Albrecht Schöne widmet sich in diesem Buch einem hochbedeutenden Bereich unserer Literatur, der durch die digitale Revolution untergegangen ist: der europäischen Briefkultur, auf deren Höhepunkt Goethes Briefwerk entstand. In neun exemplarischen Fallstudien - beginnend mit dem ersten Schreiben des 14-Jährigen und endend mit dem Brief des 82-Jährigen wenige Tage vor seinem Tod - erschließt er diese Briefe nicht nur als biographische Zeugnisse, sondern zugleich als sprachliche Kunstwerke. Voller Entdeckungen, frei von Wissenschaftsjargon, glänzend geschrieben und spannend zu lesen, wendet sich das Werk an alle, die sich für Goethe, für Literatur und Sprache oder überhaupt für das Briefschreiben interessieren.
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"In diesem reichhaltigen, ausführlichen Band entsteht ein differenziertes Porträt des sehr bekannten Briefschreibers aus Weimar, das fachwissenschaftlich anspruchsvoll ausgearbeitet ist und einen verlässlichen Einblick in Goethes Korrespondenzen bietet. Der Name Albrecht Schöne bürgt in der Literaturwissenschaft für Kenntnisreichtum, Qualität und auch stilistische Souveränität. Der alte Goethe hätte mutmaßlich nicht widersprochen."
literaturkritik.de, Thorsten Paprotny
"Eine einleuchtendere Goethe-Biografie als diese hier, die gar keine sein will, gibt es nicht."
Elisabeth von Thadden, DIE ZEIT
"Aus diesen brillanten Fallstudien treten Goethes Leben, die Kunst des Briefeschreibens und schließlich das Bild einer Epoche hervor."
Jeremy Adler, Neue Zürcher Zeitung
"Ein Buch, das so spannend ist, dass man es nur ganz langsam lesen mag, um es zu genießen."
Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung
literaturkritik.de, Thorsten Paprotny
"Eine einleuchtendere Goethe-Biografie als diese hier, die gar keine sein will, gibt es nicht."
Elisabeth von Thadden, DIE ZEIT
"Aus diesen brillanten Fallstudien treten Goethes Leben, die Kunst des Briefeschreibens und schließlich das Bild einer Epoche hervor."
Jeremy Adler, Neue Zürcher Zeitung
"Ein Buch, das so spannend ist, dass man es nur ganz langsam lesen mag, um es zu genießen."
Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensent Harro Zimmermann verneigt sich tief vor Albrecht Schöne und seinem neuesten Beitrag zur Goethe-Forschung. Ein Altmeister, ein Doyen der Germanistik sei hier am Werk, und "Der Briefeschreiber Goethe" einem jeden ans Herz gelegt, huldigt der Rezensent. Goethe war zeitlebens ein "emsiger Kommunikator in Schrift und Rede", das wusste Zimmermann schon zuvor, aber wie dicht die Briefe mit poetischen, philosophischen und politischen Überlegungen durchwoben waren, darüber konnte der Rezensent viel von Schöne lernen. Beim Briefeschreiben war Goethe um "radikale Selbstvergegenwärtigung" bemüht, er setzte Ausrufe ein, sparte aus, erfand Widerworte und Kommentare des Adressaten, inszenierte die Schreibsituation und versuchte alles in allem die authentische und innige Gesprächssituation mit Freunden und Vertrauten auch im Geschriebenen herzustellen, erklärt Zimmermann. Dabei unterlagen schon die Personalpronomina äußerster Reflexion, staunt der Rezensent, sei es nun das "seelenverbindende 'Du'" oder das "freundschaftliche 'Sie'".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.03.2015Der Roman
seines Lebens
Albrecht Schöne entdeckt Goethes Briefe
als Hauptwerk des Dichters
VON GUSTAV SEIBT
Sogar die Kaiserin wurde überwacht. Wenn Maria Ludovica von Österreich, die dritte, erst 23 Jahre alte Frau von Franz II., ohne Gemahl Ferien machte, dann landeten Tag für Tag Berichte aus Karlsbad oder Teplitz auf dem Wiener Schreibtisch des fast dreißig Jahre älteren Monarchen. Kundige Berichte übrigens, denn die Polizeioffiziere wussten um die Berühmtheit des „Autors Goethe“, der zum Umgang der lebenslustigen Kaiserin zählte.
