Orhan Pamuk ist nicht nur als Romancier bekannt, sondern auch als glänzender Essayist. Der vorliegende Band veranschaulicht die Vielzahl von Themen, über die er schreibt: Politik, Literatur und immer wieder Istanbul, die Stadt, die auch in den meisten seiner Romane präsent ist. Der autobiographische Bezug, der sich in seinen Romanen nur erahnen lässt, wird hier in den bewegenden Texten sichtbar, die seiner Kindheit gelten und der Erinnerung an seine Eltern.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.06.2006Das Beben und die Bücher
Orhan Pamuks Essaysammlung „Der Blick aus meinem Fenster”
Wenn Orhan Pamuk aus dem Fenster schaut, fällt sein Blick auf die zwei Minarette der Cihangir-Moschee. Seit 1559 stehen sie da, auf der Kuppe eines Hügels auf einer kleinen Insel im Bosporus, doch wer sie für ein „Denkmal der Kontinuität” hält, der täuscht sich. „Früher”, schreibt Pamuk, „wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, das Minarett, das genau meinem Schreibtisch gegenüber hoch aufragt, könnte eines Tages auf mich niederstürzen.”
Früher, das war vor dem verheerenden Erdbeben des Jahres 1999, bei dem im Großraum Istanbul 30 000 Menschen ums Leben kamen. Mit seinem Nachbarn, einem Bauingenieur, steht Pamuk nach dem zweiten großen Beben auf seinem Balkon und unterhält sich über den zu erwartenden Fallwinkel des Minaretts. „Es kann nicht auf uns herabstürzen”, sagt der Nachbar. „Höchstwahrscheinlich stürzen wir auf das Minarett!” Das ist Galgenhumor im Angesicht einer seismischen und baulichen Situation, die prekärer nicht sein könnte. Zweimal schon, so ergeben Pamuks Nachforschungen, ist die Cihangir-Moschee infolge von Erdbeben und Bränden zerstört worden, überhaupt gibt es in Istanbul kaum ein Minarett, kaum eine Kuppel, die nicht schon einmal eingestürzt wären. Orhan Pamuk interessiert das alles sehr. Erstens, weil er als gelernter Architekt ohnehin gern über Bauen und Bauten nachdenkt, zweitens, weil er verlässliche Erkenntnisse über die Sicherheit seines eigenen Wohnorts haben möchte. „Was mich betraf”, schreibt er, „so meinte ich, meinen inneren Frieden nur durch vermehrtes Wissen finden zu können.”
Die Heimat aus Papier
Vom Beben, vom Leben auf einer tektonischen Verwerfung, die gleichsam quer durch Pamuks Wohnung verläuft, handeln manche dieser „Betrachtungen”. Weil Pamuk an seinem Geburts- und Wohnort in einer vielfach exponierten Lage lebt - politisch, kulturell, seismisch - liegt es nahe, die Verwerfung zum Lebensthema zu erheben. Aber das wird Pamuk so wenig gerecht wie die gute Absicht, ihn zum hauptamtlichen „Vermittler” zwischen den Kulturen zu ernennen. Zwar ist Pamuk Istanbuler mit Leib und Seele, zwar reflektiert er unaufhörlich das Spezifikum dieser Stadt, zwei Welten anzugehören und in beiden nicht ganz zu Hause zu sein, aber vor allem ist Orhan Pamuk ein Schriftsteller, dem die Welt nur insofern zu denken und zu betrachten gibt, als sie in Bücher - eigene und fremde - eingehen kann. In seiner Dankrede für den Friedenspreis des deutschen Buchhandels zitierte er Mallarmé - „Alles in der Welt ist da, um in ein Buch einzugehen” - und schloss daran ein Plädoyer für den Roman an. Mögen ihn andere für eine ausgelaugte Kunstform halten, für Pamuk ist der Roman noch immer das Buch, das „alles auf Erden am besten in sich aufnehmen” kann. Deswegen dankte er für den Preis mit der schönen Formulierung, er hoffe, ihn für seinen „dreißigjährigen treuen Dienst an der Romankunst” erhalten zu haben.
