Die industrielle Revolution hat keinen Stein auf dem anderen gelassen. Sie hat alle »altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen« aufgelöst, alles »Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige« entweiht, konstatieren Marx und Engels im »Kommunistischen Manifest«. Die Protagonisten dieser Umwälzung sind die Bürger, die Kaufleute und Industriekapitäne. Die Figur des Bourgeois hat nicht nur Max Weber, Werner Sombart und Joseph Schumpeter fasziniert, sie spielt auch eine Hauptrolle in den großen Werken der Weltliteratur: bei Defoe und Goethe, Balzac und Dickens, bei Thomas Mann und Henrik Ibsen. Franco Moretti rekonstruiert die Mentalität dieser Ära durch das Fenster Literatur: Warum hört Robinson Crusoe auch dann nicht auf zu arbeiten, als sein Überleben auf der paradiesischen Insel längst gesichert ist? Was verraten Ton, Schlüsselwörter und Grammatik der großen Romane des 19. Jahrhunderts über den Geist des Kapitalismus? Und was haben uns die Stücke Ibsens heute, das heißt inunseren postbürgerlichen Zeiten, noch zu sagen, in denen die Wachstumsideologie ebenso hinterfragt wird wie die Integrität von Bankern, Beratern und Analysten?
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Mit seinem Essay über den Bourgeois in der Literatur lässt Franco Moretti durchaus Wünsche bei Rezensentin Lea Haller offen, vor allem, weil sie seine "begnadeten Exegesen" gern noch ins 20. Jahrhundert ausgedehnt gesehen hätte. Denn was Moretti über die Bourgois im 18. und 19. Jahrhundert zu sagen hat, findet sie erhellend. Der italienische Literaturwissenschaftlicher befasst sich mit dem Stil bürgerliche Prosa, und laut Haller erkennt er für das frühe 18. Jahrhundert, etwa bei Daniel Defoe, dass Finalsätze und "ein Staccato der Effizienz und Nüchternheit" dominieren und das Tagespensum zweckrational abgearbeitet wird. Im viktorianischen Roman ab Mitte des 19. Jahrhunderts herrschen dann, so Haller, Moralisierung, neugotische Verzierungen und die Verschleierung von Tatsachen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.10.2014Für sich selbst arbeiten, als ob man ein anderer wäre
Franco Morettis weit ausgreifender, schwungvoller und furchtloser Großessay „Der Bourgeois“ über Bürger und Bürgertum
Der deutsche „Bürger“ führt bekanntlich ein Doppelleben. Er ist oder war Angehöriger eines Standes oder einer Klasse. Zugleich ist er aber auch jeder – und längst auch: jede –, der oder die republikanische, demokratische Rechte innehat. Als Bourgeois ist der Bürger Teil des Bürgertums, als Citoyen Teil der Bürgerschaft. Dieses Doppelleben ist ohne Zweifel einer der Gründe dafür, dass eine bestimmte Betrachtung hierzulande endlos beliebt ist: Ob es denn den Bürger oder die Bürgerlichkeit irgendwie noch gibt? Oder wieder? Manchmal reicht schon ein Perlenohrring oder ein Klavierschüler aus, um diese Betrachtung in Wallung zu bringen.
Vom Bourgeois als solchem aber, und von der Bourgeoisie, haben wir doch recht lange nichts mehr gehört. Etwa seit dem Schulunterricht, Mittelstufe, oder seit den Glanzzeiten marxistischer Theorie. Dies ist auch die Ausgangsbeobachtung für Franco Moretti. Er ist Literaturwissenschaftler, einer der am meisten beachteten derzeit, er ist Italiener, Bruder des Filmregisseurs Nanni Moretti, und er lehrt an der Universität Stanford in Kalifornien. Und er hat das sehr schöne Buch „Der Bourgeois“ geschrieben, das jetzt in deutscher Übersetzung erscheint.
„The Bourgeois“ heißt auch die englische Ausgabe des Buches, und darin liegt schon eine eigene Aussage. In England und Amerika nämlich, wo die Entwicklung des modernen Kapitalismus und die Entwicklung der bürgerlichen Literatur in enger Begleitung stattfanden, hat man den französischen Begriff fremd gehalten; eine eigene Vokabel wie „Bürger“ gibt es dort nicht. Dass man in England, dem Mutterland des Industriekapitalismus, statt vom Bürgertum oder von der Bourgeoisie seit dem 19. Jahrhundert lieber von der „middle class“ spricht, das ist, sagt Franco Moretti, ein besonderer Akt der Verschleierung. Denn der relative Begriff der Mittelklasse ist eine Bezeichnung, mit der man sie, so Moretti, „nicht mehr ernsthaft für den Zustand der Welt verantwortlich machen kann“. Dieser Verantwortung, und damit dem Aufstieg der Bürger zur herrschenden Klasse, hofft Franco Moretti jetzt auf seine Weise den Schleier zu nehmen – indem er dem Bourgeois auch in der englischen Literatur nachspürt, wenn auch keineswegs nur in der englischen.
Aber kann man denn überhaupt noch ein neuartiges Buch über den Bürger und das Bürgertum schreiben? Man kann, wenn man es wie Moretti unternimmt, einen weit ausgreifenden, schwungvollen und furchtlosen Essay zu schreiben und zugleich das philologische Mikroskop exakt anzusetzen. Der Autor weiß natürlich, dass es, um von der Literaturwissenschaft erst zu schweigen, tonnenweise Kapitalismus- und Bürgertumsforschung gibt, von Karl Marx und Max Weber über Georg Simmel, Werner Sombart, Joseph Schumpeter, Georg Lukács bis zu Peter Gay, Reinhart Koselleck und Jürgen Kocka, um nur diese zu nennen; Franco Moretti kennt zwar all diese Literatur und gewinnt ihr viel ab, er ertrinkt aber nicht in ihr, sondern bleibt souverän Herr der Lage.
