In eindringlicher und zugleich poetischer Sprache beschreibt Hajatpour die Konflikte, die ihn als jungen Mullah mit fast unlösbaren Fragen an den Islam konfrontieren und sein Vertrauen gegenüber Familie und Freunden erschüttern. Seine Autobiographie eröffnet einen faszinierenden Einblick in das Leben und den Alltag eines Geistlichen unter der absolutistischen Herrschaft Khomeinis - in eine Gesellschaft, in der Religiosität unentwegt mit Politik verbunden ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.06.2005Mein unbeschriebenes Blatt
Reza Hajatpour erzählt sein Leben als junger Mullah in Iran
Wenn man nach der jüngsten Wahl jetzt über einen Rückfall Irans in den Fundamentalismus der Revolutionsjahre spekuliert, in jene Zeit also, als in Ghom 1979 die "Islamische Republik" ausgerufen wurde und Chomeini die führende Rolle der schiitischen Geistlichkeit in allen Belangen des politischen und gesellschaftlichen Lebens festschrieb, dann sollte man dazu unbedingt das gerade erschienene Buch von Reza Hajatpour lesen. Der Autor beschreibt sein Leben als junger Mullah in Iran zur Zeit Chomeinis, seinen Widerspruch zu den neuen Machthabern, in den er immer mehr hineingerät, schließlich seine Ausreise in den Westen, wo er heute am Lehrstuhl für Iranistik an der Universität Bamberg arbeitet. Es gibt vermutlich keinen Bericht, der genauer von innen, aus der autobiographischen Perspektive darüber Auskunft gibt, was Fundamentalismus ist - jene oft als Schlagwort gebrauchte Vokabel, die in diesem Buch kein einziges Mal verwendet, in ihrer Bedeutung aber auf jeder Seite erhellt wird.
Das Buch ist keine flammende Anklageschrift, kein Renegatenbericht, keine Abrechnung. Es ist eher der leise Bericht eines großen Sichwunderns über das Zerbrechen einer Lebensform, die einmal enthusiatisch gewählt und gegen den Widerstand der eigenen Familie durchgesetzt worden war. Der Autor, 1958 in Iran geboren, war einundzwanzig Jahre alt, als Chomeini den "heiligen Staat" ausrief, schon Jahre zuvor hatte er sich für die geistliche Laufbahn entschieden. Interessanter noch als die politischen Zustandsberichte aus jener Zeit, deren es bereits hinlänglich viele gibt, ist die Schilderung vom allmählichen Absterben des geistlichen Impulses im Autor selbst, die einer totalen Bankrotterfahrung der eigenen Biographie gleichkommt. Es ist die Erfahrung, radikal und vollständig aufs falsche Pferd gesetzt zu haben, die Erfahrung, systematisch der Erfahrung ausgewichen und der Verblendung verfallen gewesen zu sein - verblendet nicht etwa als Revolutionswächter im engeren Sinne (der Autor zeigt sich für die Ideologie des heiligen Staates in keiner Phase anfällig), sondern verblendet als Turbanträger überhaupt, als geistlicher Amtsträger, der die Lebenswelt nicht anders als in den Kategorien von Konformität und Abweichung wahrnimmt, der für jede Frage eine erlernte Antwort parat hat und im Begriffe ist, den Alltag derart normiert zu leben, daß für Überraschungen kein Platz scheint.
Das konnte nicht lange gutgehen, und manchmal denkt man: Na ja, im Grunde läßt sich eine solche Entfremdungsgeschichte vermutlich über jedwede verunglückte Festlegung verfassen. Und zweifellos hatte der Autor solches im Sinn: über die Beobachtung der iranischen Revolutionstheologie hinaus die Geschichte einer enttäuschten Liebe zu schreiben, einer Liebe, die sich auf einmal als lebensbedrohlicher Würgeengel entpuppt, weil sie Erfahrungen erstickt statt aufzunehmen und so spröde wird bis zum Zerbrechen.
