Mit dieser Ausgabe wird die Korrespondenz zwischen dem Dichter Rainer Maria Rilke und dem Bildhauer Auguste Rodin erstmals und, soweit überliefert, erstmals vollständig in deutscher Sprache vorgestellt. Die Briefe werden ergänzt durch Tagebuchnotizen und eine Vielzahl von Äußerungen des Dichters über Rodin sowie durch Augenzeugenberichte Dritter. Rätus Luck legt damit über die Dokumentation der wechselvollen Verbindung zwischen zwei großen Künstlern hinaus so etwas wie ein - nach Rodin Monographie und Rodin-Vortrag - drittes Rodin-Buch Rilkes vor: Es zeigt den unmittelbaren Eindruck, den die Persön lichkeit des Bildhauers beim jungen Rilke hinterließ, und zeichnet dabei zugleich den Verlauf der Rodin-Rezeption am Beginn des 20. Jahrhunderts nach, zu der Namen wie Anne de Noailles, Rudolf Kassner, Harry Graf Kessler, Sidonie Nádherný von Borutin, Emile Verhaeren oder Helene von Nostitz gehören.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.08.2001Die Liebe zum Toben der Alten
Rainer Maria Rilke und Auguste Rodin: Die Dokumente einer großen, wunderlichen Begegnung
Auf einer der fünf, sechs Fotografien, die es von Rainer Maria Rilke und Auguste Rodin gibt, sieht man die beiden nebeneinander stehen, in Wintermänteln, die Hände in den Taschen, vor dem berühmten Ateliergebäude in Meudon bei Paris. Der schwere Bildhauer, zur Zeit der Aufnahme fast fünfundsechzig Jahre alt, blinzelt mit halb geschlossenen Lidern in die Kamera, er schiebt den Mantel mit den Fäusten dem Betrachter entgegen, den linken Fuß hat er einen halben Schritt nach vorn gesetzt. Nichts scheint diesen Mann aus der Fassung bringen zu können. Links neben ihm steht der dünne, gerade dreißigjährige Rilke, und obwohl er kaum einen halben Kopf größer ist als Rodin, scheint er einen dünnen Bogen um seinen Nachbarn schlagen zu wollen: Die Füße sind hinter einem Stein verborgen, die leicht vorquellenden Augen sind weit geöffnet, der Oberkörper ist schräg in Richtung des „Meisters” geschoben – und wo dieser einen selbstgewissen Zylinder trägt, ziert den Kopf des Dichters ein weicher Hut mit einer Krempe, die sich dem Ofenrohr nebenan gar noch entgegenwölbt. So genau ist das Verhältnis zwischen diesen beiden auf der Fotografie festgehalten, dass es allein ausreicht, um jede Spekulation über diese wunderliche Freundschaft auf den rechten Weg zu bringen: der junge Poet und der alte Bildhauer, das nervös flatternde Hemd neben dem dreiteilig schweren Anzug, eine aufgeregte Bachstelze neben einem alten Erpel.
Die Bekanntschaft beginnt mit einer schriftlichen Bitte Rilkes im Juni 1902. Sie erlebt ihren Höhepunkt in eben jenem Winter, als der Dichter zum Sekretär des „Meisters” wird und sich die beiden miteinander fotografieren lassen. Sie endet – schmählich, wie man sagen muss – im Frühjahr 1913 wiederum mit einer schriftlichen Bitte, als sich der alte Erpel von seiner ruppigen Seite zeigt und die Bachstelze meint, das Ganze sei doch eher „unfroh und unfruchtbar” gewesen.
Die nachträgliche Enttäuschung ist indessen der Geschichte nicht angemessen. Tatsächlich begegnen sich hier zwei der wichtigsten Künstler des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, und sie tun es auf eine Weise, die schlagend erkennen lässt, wie es um die europäische Kunst stand, als ihr alles Material zu leicht geworden und die Freiheit der großen Abstraktion noch nicht erfunden war. Und wenn es sich auch mit gutem Grund sagen lässt, dass Rodin sich von dieser Bekanntschaft kaum mehr beeinflusst wird als ein Erpel von einem Wassertropfen auf seinem Federkleid, so gilt das Gleiche nicht für Rilke. Denn den jungen Dichter hatte es mit „Nothwendigkeit” zu Rodin getrieben, und er verändert sich durch diesen Umgang mehr, als er es sich selbst am Ende eingestehen will.