Selbstständiges Denken ist eben auch eine literarische Tugend – es dient der Lesbarkeit. Ähnlich unsklavisch geht Franco Moretti auch mit seiner eigenen Methode um: Manche seiner Befunde profitieren von den Roman-Datenbanken, die er in seinem „Stanford Literary Lab“ angelegt hat; Moretti betreibt dort eine quantitativ gestützte Sozialgeschichte der Literatur, die er „Distant Reading“ nennt und die einiges Aufsehen erregt(SZ vom 23. Juni 2013). Doch die computergestützte Forschung – mit der einst zuerst die Linguistik die traditionell interpretierenden Philologien herausgefordert hat – macht aus Morettis Schreiben, wie „Der Bourgeois“ zeigt, kein dröges Statistikmaterial; die Maschine ist hier eindeutig die Dienerin des menschlichen Geistes. Stanford Literary Lab, das klingt für manche Leser vielleicht bedrohlich nach irgendwelchen bösen kalifornischen Algorithmen – und doch geschieht hier, was bei guten Philologen schon immer geschah: präzises technisches Wissen und die Nutzung neuester Medien sind Instrumente der Divination des Interpreten.
Um diese nun auf der Suche nach dem Bürger zum Zünden zu bringen, will Franco Moretti von literarischen Formen „auf die zugrundeliegenden Probleme zurückschließen“. Auf diese Weise wird der Protagonist dieses Buches, wie er sagt, die „arbeitsintensive Prosa“. Denn nicht bloß der Stoff, sondern vor allem das Erzählen selber wird mit der bürgerlichen Literatur bürgerlich. Nach all den heroischen Abenteuern, nach all den Kriegern, Jungfrauen und Rittern geht es in der bürgerlichen Prosa anders zu: beherrscht, detailliert, alltäglich, ernsthaft.
Am Anfang dieses Prozesses, den Moretti mit beherzten Periodisierungen verfolgt, steht Daniel Defoes „Robinson Crusoe“, der erste englische Roman von 1719. Auf seiner Insel geht es nur auf den allerersten Blick um Abenteurer- und Aussteigertum. Eigentlich steht, wie Moretti hübsch am Text zeigt, die Arbeit im Mittelpunkt, die Zweckrationalität und Nützlichkeit, die „Genauigkeit um der Genauigkeit willen“, bis in den Stil hinein. Robinson Crusoes bürgerliches Ethos ist: „Für sich selbst arbeiten, als ob man ein anderer wäre.“
Dieser Keim geht dann in der Blütezeit des bürgerlichen Romans im 19. Jahrhundert auf, die hier die Epoche der Ernsthaftigkeit heißt. Die Bourgeoisie herrscht zunehmend in der Gesellschaft, und in der Literatur eine neue weltliche, behagliche, gewissenhafte, realistische, gegenwärtige Prosa. Das gilt bei allen Unterschieden gleichermaßen für den Bildungsroman, den Liebesroman, den historischen Roman und den Großstadtroman; Moretti nimmt sich exemplarisch George Eliots „Middlemarch“ vor. Das Bürgertum genießt jetzt seinen Fleiß, seine Freizeit, seinen Wohnraum und die Regelmäßigkeit des Lebens – da ist sie zu Hause, „die profunde Ernsthaftigkeit, mit der das bürgerliche Jahrhundert seinen Alltag betrachtet“.
Als aber das Bürgertum – so geht Morettis Geschichte weiter – in seiner Hochphase steht, als sich der Kapitalismus auf ganzer Linie durchsetzt, reagiert die Literatur, besonders die viktorianische, mit „Verschleierungen“, das heißt: mit einem wärmeren, menschlicheren, sentimentaleren, aber auch ungenaueren Stil. Etwa so, wie die Kunstreligion jener Zeit und die historistischen Zweckbauten im Stil gotischer Kathedralen die Macht von Industrie und Finanzwirtschaft verbrämen. Moretti spricht von „selbst auferlegter Blindheit“. Er verfolgt seine Thesen dann noch in Romanen aus Spanien, Polen und Russland – und am Ende stehen die Dramen von Henrik Ibsen: Krise, Zwielichtigkeit, Destruktivität. Die Hauptfigur ist jetzt „die Impotenz des bürgerlichen Realismus gegen die Megalomanie des Kapitalismus“. Und da stehen wir gewissermaßen noch heute.
Franco Moretti sagt etwas kokett bescheiden, er habe seine Studien (noch) nicht „für eine Kritik der Gegenwart fruchtbar“ gemacht. Doch im Subtext durchzieht diese Kritik durchaus dieses Buch, und sie verleiht ihm viel von seiner Energie und Präsenz. Gewiss hört Moretti auch manchmal das Gras wachsen, denn natürlich müssen und können einzelne Textpassagen nicht immer für ihre Epoche stehen. Das aber ist ein Vorwurf, den man einer Literaturwissenschaft, die Gesellschafts- und Stilfragen so lebendig verbindet, nur allzu gerne macht: dass ihr Sensorium zu feinfühlig sei.
JOHAN SCHLOEMANN
Die Schlüsselfigur des Bürgers
hofft Moretti zu entschleiern
Auf die Hochphase des Bourgeois
reagiert die Literatur evasiv
Ein Italiener, der sein Labor in Kalifornien betreibt: Der Literaturwissenschaftler Franco Moretti.
Foto: Regina Schmeken
Franco Moretti: Der
Bourgeois. Eine
Schlüsselfigur der
Moderne. Aus dem
Englischen von Frank
Jakubzik. Suhrkamp
Verlag, Berlin 2014.
275 Seiten, 24,95 Euro. E-Book 21,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Franco Morettis weit ausgreifender, schwungvoller und furchtloser Großessay „Der Bourgeois“ über Bürger und Bürgertum
Der deutsche „Bürger“ führt bekanntlich ein Doppelleben. Er ist oder war Angehöriger eines Standes oder einer Klasse. Zugleich ist er aber auch jeder – und längst auch: jede –, der oder die republikanische, demokratische Rechte innehat. Als Bourgeois ist der Bürger Teil des Bürgertums, als Citoyen Teil der Bürgerschaft. Dieses Doppelleben ist ohne Zweifel einer der Gründe dafür, dass eine bestimmte Betrachtung hierzulande endlos beliebt ist: Ob es denn den Bürger oder die Bürgerlichkeit irgendwie noch gibt? Oder wieder? Manchmal reicht schon ein Perlenohrring oder ein Klavierschüler aus, um diese Betrachtung in Wallung zu bringen.
Vom Bourgeois als solchem aber, und von der Bourgeoisie, haben wir doch recht lange nichts mehr gehört. Etwa seit dem Schulunterricht, Mittelstufe, oder seit den Glanzzeiten marxistischer Theorie. Dies ist auch die Ausgangsbeobachtung für Franco Moretti. Er ist Literaturwissenschaftler, einer der am meisten beachteten derzeit, er ist Italiener, Bruder des Filmregisseurs Nanni Moretti, und er lehrt an der Universität Stanford in Kalifornien. Und er hat das sehr schöne Buch „Der Bourgeois“ geschrieben, das jetzt in deutscher Übersetzung erscheint.