Die Abrißbirne schwingen
Diesem eher unpolitischen Anliegen entspricht das immer wieder ins Poetische gesteigerte Lapidare, ja die Kindlichkeit der Sprache, mit der Hajatpour wie ein unbeteiligter Protokollant oder besser: wie ein kühler Märchenerzähler aus Tausendundeiner Nacht selbst schmerzhafte persönliche Verwerfungen erzählt, als stammten sie von einem Dritten. Daß der Autor mit diesem Kunstgriff gar kein großes dramaturgisches Kalkül zu verfolgen scheint, daß ihm die Dinge eher absichtslos, bisweilen fast ein wenig einfältig wirkend aus der Feder fließen, dies möchte man dabei als die eigentliche stilistische Leistung ansehen. Freilich stößt man immer wieder auch auf Wendungen der Unbeholfenheit, die ein entschiedeneres Redigat vertragen hätten, etwa wenn sich der Autor nach einer Flugreise "unerwartet aus dem Schweigen enthüllt" oder wenn er einen Garten bemerkt, der dem Haus "eine bezaubernde Landschaft verlieh", oder wenn die Spannung im Raume wich, "als er seufzend den Satz in den Raum pustete".
Jenseits der zeitgeschichtlichen Reminiszenzen ist man gefesselt von der exemplarischen Autobiographie eines Mannes, der sich von einer Überzeugung gefangennehmen läßt und sich wieder von ihr befreit, nachdem er sie als Betrug an der Erfahrung durchschaut hat. Eine Schlüsselstelle gegen Ende des Buches artikuliert diesen brennenden Wunsch, nach Jahren der Umnachtung wieder Kontakt mit Wirklichem zu erlangen, in einem vollkommen verbauten Gebäude die Abrißbirne zu schwingen, den Raum freizubekommen vom Ballast des Ausgedachten, bevor er überhaupt auch nur darüber nachdenken kann, wie die gewonnene Freiheit neu einzusetzen sei. Als er alles aufgegeben hatte, den Turban und die Ämter, zwei Frauen und drei Kinder, da schreibt Hajatpour: ",Frei sein', flüsterte ich, in einem Gefühl des Wohlbefindens. Frei sein von allem, was mich trog; von falschen Propheten, von verblendeten Geistlichen, von heilenden magischen Gebeten, von Prophezeiungen, von allen scheinbaren Heiligen, die dem unbeschriebenen Blatt der menschlichen Instinkte und der einfachen Natur des Selbst die Keuschheit raubten."
In Wirklichkeit gibt es diese Keuschheit natürlich nicht, immer ist das Lebensblatt beschrieben, die Natur des Selbst verschachtelt und nicht etwa einfach. Aber Hajatpour hat das Protokoll seiner Bedrückungen so angelegt, daß es wie von selbst auf diesen Punkt zuläuft, wo Freiheit mit vollem Recht erst einmal als die Chimäre des nackten Lebens einleuchtet. Nach der erstickenden religiösen Überformung von allem und jedem kommt er erst im blanken Naturalismus wieder zu Atem, hat er nur noch Augen für die freigelegten, faszinierenden Oberflächen: "Ich sah die Adern, die meine Hände umspannten, das Blut, das meine Finger beleuchtete, und spürte die Wärme, die mich umhüllte. Ich blickte in den Himmel, der blau gefärbt war. Ich roch die Natur, die leise eine Stimme verkündete, ich hörte meine Stimme, die die Freiheit auf der Zunge kostete." So auf den Boden hingestreckt, so wunderbar ausgenüchtert endet das Buch, um der Seele einen neuen Anfang zu ermöglichen.
Sondergericht in Ghom
Für diesen neuen Anfang hat der Autor einen in seiner Wahrnehmung hohen Preis entrichtet: die Kinder, die nach der Scheidung von seiner im revolutionsreligiösen System verfangenen Frau - die er vor der Hochzeit nur verschleiert sah - von ihm getrennt leben und die er nach seiner Übersiedlung in den Westen in Iran zurückläßt. "Die Kinder waren meine einzige Freude, an die sich meine ganze Hoffnung klammerte", heißt es in kindlicher Poesie. "Ihr Glanz wärmt mich heute noch, und ihre Namen bleiben mein einziges Gebet. Es gab selten eine Zeit, in der ich an diesen Verlust nicht gedacht hätte."
Es ist letztlich unerheblich, in welchem Grad der Autor hinter diesem Dokument augenscheinlicher désinvolture sich stilisiert und Lebensgeschichte nicht nur getreulich aufschreibt, sondern natürlich auch interessengebunden umschreibt. Man kann das wegen Mangel an Vergleichsquellen schlicht nicht nachvollziehen und überprüfen. Doch so oder so hält man ein ungemein eindrucksvolles Lebenszeugnis in Händen, frappierend unwestlich im völligen Fehlen von psychologischer Spekulation und ironischen Puffern. Man hat den Eindruck, jeweils unvermittelt in die Situation gestellt zu werden, mit durchweg eher unterbestimmtem Deutungsaufwand, was dem ganzen Buch in all seinen Abschweifungen und Unaufgeregtheiten etwas Atemberaubendes gibt.