Vor kurzem sind die schriftlichen Zeugnisse dieser großen Bekanntschaft erschienen: zum ersten Mal vollständig und zum ersten Mal auf deutsch. Im Titel ist lakonisch von einem „Briefwechsel” die Rede, aber Rätus Luck, der Herausgeber, hat sehr viel mehr getan, als den französischen Editionen von 1928 und 1931 sowie der ersten deutschen Übersetzung von Oswalt von Nostitz aus dem Jahr 1955 die Briefe Rodins hinzuzufügen und das Konvolut neu herauszubringen. Nach dem Vorbild des Bandes zu Rilkes Freundschaft mit Rudolf Kassner („Freunde im Gespräch”, Insel Verlag, Frankfurt am Main 1997) hat Rätus Luck weitere Materialien zu Rilkes Begegnung mit Rodin zusammengetragen, Briefe an seine Frau Clara Rilke-Westhoff oder Marie von Thurn und Taxis, Notizen von Harry Graf Kessler oder Mitteilungen von Stefan Zweig an Romain Rolland. Erst in den Kommentaren zum eigentlichen Geschehen rundet sich das Bild dieser großen und wahrhaft grenzüberschreitenden Bekanntschaft. Aus dieser Erweiterung des Briefwechsels ist ein Band entstanden, der zu den wichtigen Dokumenten der europäischen Kunst vor dem Ersten Weltkrieg zählen muss.
Über Rilkes Bekanntschaft mit Rodin gibt es einige berühmte Sätze, die Stefan Zweig 1927, zwei Monate nach dem Tod des Dichters, in seiner Gedächtnisrede im Staatstheater München spricht. Rilke sei von einer „Schickung” nach Paris „getrieben” worden, heißt es darin: „Dort sah er den Meister, den alten, mit seiner abteilenden Kraft, und es reizte ihn mächtig, wie er zu sein und seinerseits im lyrischen Raum ebenso streng und abschließend wie jener im Plastischen irdische Bildnisse zu formen, im gläsern gewichtlosen Element des Verses die Härte des Umrisses zu erzwingen wie jener in marmorn wuchtender Materie des erdgebundenen Steins.” Veröffentlicht hatte Rilke 1902 gerade das „Buch der Bilder” in der ersten Fassung, geschrieben war vor allem der größte Teil des „Stunden-Buchs” mit seinen Huldigungen an den göttlichen Urgrund allen Lebens: „Ich finde dich in allen diesen Dingen, / denen ich gut und wie ein Bruder bin; / als Samen sonnst du dich in den geringen / und in den großen giebst du groß dich hin.” Das wirkt tief, ist aber in Wirklichkeit leicht. Ein Virtuose der Dichtkunst ist hier am Werk, ein Jongleur des dreifachen, vierfachen, fünffachen Reims, einer, der sich auf seinen Versfüßen bewegt, als verdanke er sein Enjambement dem russischen Ballett. Rilke gehört nicht mehr ins neunzehnte Jahrhundert, und wenn er die romantische Lyrik mit ihren eigenen Mitteln zu überbieten trachtet, dann vor allem, weil er ihrer Wirkung schon misstraut.
Rudolf Kassner berichtet von seinem Freund, dieser habe die „Alten und Väter” gesucht: „Rilke hörte auf sie, erschrocken und doch auch froh darüber, daß es das noch gab: solche schreiende, tobende Alten und Großen ...” In Auguste Rodin trifft er auf einen solchen „Meister” des Widerständigen: Einen Künstler, der nicht in Luft und Federstrichen arbeitet, sondern in den härtesten Dingen, in Bronze und Stein. Die Art der Arbeit scheint sich zudem auf den Menschen übertragen zu haben. Wenn Rilke von seinem Idol berichtet, dann schildert er ihn als Urgestalt, als Propheten, als Künder von elementaren Weisheiten: „Oui, il faut travailler, rien que travailler.” – „Ja, man muss arbeiten, nichts als arbeiten.” Die Grenze zwischen einer solchen Weisheit und einem Gemeinplatz ist freilich schmal, aber das bemerkt Rilke erst Jahre später.