„The Bourgeois“ heißt auch die englische Ausgabe des Buches, und darin liegt schon eine eigene Aussage. In England und Amerika nämlich, wo die Entwicklung des modernen Kapitalismus und die Entwicklung der bürgerlichen Literatur in enger Begleitung stattfanden, hat man den französischen Begriff fremd gehalten; eine eigene Vokabel wie „Bürger“ gibt es dort nicht. Dass man in England, dem Mutterland des Industriekapitalismus, statt vom Bürgertum oder von der Bourgeoisie seit dem 19. Jahrhundert lieber von der „middle class“ spricht, das ist, sagt Franco Moretti, ein besonderer Akt der Verschleierung. Denn der relative Begriff der Mittelklasse ist eine Bezeichnung, mit der man sie, so Moretti, „nicht mehr ernsthaft für den Zustand der Welt verantwortlich machen kann“. Dieser Verantwortung, und damit dem Aufstieg der Bürger zur herrschenden Klasse, hofft Franco Moretti jetzt auf seine Weise den Schleier zu nehmen – indem er dem Bourgeois auch in der englischen Literatur nachspürt, wenn auch keineswegs nur in der englischen.
Aber kann man denn überhaupt noch ein neuartiges Buch über den Bürger und das Bürgertum schreiben? Man kann, wenn man es wie Moretti unternimmt, einen weit ausgreifenden, schwungvollen und furchtlosen Essay zu schreiben und zugleich das philologische Mikroskop exakt anzusetzen. Der Autor weiß natürlich, dass es, um von der Literaturwissenschaft erst zu schweigen, tonnenweise Kapitalismus- und Bürgertumsforschung gibt, von Karl Marx und Max Weber über Georg Simmel, Werner Sombart, Joseph Schumpeter, Georg Lukács bis zu Peter Gay, Reinhart Koselleck und Jürgen Kocka, um nur diese zu nennen; Franco Moretti kennt zwar all diese Literatur und gewinnt ihr viel ab, er ertrinkt aber nicht in ihr, sondern bleibt souverän Herr der Lage.
Selbstständiges Denken ist eben auch eine literarische Tugend – es dient der Lesbarkeit. Ähnlich unsklavisch geht Franco Moretti auch mit seiner eigenen Methode um: Manche seiner Befunde profitieren von den Roman-Datenbanken, die er in seinem „Stanford Literary Lab“ angelegt hat; Moretti betreibt dort eine quantitativ gestützte Sozialgeschichte der Literatur, die er „Distant Reading“ nennt und die einiges Aufsehen erregt(SZ vom 23. Juni 2013). Doch die computergestützte Forschung – mit der einst zuerst die Linguistik die traditionell interpretierenden Philologien herausgefordert hat – macht aus Morettis Schreiben, wie „Der Bourgeois“ zeigt, kein dröges Statistikmaterial; die Maschine ist hier eindeutig die Dienerin des menschlichen Geistes. Stanford Literary Lab, das klingt für manche Leser vielleicht bedrohlich nach irgendwelchen bösen kalifornischen Algorithmen – und doch geschieht hier, was bei guten Philologen schon immer geschah: präzises technisches Wissen und die Nutzung neuester Medien sind Instrumente der Divination des Interpreten.
Um diese nun auf der Suche nach dem Bürger zum Zünden zu bringen, will Franco Moretti von literarischen Formen „auf die zugrundeliegenden Probleme zurückschließen“. Auf diese Weise wird der Protagonist dieses Buches, wie er sagt, die „arbeitsintensive Prosa“. Denn nicht bloß der Stoff, sondern vor allem das Erzählen selber wird mit der bürgerlichen Literatur bürgerlich. Nach all den heroischen Abenteuern, nach all den Kriegern, Jungfrauen und Rittern geht es in der bürgerlichen Prosa anders zu: beherrscht, detailliert, alltäglich, ernsthaft.
Am Anfang dieses Prozesses, den Moretti mit beherzten Periodisierungen verfolgt, steht Daniel Defoes „Robinson Crusoe“, der erste englische Roman von 1719. Auf seiner Insel geht es nur auf den allerersten Blick um Abenteurer- und Aussteigertum. Eigentlich steht, wie Moretti hübsch am Text zeigt, die Arbeit im Mittelpunkt, die Zweckrationalität und Nützlichkeit, die „Genauigkeit um der Genauigkeit willen“, bis in den Stil hinein. Robinson Crusoes bürgerliches Ethos ist: „Für sich selbst arbeiten, als ob man ein anderer wäre.“
Dieser Keim geht dann in der Blütezeit des bürgerlichen Romans im 19. Jahrhundert auf, die hier die Epoche der Ernsthaftigkeit heißt. Die Bourgeoisie herrscht zunehmend in der Gesellschaft, und in der Literatur eine neue weltliche, behagliche, gewissenhafte, realistische, gegenwärtige Prosa. Das gilt bei allen Unterschieden gleichermaßen für den Bildungsroman, den Liebesroman, den historischen Roman und den Großstadtroman; Moretti nimmt sich exemplarisch George Eliots „Middlemarch“ vor. Das Bürgertum genießt jetzt seinen Fleiß, seine Freizeit, seinen Wohnraum und die Regelmäßigkeit des Lebens – da ist sie zu Hause, „die profunde Ernsthaftigkeit, mit der das bürgerliche Jahrhundert seinen Alltag betrachtet“.
Als aber das Bürgertum – so geht Morettis Geschichte weiter – in seiner Hochphase steht, als sich der Kapitalismus auf ganzer Linie durchsetzt, reagiert die Literatur, besonders die viktorianische, mit „Verschleierungen“, das heißt: mit einem wärmeren, menschlicheren, sentimentaleren, aber auch ungenaueren Stil. Etwa so, wie die Kunstreligion jener Zeit und die historistischen Zweckbauten im Stil gotischer Kathedralen die Macht von Industrie und Finanzwirtschaft verbrämen. Moretti spricht von „selbst auferlegter Blindheit“. Er verfolgt seine Thesen dann noch in Romanen aus Spanien, Polen und Russland – und am Ende stehen die Dramen von Henrik Ibsen: Krise, Zwielichtigkeit, Destruktivität. Die Hauptfigur ist jetzt „die Impotenz des bürgerlichen Realismus gegen die Megalomanie des Kapitalismus“. Und da stehen wir gewissermaßen noch heute.