Und dieser Überwachung ist wohl der Umstand geschuldet, dass ein Dankschreiben, das Goethe nicht etwa an die Majestät persönlich, sondern nur an ihren Oberhofmeister gerichtet hat, sich weder im Wiener Staatsarchiv noch im Hausarchiv der Grafen von Althann, der Familie des Oberhofmeisters, erhalten hat. Die Kaiserin dürfte es sogleich vernichtet haben.
Was hatte Goethe sich in dem für heutige Augen fast übertrieben höfischen Schreiben herausgenommen? Wenn Albrecht Schöne, der Exeget, recht hat, dann war es etwas, das einem heutigen Leser erst gar nicht auffällt: Goethe hatte „ich“ geschrieben. Nicht etwa, um sich in den Mittelpunkt zu rücken, sondern weil er die grammatische Form einhielt. Er hatte also das Personalpronomen der ersten Person Singular nicht weggelassen, um so ein Höchstmaß an Bescheidenheit und Zurückhaltung zu signalisieren. In seinem allerletzten schriftlichen Zeugnis, dem berühmten Brief an Wilhelm von Humboldt vom 17. März 1832, tat Goethe genau das, er begann ihn mit einem Satz ohne Ich-Subjekt: „Nach einer langen unwillkührlichen Pause beginne folgendermaßen und doch nur aus dem Stegreife.“ Und Humboldt war ein erprobter, seit Jahrzehnten vertrauter Freund!
Nicht so im Brief an Graf Althann vom 23. Januar 1811, von dem wir nur das gründlich redigierte Konzept aus Goethes eigener Registratur besitzen. Dort erscheinen „mir“ und „ich“ und „mich“ schon im ersten Satz. Goethe vertraute darauf, dass der hohe Hofbeamte die „schicklichen Worte“ für die „dankbaren Empfindungen“ finde werde, die der Briefschreiber über diese Zwischenstation an die Stufen des Thrones zu bringen hofft. Das ist der Kontext, in dem es wie ein Gefühlsexzess erscheint, wenn Goethe nicht nur von der „Ehrfurcht“ spricht, die ihm die Kaiserin gebietet, sondern auch von einer „Neigung und Anhänglichkeit, die wir sonst nur für unseres Gleichen empfinden“.
Im System maximaler Standesungleichheit brachte der „berühmte Autor Goethe“ da also nicht nur sein „ich“ ins Spiel, sondern sogar eine Empfindung der Gleichheit, die Liebe herstellt. Es war vielleicht wirklich besser, wenn die Kaiserin das gewiss sehr schön beschriebene Blatt nicht in die Hände des Oberhofmeisters zurückkehren ließ und auch den Augen von Bedienten entzog, die es hätten abschreiben und dem Kaiser vorlegen können. So wird es Ende Januar 1811 in einem Kaminfeuer der Hofburg sein Ende gefunden haben.
Dabei hatte Goethe sich nur für eine kostbare, aber nicht unübliche Gabe bedankt, die ihm für der Kaiserin gewidmete Huldigungsgedichte zuteil wurde, im Sommer davor in Karlsbad im Auftrag der dortigen Bürgerschaft entstanden – edle, aber wenig bedeutende Prunkverse, die dann Anlass zu näherem Umgang mit der Kaiserin boten. Diese schenkte ihm eine Brillantdose mit dem Schriftzug „Luise“, ihrem Namen, nicht als „Ludovica“, nicht als „Louise“, sondern verdeutscht wie in einer volkstümlichen Idylle – ein nun selbst fast exzessiv gefühlvolles Signal, für das die Kaiserin den Anlauf von drei ausgeführten und dann doch verworfenen Entwürfen gebraucht hatte.