Die Texte dieses Bandes - man konnte sie zum Teil schon in Zeitungen lesen, liest sie aber gern noch einmal - sind in Rubriken gegliedert: Leben, Politik, Literatur, „Malerei, Architektur, Filme und andere Dinge”, an die sich zuletzt die Erzählung „Aus dem Fenster schauen” anschließt. Im Grunde freilich haben alle diese Rubriken - wie könnte es bei Pamuk anders sein - ihren Cantus firmus in der Literatur. Denn, so die eine Rubrik, „die Literatur ist die Heimat”, und wenn es ein Leben außerhalb der Literatur gibt, dann ist dieses, so die andere Rubrik, doch nur „eine gute Ausrede für Bücher”. Betrachtungen heißen diese Texte nicht zufällig, sie haben etwas Kontemplatives, manchmal Beschauliches, etwas Einzelgängerisches und Scheues, sie neigen nie dazu, Ereignisse oder Empfindungen an die große Glocke zu hängen - selbst dann nicht, wenn die Ereignisse, wie das große Beben, den Charakter eines „kleinen Weltuntergangs” (so der Name des Bebens von 1509) haben.
Pamuk ist nicht drauf aus, politische Allgemeinsätze zu formulieren oder Missstände anzuprangern. Aber es genügt, einer Schweizer Zeitung ein paar Sätze über den Völkermord an den Armeniern zu sagen, damit Politik und Justiz von sich aus auf ihn zukommen. Der Prozess gegen Pamuk wegen Verunglimpfung der Türkei, der inzwischen mit einem Freispruch endete, hat auf dramatische Weise klar gemacht, welchen Einschränkungen das Recht auf freie Betrachtung in der Türkei noch immer unterliegt.
Auf seiner Insel im Bosporus, mit dem Blick auf die zwei bedrohlich gewordenen Minarette, lebt Orhan Pamuk sein einsiedlerisches und dann wieder höchst bewegtes Leben. Er kann sich von der Welt ab- und den Büchern zuwenden, wie er will, kann sich in Erinnerungen an das alte Istanbul verlieren oder über seine Lieblingsautoren (Stendhal, Dostojewski) nachdenken, und trotzdem nimmt man in den meisten dieser Texte den Puls einer gespannten, aufgewühlten Gegenwart wahr. „Die Politik lenkt zu sehr ab”, heißt eine der Rubriken dieses Bandes. Orhan Pamuks Betrachtungskunst besteht zu gleichen Teilen daraus, der Ablenkung nachzugeben und ihr zu widerstehen. CHRISTOPH BARTMANN
ORHAN PAMUK: Der Blick aus meinem Fenster. Betrachtungen. Aus dem Türkischen von Cornelius Bischoff, Ingrid Iren, Gerhard Meier, Christoph K. Neumann und Wolfgang Riemann. Carl Hanser Verlag, München 2006. 260 Seiten, 21,50 Euro.
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Orhan Pamuks Essaysammlung „Der Blick aus meinem Fenster”
Wenn Orhan Pamuk aus dem Fenster schaut, fällt sein Blick auf die zwei Minarette der Cihangir-Moschee. Seit 1559 stehen sie da, auf der Kuppe eines Hügels auf einer kleinen Insel im Bosporus, doch wer sie für ein „Denkmal der Kontinuität” hält, der täuscht sich. „Früher”, schreibt Pamuk, „wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, das Minarett, das genau meinem Schreibtisch gegenüber hoch aufragt, könnte eines Tages auf mich niederstürzen.”
