gegenstand der eigenen Grübeleien und der eigenen Not."

"Der blaue Koffer" ist ein 600-Seiten-Trumm von einem Buch, ein autobiographischer Entwicklungsroman, der leicht zu lesen, aber schwer verdaulich ist. Der Text ist episch ausufernd und manchmal überorchestriert: Wann immer der Autor die Wahl hat zwischen verschiedenen Sprachebenen, verschmilzt er diese zu einer barocken Metapher. Hinzu kommt ein ausführliches Nachwort des Herausgebers Alban Nikolai Herbst, das Zeugnis ablegt von dessen schwieriger Freundschaft mit Gerd-Peter Eigner, sowie ein Editionsbericht des Verlegers, der den Felsbrocken schulterte und sich der Sisyphusarbeit unterzog. Der Roman ließe sich unschwer einkürzen, doch es ist gut, dass dies nicht geschah, denn Eigner war und ist ein Solitär im auf raschen Konsum getrimmten Literaturbetrieb, und wie bei Homer sind irrläufige, scheinbar überflüssige Exkurse die Sache selbst. Der Weg ist das Ziel, und wer den Autor nicht in seiner Sperrigkeit zur Kenntnis nehmen will, braucht ihn nicht erst zu lesen. So besehen ist es doppelt verdienstvoll, dass der Arco Verlag die Herausforderung annahm und statt einer weichgespülten Version Gerd-Peter Eigner so präsentiert, wie er gelesen werden will und muss: ganz oder gar nicht. HANS CHRISTOPH BUCH

Gerd-Peter Eigner: "Der blaue Koffer". Ein Werdegang.

Herausgegeben von Christoph Haacker und Alban Nikolai Herbst. Arco Verlag, Wuppertal 2023. 600 S., geb., 32,- Euro.

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