Eigentlich nur von zwei Wörtern – „ich“ und „Luise“ – handelt dieser Roman, den das Leben schrieb, und doch erzählt er viel mehr; nicht nur die Episode eines Urlaubsflirts zwischen dem Dichter und der Kaiserin, sondern die große Geschichte von Goethes lebenslangem Aufenthalt in der höfischen Welt. Lesbar wird sie an Briefformeln, bezogen auf Anlässe, vergleichend zu zahllosen anderen Schreiben.
Der Germanist Albrecht Schöne hat nun die vielleicht wichtigste Ernte seines überreichen Gelehrtenlebens eingebracht, jene Deutungen Goethe’scher Briefe, die er seit 1963 Stück für Stück erarbeitet und in langen Intervallen vorgelegt oder vorgetragen hat – der Beitrag zum Brief an den Grafen Althann wird hier zum ersten Mal publiziert.
Sie seien, erklärt der Verfasser nun in der Einleitung, „nicht primär biographisch interessiert“. Schöne will Stoff und Form der Briefe in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit zum Sprechen bringen, durch Philologie und eine „immanente Interpretation“, die aus einem maximal vollständigen Kommentar hervorgeht, also der Ausleuchtung sämtlicher sprachlicher und historischer Umstände.
Und dieses methodisch strenge, fast keusch zu nennende, ebenso gründliche wie unaufdringliche Verfahren führt wunderbarerweise dazu, dass der Leser dem großen und rätselvollen Autor so nah zu kommen meint wie eigentlich in keinem zweiten Goethe-Buch, Thomas Manns Roman „Lotte in Weimar“ nicht ausgenommen. Schönes Untersuchungen sind ein Wunder des Verstehens, nicht durch die Anmaßung einer Einfühlung, die Interpreten und Leser ihrem Gegenstand gleichmacht, sondern durch die schrittweise Überwindung von Distanzen, die dadurch überhaupt erst fühlbar werden.
Nur neun Briefe von fast 15 000 erhaltenen untersucht Schöne mit dieser inständigen Sorgfalt. Dazu kommen allgemeine Bemerkungen zu Postverhältnissen, zu diktierten Briefen (es sind die meisten) und zu den vielfältig wechselnden Anredeprononima, die bei einzelnen wichtigen Personen wie Herzog Carl August, Charlotte von Stein und Schiller zur Geschichte von Goethes Beziehungen zu ihnen über die Jahrzehnte geraten. Welch eine ungeheure Wendung Goethes umstandsloser Übergang zum „Du“ in den Briefen an Zelter bedeutet, das erfährt hier, wer es noch nicht wissen sollte – es ist Goethes Trostwort nach dem Selbstmord von Zelters Stiefsohn, mit dem er, dem Kondolenzen schwer fielen, so viel mehr tat als mit jedem vorstellbaren Beileidsausbruch.
Ein Buch also, das so spannend ist, dass man es nur ganz langsam lesen mag, um es zu genießen. Denn Schöne begreift die Briefe als eigenständige Werkgruppe, die den dichterischen und wissenschaftlichen Werken Goethes ebenbürtig ist – die fünfzigjährige Bemühung Albrecht Schönes, die vom Vorbild der Briefdeutungen in Walther Benjamins Sammlung „Deutsche Menschen“ ausging, hat den Kontinent Goethe neu kartografiert.
Jede der neun „Fallstudien“ fächert ein eigenes Kapitel von Goethes Leben auf: seine Humanität beim Helfen, sein Verhältnis zur Politik, sein Standhalten und Ausweichen vor dem Tod, seine wissenschaftlichen Hoffnungen, seine Beziehungen zur Öffentlichkeit durch Presse und Tratsch, sein Abstandnehmen vom Weltlauf in der letzten Lebenszeit.
Die ersten beiden Kapitel zeigen, wie ein steifes, spätbarockes Jüngelchen, das mit überlieferten Formeln spielt, fast erschrocken die Möglichkeiten sprachlich inszenierter Gefühlsausbrüche entdeckt und so schon mit achtzehn zu dem Autor wird, der sieben Jahre später den „Werther“ aufs Papier wirft.