Was Rilke zu Rodin „treibt”, ist das Bedürfnis nach Erschwernis. Er will den „Hammer” der Poesie finden, und dieses Motiv zieht sich durch seine Pariser Unternehmungen, bis hinein in die sonderbare Anstellung als „Privatsekretär”, die Rilke im Herbst 1905 bei Rodin findet – und diese kommt nicht nur zu Stande, weil Rilke wie stets kein Geld hat, sondern ist in Wahrheit eine Lehre. Und Rilke macht seinem „Meister” nützlich, bei weitem nicht nur als Schreiber, sondern auch als Agent, als Sprachrohr, „Türwächter”, und halb offizieller Interpret. Sieben Monate dauert es, bis dieses Durcheinander der Funktionen, diese Unklarheit in der Hierarchie zu einer schweren Belastung wird und sich Rodin darauf besinnt, ein ganz gewöhnlicher Arbeitgeber zu sein. Danach gibt es eine Quittung über 682,50 Francs, „zur Begleichung aller Forderungen”. Rilke lässt sich den Bart abnehmen.
Aber bis dahin dröhnt es fort, das sich scheinbar endlos fortsetzende Gerede von gottgleicher Größe, von letzter Hingabe und äußerster Bewunderung: „Und wenn dieses Werk, so groß, so gerecht, für mich ein Ereignis geworden ist, von dem ich nur mit vor Erschrecken und Verehrung zitternder Stimme werde erzählen können, so ist auch, wie sie selbst – ein Beispiel, das meinem Leben, meiner Kunst gegeben ist, allem, was an Reinstem auf dem Grund meiner Seele vorhanden ist.” So spricht die Zeit, möchte man dazu sagen, aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Denn so spricht ganz besonders Rilke: Die großen Formeln rauschen aus ihm heraus, sie haben etwas Haltloses, Beliebiges und wie absichtlich Ungefähres. Mit großem Aufwand rotiert hier eine Bedeutsamkeitsmaschine.
Es dauert eine Weile, bis dieser Lärm selbst dem Erfinder der Metaphernschleuder auf die Nerven geht, und die Übergänge sind fließend. Spätestens nach einem Vierteljahr Briefeschreiben für Rodin, also etwa um Weihnachten 1905, ist zum ersten Mal bemerken, dass der hohe Ton der Weihe auf einen mittleren Ton des Respekts gesunken ist. Es wird nun durch Kollegialität, manchmal sogar durch etwas Freundschaftliches getragen, das verstärkt wiederkehrt, als Rodin zwischen 1908 und 1910 eine Reihe von Sälen im Hotel Biron mietet, in dem auch Rilke arbeitet. Da aber hatte Rilke die Vorzüge des prosaischen Tons längst für die Lyrik entdeckt – der „Cornet” und die „Neuen Gedichte” waren erschienen, vor allem auch die „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge”, und die großen Gesten des Überschwangs waren einer zunehmenden Nüchternheit, Welthaltigkeit gewichen.
Als Rainer Maria Rilke zum ersten Mal zu Rodin reist, beherrscht er das Französische nicht vollkommen. Zwar nimmt er noch Unterricht an der „Berlitz-School” in Bremen, aber er kennt weder das Imperfektum in konditionalen Nebensätzen noch den Relativsatz ohne Komma. Durch seine Briefe – und später: durch seine Erinnerungen an die Zeit mit Rodin - ziehen sich die Geständnisse, sich damals auf französisch nur mangelhaft ausgedrückt zu haben. Aber es ging, und es ging ganz wunderbar, genauso leicht, wie es aus der Dichtung in die bildende Kunst und zurück ging oder von Worpswede über Capri nach Paris. Eine zivile Welt tut sich in diesem Briefwechsel aus den Tagen vor dem Weltkrieg auf, ein Europa, das offenbar größer und freier ist als alles, was ein neues, einiges und unendlich mobileres Europa heute zu Stande zu bringen vermag. Denn Bachstelzen sind Zugvögel, und alte Erpel sind es manchmal auch.
THOMAS STEINFELD
RÄTUS LUCK (Hrsg.): Rainer Maria Rilke. Auguste Rodin. Der Briefwechsel und andere Dokumente der Begegnung mit Rodin. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2001. 426Seiten,64Mark.
Die Urgestalt im Urgestein: Auguste Rodin zwischen seinen Gipsen im Atelier. Die Fotografie entstand 1902, im selben Jahr, in dem ihn Rainer Maria Rilke zum ersten Mal aufsuchte.