Franco Moretti sagt etwas kokett bescheiden, er habe seine Studien (noch) nicht „für eine Kritik der Gegenwart fruchtbar“ gemacht. Doch im Subtext durchzieht diese Kritik durchaus dieses Buch, und sie verleiht ihm viel von seiner Energie und Präsenz. Gewiss hört Moretti auch manchmal das Gras wachsen, denn natürlich müssen und können einzelne Textpassagen nicht immer für ihre Epoche stehen. Das aber ist ein Vorwurf, den man einer Literaturwissenschaft, die Gesellschafts- und Stilfragen so lebendig verbindet, nur allzu gerne macht: dass ihr Sensorium zu feinfühlig sei.
JOHAN SCHLOEMANN
Die Schlüsselfigur des Bürgers
hofft Moretti zu entschleiern
Auf die Hochphase des Bourgeois
reagiert die Literatur evasiv
Ein Italiener, der sein Labor in Kalifornien betreibt: Der Literaturwissenschaftler Franco Moretti.
Foto: Regina Schmeken
Franco Moretti: Der
Bourgeois. Eine
Schlüsselfigur der
Moderne. Aus dem
Englischen von Frank
Jakubzik. Suhrkamp
Verlag, Berlin 2014.
275 Seiten, 24,95 Euro. E-Book 21,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.10.2014Achtung, hier beginnt die bürgerliche Ruhezone
Fleiß, Genauigkeit, Ernst, Pflichterfüllung und Gefühlskontrolle: Franco Moretti verlötet die Geschichte des modernen Romans mit Aufstieg und Fall der Bourgeoisie.
Von Jürgen Kaube
Ständig ist zu hören, das Bürgertum sei am Ende, die Mittelschicht schrumpfe, die alten Wahlmilieus auch. Bürgerliche Lebensführung? Bürgerliche Kultur? Shoppen und Ausgehen gehören zu den liebsten Freizeitverwendungen, die Singlehaushalte nehmen zu, Manager geben unumwunden Sport als erstes Hobby an, die subventionierte Avantgarde wiederum beißt in die Hand, die sie füttert, und das Fernsehen ist Volksmusik, Krimi, Kochsendung. Selbst auf das Wirtschaftsbürgertum scheint kein Verlass: Steuerhinterziehung, delokalisierte "Miles-&-More"-Eliten und Kasino. So jedenfalls das Gerede.
Hin und wieder erfolgen dann Appelle zu "neuer Bürgerlichkeit". Jenseits von Ornamenten aber herrscht in den Kreisen, die dafür in Betracht kämen, wenig Bereitschaft, Buddenbrooks zu spielen. Gewiss gibt es kommunale Mitwirkung, zivile Bereitschaft zu stiften, historisches Interesse, Klavierstunden, Bildungsernst, das Gefühl professioneller Berufspflicht. Aber als eine "herrschende Klasse", der die Zukunft gehört, werden sich diejenigen, denen solche Praxis einleuchtet, heute gewiss nicht fühlen.
Der italienische Literaturwissenschaftler Franco Moretti hat ein Buch zu dieser Lage des Bürgertums geschrieben. Für ihn existiert sie schon seit Mitte jenes neunzehnten Jahrhunderts, das vielen als die hohe Zeit der Bourgeoisie gilt. Moretti ist als Anglist Fachmann für die Romane einer Epoche, die er nicht mag, die viktorianische zwischen 1830 und 1900 in England, und die ihm vor allem in den Vereinigten Staaten, wo er an der Stanford University lehrt, viele Züge der gegenwärtigen trägt: heuchlerische Religiosität, Infantilisierung der Kultur ("fun"), antiintellektuelle Orientierung ausschließlich am nützlichen Wissen, ein Bild der Welt als Rohstoffquelle, Sportplatz und Kaufhaus.
Morettis Frage ist, wie es dazu kam. War doch das Bürgertum ganz anders angetreten: asketisch, ernst, realistisch, aufklärungsbereit und unsentimental. Mit Max Weber, seinem soziologischen Stichwortgeber, unterscheidet er darum zwei bürgerliche Epochen. Eine heroische, in der eine auf "Besitz und Bildung" gegründete Lebensführung selbstbewusst durchgesetzt wurde. Und eine, in der das aufgestiegene Bürgertum die Erkenntnis der unter seiner Führung entstandenen Welt zu verweigern beginnt: "Fog", Nebel, heißt das zentrale Kapitel des Buches im Original, "Verschleierungen" in der deutschen Fassung. Es endet mit einem Kapitel zum Erfinder des Wortes "Lebenslüge", dem Dramatiker Henrik Ibsen.
Doch zunächst zum Anfang. Der bürgerliche Prototyp ist für Moretti ein gescheiterter Abenteurer: Robinson Crusoe. Der schlägt in Defoes Roman von 1719 die Warnungen seines Vaters in den Wind, die Seefahrt sei nur etwas für Adlige (hochmütige Leute mit Passionen) und körperlich Arbeitende (der "mechanische Teil der Menschheit", triebgesteuert), aber nichts für Bürger, die sich vom Verstand und Nützlichkeitserwägungen leiten lassen.
Nach dem Schiffbruch führt Robinson genau so ein Leben arbeitsamer Selbsthilfe, Selbstdisziplin und Selbstbeobachtung. Über Hunderte von Seiten folgen wir ihm, wie er sich einrichtet. Warum arbeitet er so viel? Für Moretti, weil "industry", Fleiß, den Anspruch des Bürgertums auf Besitz begründet, Besitz der Insel, Besitz von Sklaven, Besitz von gutem Gewissen.
Moretti notiert, dass neben Arbeit auch viel Gewaltsamkeit bei der bürgerlichen Besitznahme im Spiel war. Was ihn aber mehr interessiert als die Handlung des Romans, ist seine Sprache. Die Grundstruktur des nützlichen Lebens wird bis in die Grammatik von Crusoes Tagebuch nachgezeichnet. Fast jeder Satz darin folgt dem Schema zweckrationaler Abfolgen ohne Umwege: "Nachdem ich dieses Problem löste, wendete ich mich jenem zu, um solches herzustellen."