Einen bis heute rätselhaften Roman der Humanität lässt der Brief an einen unbekannten „Johann Friedrich Krafft“ aufscheinen, das Pseudonym eines ins Unglück geratenen, wohl psychisch leidenden Unbekannten, den Goethe seit 1778 mehrere Jahre lang mit einem Siebtel seines Einkommens unterstützte; aber nicht diese fast kriminalistische Story ist das Thema von Schönes Deutung, sondern die schonende Zartheit, mit der der Verfasser der „Iphigenie“ dem seelisch kranken Mann seine durchaus riskante Hilfe zukommen ließ.
Bisher nur in Kurzform gab es die umfassende Ausleuchtung der für Carl August bestimmten Tischvorlage von 1779 zu erpresserischen preußischen Forderungen, auf Weimarer Gebiet Soldaten zu werben. Schöne führt Goethe als politischen Schachspieler zwischen Großmächten vor und schiebt zugleich Anschuldigungen, Weimar habe sich am Handel mit Soldaten beteiligt, ins Reich des Grotesken.
Ganz neu ist der Bericht über einen nicht abgesandten Wut-Brief Goethes an seinen Verleger Cotta, den Eigentümer der Allgemeinen Zeitung , nachdem das Blatt 1806 hämische Berichte über Goethes Hochzeit nach der Schlacht von Jena und Auerstedt und über eine angebliche Vergewaltigung seiner Schwägerin gebracht hatte. Das Intrigen- und Whistleblower-Stück dahinter, das Schöne als kühler Detektiv enthüllt, zeigt die Weimarer Klassik im Licht einer vollkommen heutig anmutenden Presse-Infamie – eine Pflichtlektüre für Journalistenschulen und Bild -Zeitungsredakteure.
Epoche gemacht haben längst die abschließenden drei Fallstudien zu den Briefen an Zelter über den Tod des Großherzogs Carl August, zur Kondolenz an Moritz Seebeck beim Tod von dessen Vater und zum letzten Brief an Humboldt unmittelbar vor Goethes Tod. Sie verbinden sich zu einer dreisätzigen langsamen Abschiedssymphonie, der man Wort für Wort, Takt für Takt nur mit Staunen und Ehrfurcht lauschen kann. Am Ende schlägt Schöne noch einmal den Bogen zurück zum Anfang: Nie habe Goethe anders als mit seinem Nachnamen oder einem Kürzel unterschrieben, auch nicht in Briefen an Verwandte und engste Freunde.
Schon am 23. Januar 1770 hatte der Zwanzigjährige seiner Leipziger Freundin Käthchen Schönkopf so keck wie sicher erklärt: „Und ich, ich werde Goethe bleiben. Sie wissen, was das heisst. Wenn ich meinen Namen nenne, nenne ich mich ganz.“ Er habe nichts anderes zu tun, heißt es dann 62 Jahre später, fünf Tage vor dem Tod, als „meine Eigenthümlichkeiten zu cohobiren, wie Sie es, würdiger Freund, auf ihrer Burg ja auch bewerkstelligen“. Was ist „cohobiren“? Natürlich erfahren wir es hier: mehrfaches Destillieren, die Verdichtung des Besonderen eines Stoffes, Goethes schöpferische Opposition gegen den Weltlauf, ausgedrückt in einem chemischen Vergleich.
Albrecht Schöne: Der Briefschreiber Goethe. Verlag C. H. Beck, München 2015. 539 S., 29,95 Euro.
Der Germanist Schöne
bringt hier die Ernte seines
Gelehrtenlebens ein
Die letzten Briefe bilden
Goethes Abschiedssymphonie
in drei Sätzen
„Wenn ich meinen Name nenne, nenne ich mich ganz“, das war
Goethes Maxime – hier dargestellt mit seinem Sekretär Eckermann nach einem Gemälde von
Johann Joseph Schmeller, 1831. Foto: Sammlung Megele/Süddeutsche Zeitung Photo
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seines Lebens
Albrecht Schöne entdeckt Goethes Briefe
als Hauptwerk des Dichters
VON GUSTAV SEIBT
Sogar die Kaiserin wurde überwacht. Wenn Maria Ludovica von Österreich, die dritte, erst 23 Jahre alte Frau von Franz II., ohne Gemahl Ferien machte, dann landeten Tag für Tag Berichte aus Karlsbad oder Teplitz auf dem Wiener Schreibtisch des fast dreißig Jahre älteren Monarchen. Kundige Berichte übrigens, denn die Polizeioffiziere wussten um die Berühmtheit des „Autors Goethe“, der zum Umgang der lebenslustigen Kaiserin zählte.