Foto Musée Rodin, Paris
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Rainer Maria Rilke und Auguste Rodin: Die Dokumente einer großen, wunderlichen Begegnung
Auf einer der fünf, sechs Fotografien, die es von Rainer Maria Rilke und Auguste Rodin gibt, sieht man die beiden nebeneinander stehen, in Wintermänteln, die Hände in den Taschen, vor dem berühmten Ateliergebäude in Meudon bei Paris. Der schwere Bildhauer, zur Zeit der Aufnahme fast fünfundsechzig Jahre alt, blinzelt mit halb geschlossenen Lidern in die Kamera, er schiebt den Mantel mit den Fäusten dem Betrachter entgegen, den linken Fuß hat er einen halben Schritt nach vorn gesetzt. Nichts scheint diesen Mann aus der Fassung bringen zu können. Links neben ihm steht der dünne, gerade dreißigjährige Rilke, und obwohl er kaum einen halben Kopf größer ist als Rodin, scheint er einen dünnen Bogen um seinen Nachbarn schlagen zu wollen: Die Füße sind hinter einem Stein verborgen, die leicht vorquellenden Augen sind weit geöffnet, der Oberkörper ist schräg in Richtung des „Meisters” geschoben – und wo dieser einen selbstgewissen Zylinder trägt, ziert den Kopf des Dichters ein weicher Hut mit einer Krempe, die sich dem Ofenrohr nebenan gar noch entgegenwölbt. So genau ist das Verhältnis zwischen diesen beiden auf der Fotografie festgehalten, dass es allein ausreicht, um jede Spekulation über diese wunderliche Freundschaft auf den rechten Weg zu bringen: der junge Poet und der alte Bildhauer, das nervös flatternde Hemd neben dem dreiteilig schweren Anzug, eine aufgeregte Bachstelze neben einem alten Erpel.
Die Bekanntschaft beginnt mit einer schriftlichen Bitte Rilkes im Juni 1902. Sie erlebt ihren Höhepunkt in eben jenem Winter, als der Dichter zum Sekretär des „Meisters” wird und sich die beiden miteinander fotografieren lassen. Sie endet – schmählich, wie man sagen muss – im Frühjahr 1913 wiederum mit einer schriftlichen Bitte, als sich der alte Erpel von seiner ruppigen Seite zeigt und die Bachstelze meint, das Ganze sei doch eher „unfroh und unfruchtbar” gewesen.
Die nachträgliche Enttäuschung ist indessen der Geschichte nicht angemessen. Tatsächlich begegnen sich hier zwei der wichtigsten Künstler des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, und sie tun es auf eine Weise, die schlagend erkennen lässt, wie es um die europäische Kunst stand, als ihr alles Material zu leicht geworden und die Freiheit der großen Abstraktion noch nicht erfunden war. Und wenn es sich auch mit gutem Grund sagen lässt, dass Rodin sich von dieser Bekanntschaft kaum mehr beeinflusst wird als ein Erpel von einem Wassertropfen auf seinem Federkleid, so gilt das Gleiche nicht für Rilke. Denn den jungen Dichter hatte es mit „Nothwendigkeit” zu Rodin getrieben, und er verändert sich durch diesen Umgang mehr, als er es sich selbst am Ende eingestehen will.
Vor kurzem sind die schriftlichen Zeugnisse dieser großen Bekanntschaft erschienen: zum ersten Mal vollständig und zum ersten Mal auf deutsch. Im Titel ist lakonisch von einem „Briefwechsel” die Rede, aber Rätus Luck, der Herausgeber, hat sehr viel mehr getan, als den französischen Editionen von 1928 und 1931 sowie der ersten deutschen Übersetzung von Oswalt von Nostitz aus dem Jahr 1955 die Briefe Rodins hinzuzufügen und das Konvolut neu herauszubringen. Nach dem Vorbild des Bandes zu Rilkes Freundschaft mit Rudolf Kassner („Freunde im Gespräch”, Insel Verlag, Frankfurt am Main 1997) hat Rätus Luck weitere Materialien zu Rilkes Begegnung mit Rodin zusammengetragen, Briefe an seine Frau Clara Rilke-Westhoff oder Marie von Thurn und Taxis, Notizen von Harry Graf Kessler oder Mitteilungen von Stefan Zweig an Romain Rolland. Erst in den Kommentaren zum eigentlichen Geschehen rundet sich das Bild dieser großen und wahrhaft grenzüberschreitenden Bekanntschaft. Aus dieser Erweiterung des Briefwechsels ist ein Band entstanden, der zu den wichtigen Dokumenten der europäischen Kunst vor dem Ersten Weltkrieg zählen muss.