Solches, das sind: Kleider, Zäune, Sonnenschirme, Töpfe. Wie viele niederländischen Genrebilder der Epoche ist auch der frühe bürgerliche Roman auf die Solidität alltäglicher Dinge fixiert, die das Leben leichter machen. Der Adel strebt nach Luxus, der Bürger nach Komfort, der auch für Asketen den Konsum rechtfertigt, solange er, wie das "sweet home" als Ruheort, auf die Arbeit bezogen bleibt. In diese verselbständigte Akribie beim Beschreiben alltäglicher Umstände mischen sich buchhalterische Einstellungen und handwerkliche Ideale einer verlässlichen Produktion mit dem Ethos des Spezialistentums. Der Bürger will von George Eliot bis Joseph Conrad kein Schwätzer sein, sich auskennen. Bei Thomas Mann, notiert Moretti, wird das zum Stil: Es gibt sie noch, teilt Mann in jeder Zeile mit, die guten Formulierungen, handgetriebene Sprachveredelung aus Lübeck.
Das Zentralstück dieser Formanalysen Morettis betrifft die Technik der Einschübe. Bürgerliche Romane entstehen für ihn, wenn zwischen den Wendepunkten der Handlung - Schiffbruch, Freitag, Rettung - große Ruhezonen eingefügt werden. Extrem bei Jane Austen. In "Stolz und Vorurteil" begegnen sich Elizabeth und Darcy im dritten Kapitel, im vierunddreißigsten erfolgt der Heiratsantrag, siebenundzwanzig Kapitel danach wird er angenommen. Dazwischen: Nachdenken, Plaudern, Spaziergänge, Abendgesellschaften, noch mal Nachdenken. Unter Spannungsgesichtspunkten würde man so etwas nicht lesen.
Unter welchen dann? Wieso machen Leser mit, was in den angeblich romanhaften amerikanischen Fernsehserien unserer Tage unerträglich wäre? Die Ökonomie des Films zwingt, ständig darauf zu achten, ja nichts zu verpassen. Die Ökonomie des bürgerlichen Lesestoffs zielt auf Regelmäßigkeit, langsame Übergänge, Nuancen, Umwege - die Wertschätzung des Alltags eben. Einschübe sind der Komfort im Bereich der Literatur. Moretti kontrastiert diese Erzählweise mit dem, was in den weniger wohlhabenden Regionen Europas aus dem bürgerlichen Roman durch Radikalisierung westlicher Ideen gemacht wurde, etwa bei Dostojewski: ein Epos extremer Stimmungsamplituden und katastrophaler Ausnahmezustände, in denen nicht die Menschen Gefühle und Gedanken haben, sondern Gefühle und Gedanken haben die Menschen - momenthaft, exaltiert, sprungbereit, irrsinnig.
Bei seinen Versuchen, die bürgerliche, ausgeglichene, beherrschte Mentalität bis in den Satzbau der Romane hinein zu verfolgen, kommt Moretti schließlich auf die erlebte Rede als höchste Form erzählerischer Emotionskontrolle. Hier sind die Worte der direkten Rede entnommen, die Grammatik aber folgt der indirekten, wie in "Madame Bovary" von Gustave Flaubert, wo das Innerste einer Romanfigur - die gerade ihren ersten Seitensprung begangen hat - objektiviert wird, indem der Erzähler zurücktritt und sich jedes Urteils über das so freigelegte Seelenleben enthält: "Immer wieder sagte sie: ,Ich habe einen Geliebten! Einen Geliebten!', und sie berauschte sich an dieser Vorstellung, als wäre ihr eine zweite Mädchenblüte zuteil geworden. Sie würde nun endlich die Freuden der Liebe erfahren, jenes fiebrige Glück, das sie schon verloren geglaubt hatte." Im letzten Satz spricht nicht der Erzähler, er lässt die Figur ihre Gedanken zeigen, als seien es Dinge. Und tatsächlich waren es für Flaubert auch Dinge, Standardsätze nämlich der sentimentalen Kitschromane, in denen sich Emma Bovary ihre Gefühle angelesen hat.
Hier, 1856, endet für Moretti das Zeitalter des bürgerlichen Romans, wenn man darunter die Arbeit an erzählerischer Objektivität versteht. In seinem Schlusskapitel über Ibsen - auf einmal setzt ein Dramatiker den Schlusspunkt! - schreibt Moretti, dieser sei der einzige Schriftsteller, der dem Besitzbürger ins Auge geschaut und ihn gefragt habe, was er der Welt zu bringen vermochte. Mit Ibsen wirft Moretti dabei dem Bürgertum vor, seinen Frieden mit einem Kapitalismus gemacht zu haben, der die bürgerliche Kultur untergrub. Der Bürger, der als Ausbeuter Wohltäter ist, als Mann von Ehre Lügner, als Liebender Betrüger, als Realist ein träumender Tyrann, hatte nicht die Kraft, der Wohlstandsdividende zu widerstehen. So kehrt sich die bürgerliche Forderung der Aufrichtigkeit gegen die Bürger selbst. Wenn sie von Zinsen leben, leben sie nicht mehr von ihrer Arbeit. Spekulation heißt Spiel heißt Mythos - und nicht Realismus. Richard Wagners "Ring" ist das dazu parallele Drama.
Im selben Moment also, in dem Marx und Engels die Bourgeoisie als erste realistische Klasse der Gesellschaftsgeschichte behaupten, führen die Schriftsteller von Flaubert bis Ibsen vor, dass es mit der Desillusionierung gar nichts ist. Nur die alten Bürger waren wortkarg, sachlich, hart. Aber irgendjemand musste ihre in diesem Geist hergestellten Waren ja auch kaufen, und wer anders hätte das Einkommen dazu gehabt als sie selbst. Ihre Enkel sammeln Präraffaeliten, schwärmen für den Orient und bauen Fabrikhallen im neogotischen Stil. "Der Bourgeois - abgetreten in dem Moment, in dem der Kapitalismus siegt", so Moretti. Das Wort "Romantik" fällt bei ihm nicht, aber die Sache, die das Buch überspringt, scheint er zu verachten und für den Quell vielen Übels zu halten.
Die Sollbruchstellen dieses Arguments sind deutlich. Überhaupt hat Moretti ein Buch geschrieben, das so gut ist, dass man auf jeder Seite einmal widersprechen möchte - weil es eben aus Gedanken besteht. An einer Stelle spricht er davon, dass die analytische Prosa, die alles in seine Einzelteile zerlegt und auf einen unpersönlichen Stil hinauswill, sich bei Flaubert vervollkommnet. Derselbe Geist finde sich auch in serieller Musik, Kubismus, Bauhaus. Das jedoch heißt, dass die ästhetische Ablösung des Realismus - der andernorts, etwa in der amerikanischen Literatur, wenig später wiederkommt - wohl nicht mit einem Epochenwandel der Gesellschaft erklärt werden kann, sondern vermutlich nur aus dem Binnengeschehen der Kunst.