Und dieser Überwachung ist wohl der Umstand geschuldet, dass ein Dankschreiben, das Goethe nicht etwa an die Majestät persönlich, sondern nur an ihren Oberhofmeister gerichtet hat, sich weder im Wiener Staatsarchiv noch im Hausarchiv der Grafen von Althann, der Familie des Oberhofmeisters, erhalten hat. Die Kaiserin dürfte es sogleich vernichtet haben.
Was hatte Goethe sich in dem für heutige Augen fast übertrieben höfischen Schreiben herausgenommen? Wenn Albrecht Schöne, der Exeget, recht hat, dann war es etwas, das einem heutigen Leser erst gar nicht auffällt: Goethe hatte „ich“ geschrieben. Nicht etwa, um sich in den Mittelpunkt zu rücken, sondern weil er die grammatische Form einhielt. Er hatte also das Personalpronomen der ersten Person Singular nicht weggelassen, um so ein Höchstmaß an Bescheidenheit und Zurückhaltung zu signalisieren. In seinem allerletzten schriftlichen Zeugnis, dem berühmten Brief an Wilhelm von Humboldt vom 17. März 1832, tat Goethe genau das, er begann ihn mit einem Satz ohne Ich-Subjekt: „Nach einer langen unwillkührlichen Pause beginne folgendermaßen und doch nur aus dem Stegreife.“ Und Humboldt war ein erprobter, seit Jahrzehnten vertrauter Freund!
Nicht so im Brief an Graf Althann vom 23. Januar 1811, von dem wir nur das gründlich redigierte Konzept aus Goethes eigener Registratur besitzen. Dort erscheinen „mir“ und „ich“ und „mich“ schon im ersten Satz. Goethe vertraute darauf, dass der hohe Hofbeamte die „schicklichen Worte“ für die „dankbaren Empfindungen“ finde werde, die der Briefschreiber über diese Zwischenstation an die Stufen des Thrones zu bringen hofft. Das ist der Kontext, in dem es wie ein Gefühlsexzess erscheint, wenn Goethe nicht nur von der „Ehrfurcht“ spricht, die ihm die Kaiserin gebietet, sondern auch von einer „Neigung und Anhänglichkeit, die wir sonst nur für unseres Gleichen empfinden“.
Im System maximaler Standesungleichheit brachte der „berühmte Autor Goethe“ da also nicht nur sein „ich“ ins Spiel, sondern sogar eine Empfindung der Gleichheit, die Liebe herstellt. Es war vielleicht wirklich besser, wenn die Kaiserin das gewiss sehr schön beschriebene Blatt nicht in die Hände des Oberhofmeisters zurückkehren ließ und auch den Augen von Bedienten entzog, die es hätten abschreiben und dem Kaiser vorlegen können. So wird es Ende Januar 1811 in einem Kaminfeuer der Hofburg sein Ende gefunden haben.
Dabei hatte Goethe sich nur für eine kostbare, aber nicht unübliche Gabe bedankt, die ihm für der Kaiserin gewidmete Huldigungsgedichte zuteil wurde, im Sommer davor in Karlsbad im Auftrag der dortigen Bürgerschaft entstanden – edle, aber wenig bedeutende Prunkverse, die dann Anlass zu näherem Umgang mit der Kaiserin boten. Diese schenkte ihm eine Brillantdose mit dem Schriftzug „Luise“, ihrem Namen, nicht als „Ludovica“, nicht als „Louise“, sondern verdeutscht wie in einer volkstümlichen Idylle – ein nun selbst fast exzessiv gefühlvolles Signal, für das die Kaiserin den Anlauf von drei ausgeführten und dann doch verworfenen Entwürfen gebraucht hatte.