Früher, das war vor dem verheerenden Erdbeben des Jahres 1999, bei dem im Großraum Istanbul 30 000 Menschen ums Leben kamen. Mit seinem Nachbarn, einem Bauingenieur, steht Pamuk nach dem zweiten großen Beben auf seinem Balkon und unterhält sich über den zu erwartenden Fallwinkel des Minaretts. „Es kann nicht auf uns herabstürzen”, sagt der Nachbar. „Höchstwahrscheinlich stürzen wir auf das Minarett!” Das ist Galgenhumor im Angesicht einer seismischen und baulichen Situation, die prekärer nicht sein könnte. Zweimal schon, so ergeben Pamuks Nachforschungen, ist die Cihangir-Moschee infolge von Erdbeben und Bränden zerstört worden, überhaupt gibt es in Istanbul kaum ein Minarett, kaum eine Kuppel, die nicht schon einmal eingestürzt wären. Orhan Pamuk interessiert das alles sehr. Erstens, weil er als gelernter Architekt ohnehin gern über Bauen und Bauten nachdenkt, zweitens, weil er verlässliche Erkenntnisse über die Sicherheit seines eigenen Wohnorts haben möchte. „Was mich betraf”, schreibt er, „so meinte ich, meinen inneren Frieden nur durch vermehrtes Wissen finden zu können.”
Die Heimat aus Papier
Vom Beben, vom Leben auf einer tektonischen Verwerfung, die gleichsam quer durch Pamuks Wohnung verläuft, handeln manche dieser „Betrachtungen”. Weil Pamuk an seinem Geburts- und Wohnort in einer vielfach exponierten Lage lebt - politisch, kulturell, seismisch - liegt es nahe, die Verwerfung zum Lebensthema zu erheben. Aber das wird Pamuk so wenig gerecht wie die gute Absicht, ihn zum hauptamtlichen „Vermittler” zwischen den Kulturen zu ernennen. Zwar ist Pamuk Istanbuler mit Leib und Seele, zwar reflektiert er unaufhörlich das Spezifikum dieser Stadt, zwei Welten anzugehören und in beiden nicht ganz zu Hause zu sein, aber vor allem ist Orhan Pamuk ein Schriftsteller, dem die Welt nur insofern zu denken und zu betrachten gibt, als sie in Bücher - eigene und fremde - eingehen kann. In seiner Dankrede für den Friedenspreis des deutschen Buchhandels zitierte er Mallarmé - „Alles in der Welt ist da, um in ein Buch einzugehen” - und schloss daran ein Plädoyer für den Roman an. Mögen ihn andere für eine ausgelaugte Kunstform halten, für Pamuk ist der Roman noch immer das Buch, das „alles auf Erden am besten in sich aufnehmen” kann. Deswegen dankte er für den Preis mit der schönen Formulierung, er hoffe, ihn für seinen „dreißigjährigen treuen Dienst an der Romankunst” erhalten zu haben.
Die Texte dieses Bandes - man konnte sie zum Teil schon in Zeitungen lesen, liest sie aber gern noch einmal - sind in Rubriken gegliedert: Leben, Politik, Literatur, „Malerei, Architektur, Filme und andere Dinge”, an die sich zuletzt die Erzählung „Aus dem Fenster schauen” anschließt. Im Grunde freilich haben alle diese Rubriken - wie könnte es bei Pamuk anders sein - ihren Cantus firmus in der Literatur. Denn, so die eine Rubrik, „die Literatur ist die Heimat”, und wenn es ein Leben außerhalb der Literatur gibt, dann ist dieses, so die andere Rubrik, doch nur „eine gute Ausrede für Bücher”. Betrachtungen heißen diese Texte nicht zufällig, sie haben etwas Kontemplatives, manchmal Beschauliches, etwas Einzelgängerisches und Scheues, sie neigen nie dazu, Ereignisse oder Empfindungen an die große Glocke zu hängen - selbst dann nicht, wenn die Ereignisse, wie das große Beben, den Charakter eines „kleinen Weltuntergangs” (so der Name des Bebens von 1509) haben.
Pamuk ist nicht drauf aus, politische Allgemeinsätze zu formulieren oder Missstände anzuprangern. Aber es genügt, einer Schweizer Zeitung ein paar Sätze über den Völkermord an den Armeniern zu sagen, damit Politik und Justiz von sich aus auf ihn zukommen. Der Prozess gegen Pamuk wegen Verunglimpfung der Türkei, der inzwischen mit einem Freispruch endete, hat auf dramatische Weise klar gemacht, welchen Einschränkungen das Recht auf freie Betrachtung in der Türkei noch immer unterliegt.