Der ungeduldige Leser, der sich unter dem Eindruck der iranischen Wahlergebnisse vom Wochenende von einem Insider noch einmal in die Zeit um 1979 hineinversetzen lassen möchte, sollte als erstes das Kapitel "Der Buchhändler" lesen. Er stößt dort auf Passagen wie diese, die zugleich die Entfremdung der Autors von seinem Mullah-Dasein erklären sollen: "Die neuen Machthaber machten keinen Unterschied bei der Verfolgung ihrer Ziele zwischen Freund und Feind und vernichteten ausnahmslos jeden, der ihnen im Weg stand. Auch daran hatte man gedacht: Die Mullahs richteten für ihre Kollegen ein Sondergericht in Ghom ein mit der Aufgabe, die Geistlichkeit zu ,reinigen'. Eine merkwürdige Idee, ein Geistlicher, der der Reinigung bedarf! Ja, der Säuberungsprozeß war - wie in allen Diktaturen - ein Zauberakt, den Freund vom Feind zu unterscheiden. In der Öffentlichkeit hielt man sich zurück, aber im privaten Kreis kam die Frage auf, wie es möglich sei, daß Geistliche, die eine unbeabsichtigte Verletzung einer Ameise als Sünde oder zumindest als unmoralische Handlung bewerteten, erbarmungslos Menschen vernichten konnten." Des Mullahs Worte im Ohr der neuen Fundamentalisten-Regierung.
CHRISTIAN GEYER
Reza Hajatpour: "Der brennende Geschmack der Freiheit". Mein Leben als junger Mullah im Iran. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 228 S., br., 10,- [Euro].
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Reza Hajatpour erzählt sein Leben als junger Mullah in Iran
Wenn man nach der jüngsten Wahl jetzt über einen Rückfall Irans in den Fundamentalismus der Revolutionsjahre spekuliert, in jene Zeit also, als in Ghom 1979 die "Islamische Republik" ausgerufen wurde und Chomeini die führende Rolle der schiitischen Geistlichkeit in allen Belangen des politischen und gesellschaftlichen Lebens festschrieb, dann sollte man dazu unbedingt das gerade erschienene Buch von Reza Hajatpour lesen. Der Autor beschreibt sein Leben als junger Mullah in Iran zur Zeit Chomeinis, seinen Widerspruch zu den neuen Machthabern, in den er immer mehr hineingerät, schließlich seine Ausreise in den Westen, wo er heute am Lehrstuhl für Iranistik an der Universität Bamberg arbeitet. Es gibt vermutlich keinen Bericht, der genauer von innen, aus der autobiographischen Perspektive darüber Auskunft gibt, was Fundamentalismus ist - jene oft als Schlagwort gebrauchte Vokabel, die in diesem Buch kein einziges Mal verwendet, in ihrer Bedeutung aber auf jeder Seite erhellt wird.
Das Buch ist keine flammende Anklageschrift, kein Renegatenbericht, keine Abrechnung. Es ist eher der leise Bericht eines großen Sichwunderns über das Zerbrechen einer Lebensform, die einmal enthusiatisch gewählt und gegen den Widerstand der eigenen Familie durchgesetzt worden war. Der Autor, 1958 in Iran geboren, war einundzwanzig Jahre alt, als Chomeini den "heiligen Staat" ausrief, schon Jahre zuvor hatte er sich für die geistliche Laufbahn entschieden. Interessanter noch als die politischen Zustandsberichte aus jener Zeit, deren es bereits hinlänglich viele gibt, ist die Schilderung vom allmählichen Absterben des geistlichen Impulses im Autor selbst, die einer totalen Bankrotterfahrung der eigenen Biographie gleichkommt. Es ist die Erfahrung, radikal und vollständig aufs falsche Pferd gesetzt zu haben, die Erfahrung, systematisch der Erfahrung ausgewichen und der Verblendung verfallen gewesen zu sein - verblendet nicht etwa als Revolutionswächter im engeren Sinne (der Autor zeigt sich für die Ideologie des heiligen Staates in keiner Phase anfällig), sondern verblendet als Turbanträger überhaupt, als geistlicher Amtsträger, der die Lebenswelt nicht anders als in den Kategorien von Konformität und Abweichung wahrnimmt, der für jede Frage eine erlernte Antwort parat hat und im Begriffe ist, den Alltag derart normiert zu leben, daß für Überraschungen kein Platz scheint.