Eigentlich nur von zwei Wörtern – „ich“ und „Luise“ – handelt dieser Roman, den das Leben schrieb, und doch erzählt er viel mehr; nicht nur die Episode eines Urlaubsflirts zwischen dem Dichter und der Kaiserin, sondern die große Geschichte von Goethes lebenslangem Aufenthalt in der höfischen Welt. Lesbar wird sie an Briefformeln, bezogen auf Anlässe, vergleichend zu zahllosen anderen Schreiben.
Der Germanist Albrecht Schöne hat nun die vielleicht wichtigste Ernte seines überreichen Gelehrtenlebens eingebracht, jene Deutungen Goethe’scher Briefe, die er seit 1963 Stück für Stück erarbeitet und in langen Intervallen vorgelegt oder vorgetragen hat – der Beitrag zum Brief an den Grafen Althann wird hier zum ersten Mal publiziert.
Sie seien, erklärt der Verfasser nun in der Einleitung, „nicht primär biographisch interessiert“. Schöne will Stoff und Form der Briefe in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit zum Sprechen bringen, durch Philologie und eine „immanente Interpretation“, die aus einem maximal vollständigen Kommentar hervorgeht, also der Ausleuchtung sämtlicher sprachlicher und historischer Umstände.
Und dieses methodisch strenge, fast keusch zu nennende, ebenso gründliche wie unaufdringliche Verfahren führt wunderbarerweise dazu, dass der Leser dem großen und rätselvollen Autor so nah zu kommen meint wie eigentlich in keinem zweiten Goethe-Buch, Thomas Manns Roman „Lotte in Weimar“ nicht ausgenommen. Schönes Untersuchungen sind ein Wunder des Verstehens, nicht durch die Anmaßung einer Einfühlung, die Interpreten und Leser ihrem Gegenstand gleichmacht, sondern durch die schrittweise Überwindung von Distanzen, die dadurch überhaupt erst fühlbar werden.
Nur neun Briefe von fast 15 000 erhaltenen untersucht Schöne mit dieser inständigen Sorgfalt. Dazu kommen allgemeine Bemerkungen zu Postverhältnissen, zu diktierten Briefen (es sind die meisten) und zu den vielfältig wechselnden Anredeprononima, die bei einzelnen wichtigen Personen wie Herzog Carl August, Charlotte von Stein und Schiller zur Geschichte von Goethes Beziehungen zu ihnen über die Jahrzehnte geraten. Welch eine ungeheure Wendung Goethes umstandsloser Übergang zum „Du“ in den Briefen an Zelter bedeutet, das erfährt hier, wer es noch nicht wissen sollte – es ist Goethes Trostwort nach dem Selbstmord von Zelters Stiefsohn, mit dem er, dem Kondolenzen schwer fielen, so viel mehr tat als mit jedem vorstellbaren Beileidsausbruch.
Ein Buch also, das so spannend ist, dass man es nur ganz langsam lesen mag, um es zu genießen. Denn Schöne begreift die Briefe als eigenständige Werkgruppe, die den dichterischen und wissenschaftlichen Werken Goethes ebenbürtig ist – die fünfzigjährige Bemühung Albrecht Schönes, die vom Vorbild der Briefdeutungen in Walther Benjamins Sammlung „Deutsche Menschen“ ausging, hat den Kontinent Goethe neu kartografiert.
Jede der neun „Fallstudien“ fächert ein eigenes Kapitel von Goethes Leben auf: seine Humanität beim Helfen, sein Verhältnis zur Politik, sein Standhalten und Ausweichen vor dem Tod, seine wissenschaftlichen Hoffnungen, seine Beziehungen zur Öffentlichkeit durch Presse und Tratsch, sein Abstandnehmen vom Weltlauf in der letzten Lebenszeit.
Die ersten beiden Kapitel zeigen, wie ein steifes, spätbarockes Jüngelchen, das mit überlieferten Formeln spielt, fast erschrocken die Möglichkeiten sprachlich inszenierter Gefühlsausbrüche entdeckt und so schon mit achtzehn zu dem Autor wird, der sieben Jahre später den „Werther“ aufs Papier wirft.