Auf seiner Insel im Bosporus, mit dem Blick auf die zwei bedrohlich gewordenen Minarette, lebt Orhan Pamuk sein einsiedlerisches und dann wieder höchst bewegtes Leben. Er kann sich von der Welt ab- und den Büchern zuwenden, wie er will, kann sich in Erinnerungen an das alte Istanbul verlieren oder über seine Lieblingsautoren (Stendhal, Dostojewski) nachdenken, und trotzdem nimmt man in den meisten dieser Texte den Puls einer gespannten, aufgewühlten Gegenwart wahr. „Die Politik lenkt zu sehr ab”, heißt eine der Rubriken dieses Bandes. Orhan Pamuks Betrachtungskunst besteht zu gleichen Teilen daraus, der Ablenkung nachzugeben und ihr zu widerstehen. CHRISTOPH BARTMANN
ORHAN PAMUK: Der Blick aus meinem Fenster. Betrachtungen. Aus dem Türkischen von Cornelius Bischoff, Ingrid Iren, Gerhard Meier, Christoph K. Neumann und Wolfgang Riemann. Carl Hanser Verlag, München 2006. 260 Seiten, 21,50 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
In seinen Essays gelinge Orhan Pamuk eine ähnliche Verbindung von nordisch kühler Beobachtung mit südländischer Anteilnahme wie in seinen Romanen, heißt es bei Rezensentin Monika Carbe zugleich anerkennend und bewundernd. Die dreißig nach den Themen Leben, Politik, Literatur und Künste geordneten Texte betrachtet die Rezensentin als ein überaus reiches "Puzzlespiel", aus dem jeder Leser unendlich viel erfahren könne. Pamuk versuche stets, ohne voreilige Schlüsse zu schreiben, beispielsweise vom vermeintlichen "Minderwertigkeitskomplex" des Orients und der korrespondierenden "Arroganz" des Abendlandes. "Ironie", so die Rezensentin, sei hier Pamuks Stilmittel und "politische Waffe" zugleich, was aber gelegentlich auch in Zynismus umschlagen kann wie im Falle des 11. September. Als "Überraschung" enthalte der Band am Ende auch eine Kurzgeschichte, die aus der Perspektive des sechsjährigen Ali erzähle, wie der Vater im Jahr 1958 die Familie in Istanbul verlässt und nach Paris fliegt. Im Blick des kleinen Ali macht die Rezensentin schon den "melancholischen Chronisten" Pamuk aus.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Orhan Pamuk nimmt bedingungslos Anteil am Schicksal von Menschen, gleichgültig aus welchem Land sie kommen oder welcher Gesellschaftsschicht sie angehören, und interessiert sich für das Werden und Vergehen von Städten, Kulturen und Systemen - und das unerbittliche Fortschreiten von Zeit." Monika Carbe, Neue Zürcher Zeitung, 04.04.06
"Pamuk unterstreicht mit dieser Geschichte sein eigentliches Talent: Gegen die immer tiefer klaffenden religiösen Gräben, gegen das anschwellende Krakeelen selbst ernannter Kulturkämpfer fordert der Weltliteraturbürger die Wiederentdeckung des Subjekts und die erneute Einsetzung des Menschen in sein Menschenrecht ... So ist das Buch mit seinen vielfältigen Mementos und Erzählungen eine Liebeserklärung an eine besondere Stadt." Ralf Hanselle, Der Standard, 11.03.06
"Pamuk unterstreicht mit dieser Geschichte sein eigentliches Talent: Gegen die immer tiefer klaffenden religiösen Gräben, gegen das anschwellende Krakeelen selbst ernannter Kulturkämpfer fordert der Weltliteraturbürger die Wiederentdeckung des Subjekts und die erneute Einsetzung des Menschen in sein Menschenrecht ... So ist das Buch mit seinen vielfältigen Mementos und Erzählungen eine Liebeserklärung an eine besondere Stadt." Ralf Hanselle, Der Standard, 11.03.06