Jedenfalls wird, je länger Moretti seine Geschichte erzählt, der Bezug auf irgendeine Form von "kapitalistischer Herrschaft" unplausibel. Ganz abgesehen davon war auch Defoe schon ein Schwindler, und für einen unbürgerlichen Kapitalismus samt Bilanzverschleierung brauchte die Geschichte nicht auf Enron und die Schattenbanken zu warten. Auch die Behauptung, dass die Objektivität abnimmt, wenn die Subjektivität zunimmt, gilt nicht, wenn Subjektivität selbst dargestellt werden soll. Das wäre jedenfalls das romantische Gegenargument. Wo auf der Skala des Bürgerlichen käme etwa Marcel Proust zu liegen, der große Schüler Flauberts, dem es weder an Ob- noch Subjektivität im Sinne Morettis fehlte?
Soll heißen: Morettis Analysen - etwa der um 1850 einsetzenden Zunahme von ehedem physischen Adjektiven für moralische Tatbestände: "dunkle Blicke", "tiefes Verständnis", "starker Wille" - sind glänzend. Dass in derselben Zeit, in der kein Satz mehr ohne moralische Tönung geschrieben wird, "serious" von "earnest" überholt wird, also lieber von ernsten Absichten als von schwerwiegenden Folgen die Rede ist, gehört zu den vielen unbezahlbaren Einsichten des Buches. Oder nehmen wir den glänzenden Abschnitt über die Bourgeoisie in den literarischen Peripherien, bei Machado de Assis, Pérez Galdós und Boleslaw Prus, der zeigt, wie man dort mit dem bürgerlichen Modellathleten Schlitten fuhr. Es stecken hundert Forschungsfragen in diesem Buch, die Philologen aller Länder sollten sich ein Beispiel nehmen.
Aber Moretti verspricht sich zu viel von seinem Grundbegriff, von der Sozialgeschichte und der Einteilung der Gesellschaft nach Klassen. Das Bürgertum als "herrschende Klasse"? Mit einheitlichen Interessen, geteilter Lebensführung, am Hebel der Geschichte? Dass davon keine Rede sein kann, beklagte schon Max Weber. Man möchte Moretti auch fragen, welcher Klasse er denn selbst angehört. Käme er um den ihm verhassten Begriff "Mittelschicht" herum? Die Geschichte der Literatur ist keine Geschichte von Klassenkämpfen. Mag das moderne Erzählen bürgerlich in Gang gekommen sein, irgendwann stand Rationalität im Umgang mit ästhetischen Mitteln jedweder Absicht zu Gebote. Sie hat auch nichts kapitalistisches. Außerdem hat ja nicht nur der Kapitalismus "gesiegt", sondern - um erneut bei Max Weber zu bleiben - auch die Bürokratie, die Technik, die Wissenschaft, die romantische Liebe, die allgemeine Schulpflicht und das positive Recht. Und nicht zuletzt die autonome Literatur, die keine Schicht repräsentiert, sondern nur sich selbst, und bloß ein Publikum braucht, das Schwierigkeiten lesend überwinden kann und zahlungsfähig ist und allein insofern bürgerlich.
Franco Moretti: "Der Bourgeois". Eine Schlüsselfigur der Moderne.
Aus dem Englischen von Frank Jakubzik. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 275 S., geb., 24,95 [Euro].
Eberhard Mayer-Wegelin (Hrsg.): "Das alte Frankfurt am Main 1855 bis 1890".
Photographien von Carl Friedrich Mylius. Schirmer Mosel Verlag, München 2014. 260 S., zahlr. Abb., geb., 49,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Fleiß, Genauigkeit, Ernst, Pflichterfüllung und Gefühlskontrolle: Franco Moretti verlötet die Geschichte des modernen Romans mit Aufstieg und Fall der Bourgeoisie.
Von Jürgen Kaube
Ständig ist zu hören, das Bürgertum sei am Ende, die Mittelschicht schrumpfe, die alten Wahlmilieus auch. Bürgerliche Lebensführung? Bürgerliche Kultur? Shoppen und Ausgehen gehören zu den liebsten Freizeitverwendungen, die Singlehaushalte nehmen zu, Manager geben unumwunden Sport als erstes Hobby an, die subventionierte Avantgarde wiederum beißt in die Hand, die sie füttert, und das Fernsehen ist Volksmusik, Krimi, Kochsendung. Selbst auf das Wirtschaftsbürgertum scheint kein Verlass: Steuerhinterziehung, delokalisierte "Miles-&-More"-Eliten und Kasino. So jedenfalls das Gerede.
Hin und wieder erfolgen dann Appelle zu "neuer Bürgerlichkeit". Jenseits von Ornamenten aber herrscht in den Kreisen, die dafür in Betracht kämen, wenig Bereitschaft, Buddenbrooks zu spielen. Gewiss gibt es kommunale Mitwirkung, zivile Bereitschaft zu stiften, historisches Interesse, Klavierstunden, Bildungsernst, das Gefühl professioneller Berufspflicht. Aber als eine "herrschende Klasse", der die Zukunft gehört, werden sich diejenigen, denen solche Praxis einleuchtet, heute gewiss nicht fühlen.
Der italienische Literaturwissenschaftler Franco Moretti hat ein Buch zu dieser Lage des Bürgertums geschrieben. Für ihn existiert sie schon seit Mitte jenes neunzehnten Jahrhunderts, das vielen als die hohe Zeit der Bourgeoisie gilt. Moretti ist als Anglist Fachmann für die Romane einer Epoche, die er nicht mag, die viktorianische zwischen 1830 und 1900 in England, und die ihm vor allem in den Vereinigten Staaten, wo er an der Stanford University lehrt, viele Züge der gegenwärtigen trägt: heuchlerische Religiosität, Infantilisierung der Kultur ("fun"), antiintellektuelle Orientierung ausschließlich am nützlichen Wissen, ein Bild der Welt als Rohstoffquelle, Sportplatz und Kaufhaus.