Einen bis heute rätselhaften Roman der Humanität lässt der Brief an einen unbekannten „Johann Friedrich Krafft“ aufscheinen, das Pseudonym eines ins Unglück geratenen, wohl psychisch leidenden Unbekannten, den Goethe seit 1778 mehrere Jahre lang mit einem Siebtel seines Einkommens unterstützte; aber nicht diese fast kriminalistische Story ist das Thema von Schönes Deutung, sondern die schonende Zartheit, mit der der Verfasser der „Iphigenie“ dem seelisch kranken Mann seine durchaus riskante Hilfe zukommen ließ.
Bisher nur in Kurzform gab es die umfassende Ausleuchtung der für Carl August bestimmten Tischvorlage von 1779 zu erpresserischen preußischen Forderungen, auf Weimarer Gebiet Soldaten zu werben. Schöne führt Goethe als politischen Schachspieler zwischen Großmächten vor und schiebt zugleich Anschuldigungen, Weimar habe sich am Handel mit Soldaten beteiligt, ins Reich des Grotesken.
Ganz neu ist der Bericht über einen nicht abgesandten Wut-Brief Goethes an seinen Verleger Cotta, den Eigentümer der Allgemeinen Zeitung , nachdem das Blatt 1806 hämische Berichte über Goethes Hochzeit nach der Schlacht von Jena und Auerstedt und über eine angebliche Vergewaltigung seiner Schwägerin gebracht hatte. Das Intrigen- und Whistleblower-Stück dahinter, das Schöne als kühler Detektiv enthüllt, zeigt die Weimarer Klassik im Licht einer vollkommen heutig anmutenden Presse-Infamie – eine Pflichtlektüre für Journalistenschulen und Bild -Zeitungsredakteure.
Epoche gemacht haben längst die abschließenden drei Fallstudien zu den Briefen an Zelter über den Tod des Großherzogs Carl August, zur Kondolenz an Moritz Seebeck beim Tod von dessen Vater und zum letzten Brief an Humboldt unmittelbar vor Goethes Tod. Sie verbinden sich zu einer dreisätzigen langsamen Abschiedssymphonie, der man Wort für Wort, Takt für Takt nur mit Staunen und Ehrfurcht lauschen kann. Am Ende schlägt Schöne noch einmal den Bogen zurück zum Anfang: Nie habe Goethe anders als mit seinem Nachnamen oder einem Kürzel unterschrieben, auch nicht in Briefen an Verwandte und engste Freunde.
Schon am 23. Januar 1770 hatte der Zwanzigjährige seiner Leipziger Freundin Käthchen Schönkopf so keck wie sicher erklärt: „Und ich, ich werde Goethe bleiben. Sie wissen, was das heisst. Wenn ich meinen Namen nenne, nenne ich mich ganz.“ Er habe nichts anderes zu tun, heißt es dann 62 Jahre später, fünf Tage vor dem Tod, als „meine Eigenthümlichkeiten zu cohobiren, wie Sie es, würdiger Freund, auf ihrer Burg ja auch bewerkstelligen“. Was ist „cohobiren“? Natürlich erfahren wir es hier: mehrfaches Destillieren, die Verdichtung des Besonderen eines Stoffes, Goethes schöpferische Opposition gegen den Weltlauf, ausgedrückt in einem chemischen Vergleich.
Albrecht Schöne: Der Briefschreiber Goethe. Verlag C. H. Beck, München 2015. 539 S., 29,95 Euro.
Der Germanist Schöne
bringt hier die Ernte seines
Gelehrtenlebens ein
Die letzten Briefe bilden
Goethes Abschiedssymphonie
in drei Sätzen
„Wenn ich meinen Name nenne, nenne ich mich ganz“, das war
Goethes Maxime – hier dargestellt mit seinem Sekretär Eckermann nach einem Gemälde von
Johann Joseph Schmeller, 1831. Foto: Sammlung Megele/Süddeutsche Zeitung Photo
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