Das konnte nicht lange gutgehen, und manchmal denkt man: Na ja, im Grunde läßt sich eine solche Entfremdungsgeschichte vermutlich über jedwede verunglückte Festlegung verfassen. Und zweifellos hatte der Autor solches im Sinn: über die Beobachtung der iranischen Revolutionstheologie hinaus die Geschichte einer enttäuschten Liebe zu schreiben, einer Liebe, die sich auf einmal als lebensbedrohlicher Würgeengel entpuppt, weil sie Erfahrungen erstickt statt aufzunehmen und so spröde wird bis zum Zerbrechen.
Die Abrißbirne schwingen
Diesem eher unpolitischen Anliegen entspricht das immer wieder ins Poetische gesteigerte Lapidare, ja die Kindlichkeit der Sprache, mit der Hajatpour wie ein unbeteiligter Protokollant oder besser: wie ein kühler Märchenerzähler aus Tausendundeiner Nacht selbst schmerzhafte persönliche Verwerfungen erzählt, als stammten sie von einem Dritten. Daß der Autor mit diesem Kunstgriff gar kein großes dramaturgisches Kalkül zu verfolgen scheint, daß ihm die Dinge eher absichtslos, bisweilen fast ein wenig einfältig wirkend aus der Feder fließen, dies möchte man dabei als die eigentliche stilistische Leistung ansehen. Freilich stößt man immer wieder auch auf Wendungen der Unbeholfenheit, die ein entschiedeneres Redigat vertragen hätten, etwa wenn sich der Autor nach einer Flugreise "unerwartet aus dem Schweigen enthüllt" oder wenn er einen Garten bemerkt, der dem Haus "eine bezaubernde Landschaft verlieh", oder wenn die Spannung im Raume wich, "als er seufzend den Satz in den Raum pustete".
Jenseits der zeitgeschichtlichen Reminiszenzen ist man gefesselt von der exemplarischen Autobiographie eines Mannes, der sich von einer Überzeugung gefangennehmen läßt und sich wieder von ihr befreit, nachdem er sie als Betrug an der Erfahrung durchschaut hat. Eine Schlüsselstelle gegen Ende des Buches artikuliert diesen brennenden Wunsch, nach Jahren der Umnachtung wieder Kontakt mit Wirklichem zu erlangen, in einem vollkommen verbauten Gebäude die Abrißbirne zu schwingen, den Raum freizubekommen vom Ballast des Ausgedachten, bevor er überhaupt auch nur darüber nachdenken kann, wie die gewonnene Freiheit neu einzusetzen sei. Als er alles aufgegeben hatte, den Turban und die Ämter, zwei Frauen und drei Kinder, da schreibt Hajatpour: ",Frei sein', flüsterte ich, in einem Gefühl des Wohlbefindens. Frei sein von allem, was mich trog; von falschen Propheten, von verblendeten Geistlichen, von heilenden magischen Gebeten, von Prophezeiungen, von allen scheinbaren Heiligen, die dem unbeschriebenen Blatt der menschlichen Instinkte und der einfachen Natur des Selbst die Keuschheit raubten."
In Wirklichkeit gibt es diese Keuschheit natürlich nicht, immer ist das Lebensblatt beschrieben, die Natur des Selbst verschachtelt und nicht etwa einfach. Aber Hajatpour hat das Protokoll seiner Bedrückungen so angelegt, daß es wie von selbst auf diesen Punkt zuläuft, wo Freiheit mit vollem Recht erst einmal als die Chimäre des nackten Lebens einleuchtet. Nach der erstickenden religiösen Überformung von allem und jedem kommt er erst im blanken Naturalismus wieder zu Atem, hat er nur noch Augen für die freigelegten, faszinierenden Oberflächen: "Ich sah die Adern, die meine Hände umspannten, das Blut, das meine Finger beleuchtete, und spürte die Wärme, die mich umhüllte. Ich blickte in den Himmel, der blau gefärbt war. Ich roch die Natur, die leise eine Stimme verkündete, ich hörte meine Stimme, die die Freiheit auf der Zunge kostete." So auf den Boden hingestreckt, so wunderbar ausgenüchtert endet das Buch, um der Seele einen neuen Anfang zu ermöglichen.