Morettis Frage ist, wie es dazu kam. War doch das Bürgertum ganz anders angetreten: asketisch, ernst, realistisch, aufklärungsbereit und unsentimental. Mit Max Weber, seinem soziologischen Stichwortgeber, unterscheidet er darum zwei bürgerliche Epochen. Eine heroische, in der eine auf "Besitz und Bildung" gegründete Lebensführung selbstbewusst durchgesetzt wurde. Und eine, in der das aufgestiegene Bürgertum die Erkenntnis der unter seiner Führung entstandenen Welt zu verweigern beginnt: "Fog", Nebel, heißt das zentrale Kapitel des Buches im Original, "Verschleierungen" in der deutschen Fassung. Es endet mit einem Kapitel zum Erfinder des Wortes "Lebenslüge", dem Dramatiker Henrik Ibsen.
Doch zunächst zum Anfang. Der bürgerliche Prototyp ist für Moretti ein gescheiterter Abenteurer: Robinson Crusoe. Der schlägt in Defoes Roman von 1719 die Warnungen seines Vaters in den Wind, die Seefahrt sei nur etwas für Adlige (hochmütige Leute mit Passionen) und körperlich Arbeitende (der "mechanische Teil der Menschheit", triebgesteuert), aber nichts für Bürger, die sich vom Verstand und Nützlichkeitserwägungen leiten lassen.
Nach dem Schiffbruch führt Robinson genau so ein Leben arbeitsamer Selbsthilfe, Selbstdisziplin und Selbstbeobachtung. Über Hunderte von Seiten folgen wir ihm, wie er sich einrichtet. Warum arbeitet er so viel? Für Moretti, weil "industry", Fleiß, den Anspruch des Bürgertums auf Besitz begründet, Besitz der Insel, Besitz von Sklaven, Besitz von gutem Gewissen.
Moretti notiert, dass neben Arbeit auch viel Gewaltsamkeit bei der bürgerlichen Besitznahme im Spiel war. Was ihn aber mehr interessiert als die Handlung des Romans, ist seine Sprache. Die Grundstruktur des nützlichen Lebens wird bis in die Grammatik von Crusoes Tagebuch nachgezeichnet. Fast jeder Satz darin folgt dem Schema zweckrationaler Abfolgen ohne Umwege: "Nachdem ich dieses Problem löste, wendete ich mich jenem zu, um solches herzustellen."
Solches, das sind: Kleider, Zäune, Sonnenschirme, Töpfe. Wie viele niederländischen Genrebilder der Epoche ist auch der frühe bürgerliche Roman auf die Solidität alltäglicher Dinge fixiert, die das Leben leichter machen. Der Adel strebt nach Luxus, der Bürger nach Komfort, der auch für Asketen den Konsum rechtfertigt, solange er, wie das "sweet home" als Ruheort, auf die Arbeit bezogen bleibt. In diese verselbständigte Akribie beim Beschreiben alltäglicher Umstände mischen sich buchhalterische Einstellungen und handwerkliche Ideale einer verlässlichen Produktion mit dem Ethos des Spezialistentums. Der Bürger will von George Eliot bis Joseph Conrad kein Schwätzer sein, sich auskennen. Bei Thomas Mann, notiert Moretti, wird das zum Stil: Es gibt sie noch, teilt Mann in jeder Zeile mit, die guten Formulierungen, handgetriebene Sprachveredelung aus Lübeck.
Das Zentralstück dieser Formanalysen Morettis betrifft die Technik der Einschübe. Bürgerliche Romane entstehen für ihn, wenn zwischen den Wendepunkten der Handlung - Schiffbruch, Freitag, Rettung - große Ruhezonen eingefügt werden. Extrem bei Jane Austen. In "Stolz und Vorurteil" begegnen sich Elizabeth und Darcy im dritten Kapitel, im vierunddreißigsten erfolgt der Heiratsantrag, siebenundzwanzig Kapitel danach wird er angenommen. Dazwischen: Nachdenken, Plaudern, Spaziergänge, Abendgesellschaften, noch mal Nachdenken. Unter Spannungsgesichtspunkten würde man so etwas nicht lesen.
Unter welchen dann? Wieso machen Leser mit, was in den angeblich romanhaften amerikanischen Fernsehserien unserer Tage unerträglich wäre? Die Ökonomie des Films zwingt, ständig darauf zu achten, ja nichts zu verpassen. Die Ökonomie des bürgerlichen Lesestoffs zielt auf Regelmäßigkeit, langsame Übergänge, Nuancen, Umwege - die Wertschätzung des Alltags eben. Einschübe sind der Komfort im Bereich der Literatur. Moretti kontrastiert diese Erzählweise mit dem, was in den weniger wohlhabenden Regionen Europas aus dem bürgerlichen Roman durch Radikalisierung westlicher Ideen gemacht wurde, etwa bei Dostojewski: ein Epos extremer Stimmungsamplituden und katastrophaler Ausnahmezustände, in denen nicht die Menschen Gefühle und Gedanken haben, sondern Gefühle und Gedanken haben die Menschen - momenthaft, exaltiert, sprungbereit, irrsinnig.
Bei seinen Versuchen, die bürgerliche, ausgeglichene, beherrschte Mentalität bis in den Satzbau der Romane hinein zu verfolgen, kommt Moretti schließlich auf die erlebte Rede als höchste Form erzählerischer Emotionskontrolle. Hier sind die Worte der direkten Rede entnommen, die Grammatik aber folgt der indirekten, wie in "Madame Bovary" von Gustave Flaubert, wo das Innerste einer Romanfigur - die gerade ihren ersten Seitensprung begangen hat - objektiviert wird, indem der Erzähler zurücktritt und sich jedes Urteils über das so freigelegte Seelenleben enthält: "Immer wieder sagte sie: ,Ich habe einen Geliebten! Einen Geliebten!', und sie berauschte sich an dieser Vorstellung, als wäre ihr eine zweite Mädchenblüte zuteil geworden. Sie würde nun endlich die Freuden der Liebe erfahren, jenes fiebrige Glück, das sie schon verloren geglaubt hatte." Im letzten Satz spricht nicht der Erzähler, er lässt die Figur ihre Gedanken zeigen, als seien es Dinge. Und tatsächlich waren es für Flaubert auch Dinge, Standardsätze nämlich der sentimentalen Kitschromane, in denen sich Emma Bovary ihre Gefühle angelesen hat.