Sondergericht in Ghom
Für diesen neuen Anfang hat der Autor einen in seiner Wahrnehmung hohen Preis entrichtet: die Kinder, die nach der Scheidung von seiner im revolutionsreligiösen System verfangenen Frau - die er vor der Hochzeit nur verschleiert sah - von ihm getrennt leben und die er nach seiner Übersiedlung in den Westen in Iran zurückläßt. "Die Kinder waren meine einzige Freude, an die sich meine ganze Hoffnung klammerte", heißt es in kindlicher Poesie. "Ihr Glanz wärmt mich heute noch, und ihre Namen bleiben mein einziges Gebet. Es gab selten eine Zeit, in der ich an diesen Verlust nicht gedacht hätte."
Es ist letztlich unerheblich, in welchem Grad der Autor hinter diesem Dokument augenscheinlicher désinvolture sich stilisiert und Lebensgeschichte nicht nur getreulich aufschreibt, sondern natürlich auch interessengebunden umschreibt. Man kann das wegen Mangel an Vergleichsquellen schlicht nicht nachvollziehen und überprüfen. Doch so oder so hält man ein ungemein eindrucksvolles Lebenszeugnis in Händen, frappierend unwestlich im völligen Fehlen von psychologischer Spekulation und ironischen Puffern. Man hat den Eindruck, jeweils unvermittelt in die Situation gestellt zu werden, mit durchweg eher unterbestimmtem Deutungsaufwand, was dem ganzen Buch in all seinen Abschweifungen und Unaufgeregtheiten etwas Atemberaubendes gibt.
Der ungeduldige Leser, der sich unter dem Eindruck der iranischen Wahlergebnisse vom Wochenende von einem Insider noch einmal in die Zeit um 1979 hineinversetzen lassen möchte, sollte als erstes das Kapitel "Der Buchhändler" lesen. Er stößt dort auf Passagen wie diese, die zugleich die Entfremdung der Autors von seinem Mullah-Dasein erklären sollen: "Die neuen Machthaber machten keinen Unterschied bei der Verfolgung ihrer Ziele zwischen Freund und Feind und vernichteten ausnahmslos jeden, der ihnen im Weg stand. Auch daran hatte man gedacht: Die Mullahs richteten für ihre Kollegen ein Sondergericht in Ghom ein mit der Aufgabe, die Geistlichkeit zu ,reinigen'. Eine merkwürdige Idee, ein Geistlicher, der der Reinigung bedarf! Ja, der Säuberungsprozeß war - wie in allen Diktaturen - ein Zauberakt, den Freund vom Feind zu unterscheiden. In der Öffentlichkeit hielt man sich zurück, aber im privaten Kreis kam die Frage auf, wie es möglich sei, daß Geistliche, die eine unbeabsichtigte Verletzung einer Ameise als Sünde oder zumindest als unmoralische Handlung bewerteten, erbarmungslos Menschen vernichten konnten." Des Mullahs Worte im Ohr der neuen Fundamentalisten-Regierung.
CHRISTIAN GEYER
Reza Hajatpour: "Der brennende Geschmack der Freiheit". Mein Leben als junger Mullah im Iran. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 228 S., br., 10,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Beeindruckt zeigt sich Katajun Amirpur von Reza Hajatpours Bericht über sein Leben als Mullah im Iran und die ersten Jahre nach der iranischen Revolution von 1979. Interessant findet sie die "vielen Details", die hier über die ungewöhnliche Ausbildung zum Mullah zu erfahren sind. Allerdings hält Hajatpours anfängliche Begeisterung für seine Berufswahl nicht lange an. Amirpur berichtet von den Zweifeln, die Hajatpour zunehmend befallen: Zweifel an der Festigkeit seines Glaubens, der Religion an sich und vor allem an der Integrität seines Berufsstandes. So geht Hajatpour schließlich nach Deutschland, wo er heute an der Universität Bamberg Islamwissenschaften lehrt. Das Buch findet Amirpur überaus "spannend", gerade für ein deutsches Publikum. Umso mehr ärgert sie die mangelhafte Qualität des Lektorats.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Es gibt vermutlich keinen Bericht, der genauer von innen, aus der autobiographischen Perspektive darüber Auskunft gibt, was Fundamentalismus ist - jene oft als Schlagwort gebrauchte Vokabel, die in diesem Buch kein einziges Mal verwendet, in ihrer Bedeutung aber auf jeder Seite erhellt wird.« Frankfurter Allgemeine Zeitung