Hier, 1856, endet für Moretti das Zeitalter des bürgerlichen Romans, wenn man darunter die Arbeit an erzählerischer Objektivität versteht. In seinem Schlusskapitel über Ibsen - auf einmal setzt ein Dramatiker den Schlusspunkt! - schreibt Moretti, dieser sei der einzige Schriftsteller, der dem Besitzbürger ins Auge geschaut und ihn gefragt habe, was er der Welt zu bringen vermochte. Mit Ibsen wirft Moretti dabei dem Bürgertum vor, seinen Frieden mit einem Kapitalismus gemacht zu haben, der die bürgerliche Kultur untergrub. Der Bürger, der als Ausbeuter Wohltäter ist, als Mann von Ehre Lügner, als Liebender Betrüger, als Realist ein träumender Tyrann, hatte nicht die Kraft, der Wohlstandsdividende zu widerstehen. So kehrt sich die bürgerliche Forderung der Aufrichtigkeit gegen die Bürger selbst. Wenn sie von Zinsen leben, leben sie nicht mehr von ihrer Arbeit. Spekulation heißt Spiel heißt Mythos - und nicht Realismus. Richard Wagners "Ring" ist das dazu parallele Drama.
Im selben Moment also, in dem Marx und Engels die Bourgeoisie als erste realistische Klasse der Gesellschaftsgeschichte behaupten, führen die Schriftsteller von Flaubert bis Ibsen vor, dass es mit der Desillusionierung gar nichts ist. Nur die alten Bürger waren wortkarg, sachlich, hart. Aber irgendjemand musste ihre in diesem Geist hergestellten Waren ja auch kaufen, und wer anders hätte das Einkommen dazu gehabt als sie selbst. Ihre Enkel sammeln Präraffaeliten, schwärmen für den Orient und bauen Fabrikhallen im neogotischen Stil. "Der Bourgeois - abgetreten in dem Moment, in dem der Kapitalismus siegt", so Moretti. Das Wort "Romantik" fällt bei ihm nicht, aber die Sache, die das Buch überspringt, scheint er zu verachten und für den Quell vielen Übels zu halten.
Die Sollbruchstellen dieses Arguments sind deutlich. Überhaupt hat Moretti ein Buch geschrieben, das so gut ist, dass man auf jeder Seite einmal widersprechen möchte - weil es eben aus Gedanken besteht. An einer Stelle spricht er davon, dass die analytische Prosa, die alles in seine Einzelteile zerlegt und auf einen unpersönlichen Stil hinauswill, sich bei Flaubert vervollkommnet. Derselbe Geist finde sich auch in serieller Musik, Kubismus, Bauhaus. Das jedoch heißt, dass die ästhetische Ablösung des Realismus - der andernorts, etwa in der amerikanischen Literatur, wenig später wiederkommt - wohl nicht mit einem Epochenwandel der Gesellschaft erklärt werden kann, sondern vermutlich nur aus dem Binnengeschehen der Kunst.
Jedenfalls wird, je länger Moretti seine Geschichte erzählt, der Bezug auf irgendeine Form von "kapitalistischer Herrschaft" unplausibel. Ganz abgesehen davon war auch Defoe schon ein Schwindler, und für einen unbürgerlichen Kapitalismus samt Bilanzverschleierung brauchte die Geschichte nicht auf Enron und die Schattenbanken zu warten. Auch die Behauptung, dass die Objektivität abnimmt, wenn die Subjektivität zunimmt, gilt nicht, wenn Subjektivität selbst dargestellt werden soll. Das wäre jedenfalls das romantische Gegenargument. Wo auf der Skala des Bürgerlichen käme etwa Marcel Proust zu liegen, der große Schüler Flauberts, dem es weder an Ob- noch Subjektivität im Sinne Morettis fehlte?
Soll heißen: Morettis Analysen - etwa der um 1850 einsetzenden Zunahme von ehedem physischen Adjektiven für moralische Tatbestände: "dunkle Blicke", "tiefes Verständnis", "starker Wille" - sind glänzend. Dass in derselben Zeit, in der kein Satz mehr ohne moralische Tönung geschrieben wird, "serious" von "earnest" überholt wird, also lieber von ernsten Absichten als von schwerwiegenden Folgen die Rede ist, gehört zu den vielen unbezahlbaren Einsichten des Buches. Oder nehmen wir den glänzenden Abschnitt über die Bourgeoisie in den literarischen Peripherien, bei Machado de Assis, Pérez Galdós und Boleslaw Prus, der zeigt, wie man dort mit dem bürgerlichen Modellathleten Schlitten fuhr. Es stecken hundert Forschungsfragen in diesem Buch, die Philologen aller Länder sollten sich ein Beispiel nehmen.
Aber Moretti verspricht sich zu viel von seinem Grundbegriff, von der Sozialgeschichte und der Einteilung der Gesellschaft nach Klassen. Das Bürgertum als "herrschende Klasse"? Mit einheitlichen Interessen, geteilter Lebensführung, am Hebel der Geschichte? Dass davon keine Rede sein kann, beklagte schon Max Weber. Man möchte Moretti auch fragen, welcher Klasse er denn selbst angehört. Käme er um den ihm verhassten Begriff "Mittelschicht" herum? Die Geschichte der Literatur ist keine Geschichte von Klassenkämpfen. Mag das moderne Erzählen bürgerlich in Gang gekommen sein, irgendwann stand Rationalität im Umgang mit ästhetischen Mitteln jedweder Absicht zu Gebote. Sie hat auch nichts kapitalistisches. Außerdem hat ja nicht nur der Kapitalismus "gesiegt", sondern - um erneut bei Max Weber zu bleiben - auch die Bürokratie, die Technik, die Wissenschaft, die romantische Liebe, die allgemeine Schulpflicht und das positive Recht. Und nicht zuletzt die autonome Literatur, die keine Schicht repräsentiert, sondern nur sich selbst, und bloß ein Publikum braucht, das Schwierigkeiten lesend überwinden kann und zahlungsfähig ist und allein insofern bürgerlich.
Franco Moretti: "Der Bourgeois". Eine Schlüsselfigur der Moderne.
Aus dem Englischen von Frank Jakubzik. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 275 S., geb., 24,95 [Euro].
Eberhard Mayer-Wegelin (Hrsg.): "Das alte Frankfurt am Main 1855 bis 1890".
Photographien von Carl Friedrich Mylius. Schirmer Mosel Verlag, München 2014. 260 S., zahlr. Abb., geb., 49,80 [Euro].
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»Schon lange habe ich kein Sachbuch mit dem gleichen intellektuellen Vergnügen und mit demselben literarischen Genuss gelesen wie Franco Morettis Suche, Aufdeckung und Konstruktion des Bourgeois.« Wolfram Schütte Deutschlandfunk 20150812