Über Rilkes Bekanntschaft mit Rodin gibt es einige berühmte Sätze, die Stefan Zweig 1927, zwei Monate nach dem Tod des Dichters, in seiner Gedächtnisrede im Staatstheater München spricht. Rilke sei von einer „Schickung” nach Paris „getrieben” worden, heißt es darin: „Dort sah er den Meister, den alten, mit seiner abteilenden Kraft, und es reizte ihn mächtig, wie er zu sein und seinerseits im lyrischen Raum ebenso streng und abschließend wie jener im Plastischen irdische Bildnisse zu formen, im gläsern gewichtlosen Element des Verses die Härte des Umrisses zu erzwingen wie jener in marmorn wuchtender Materie des erdgebundenen Steins.” Veröffentlicht hatte Rilke 1902 gerade das „Buch der Bilder” in der ersten Fassung, geschrieben war vor allem der größte Teil des „Stunden-Buchs” mit seinen Huldigungen an den göttlichen Urgrund allen Lebens: „Ich finde dich in allen diesen Dingen, / denen ich gut und wie ein Bruder bin; / als Samen sonnst du dich in den geringen / und in den großen giebst du groß dich hin.” Das wirkt tief, ist aber in Wirklichkeit leicht. Ein Virtuose der Dichtkunst ist hier am Werk, ein Jongleur des dreifachen, vierfachen, fünffachen Reims, einer, der sich auf seinen Versfüßen bewegt, als verdanke er sein Enjambement dem russischen Ballett. Rilke gehört nicht mehr ins neunzehnte Jahrhundert, und wenn er die romantische Lyrik mit ihren eigenen Mitteln zu überbieten trachtet, dann vor allem, weil er ihrer Wirkung schon misstraut.
Rudolf Kassner berichtet von seinem Freund, dieser habe die „Alten und Väter” gesucht: „Rilke hörte auf sie, erschrocken und doch auch froh darüber, daß es das noch gab: solche schreiende, tobende Alten und Großen ...” In Auguste Rodin trifft er auf einen solchen „Meister” des Widerständigen: Einen Künstler, der nicht in Luft und Federstrichen arbeitet, sondern in den härtesten Dingen, in Bronze und Stein. Die Art der Arbeit scheint sich zudem auf den Menschen übertragen zu haben. Wenn Rilke von seinem Idol berichtet, dann schildert er ihn als Urgestalt, als Propheten, als Künder von elementaren Weisheiten: „Oui, il faut travailler, rien que travailler.” – „Ja, man muss arbeiten, nichts als arbeiten.” Die Grenze zwischen einer solchen Weisheit und einem Gemeinplatz ist freilich schmal, aber das bemerkt Rilke erst Jahre später.
Was Rilke zu Rodin „treibt”, ist das Bedürfnis nach Erschwernis. Er will den „Hammer” der Poesie finden, und dieses Motiv zieht sich durch seine Pariser Unternehmungen, bis hinein in die sonderbare Anstellung als „Privatsekretär”, die Rilke im Herbst 1905 bei Rodin findet – und diese kommt nicht nur zu Stande, weil Rilke wie stets kein Geld hat, sondern ist in Wahrheit eine Lehre. Und Rilke macht seinem „Meister” nützlich, bei weitem nicht nur als Schreiber, sondern auch als Agent, als Sprachrohr, „Türwächter”, und halb offizieller Interpret. Sieben Monate dauert es, bis dieses Durcheinander der Funktionen, diese Unklarheit in der Hierarchie zu einer schweren Belastung wird und sich Rodin darauf besinnt, ein ganz gewöhnlicher Arbeitgeber zu sein. Danach gibt es eine Quittung über 682,50 Francs, „zur Begleichung aller Forderungen”. Rilke lässt sich den Bart abnehmen.
Aber bis dahin dröhnt es fort, das sich scheinbar endlos fortsetzende Gerede von gottgleicher Größe, von letzter Hingabe und äußerster Bewunderung: „Und wenn dieses Werk, so groß, so gerecht, für mich ein Ereignis geworden ist, von dem ich nur mit vor Erschrecken und Verehrung zitternder Stimme werde erzählen können, so ist auch, wie sie selbst – ein Beispiel, das meinem Leben, meiner Kunst gegeben ist, allem, was an Reinstem auf dem Grund meiner Seele vorhanden ist.” So spricht die Zeit, möchte man dazu sagen, aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Denn so spricht ganz besonders Rilke: Die großen Formeln rauschen aus ihm heraus, sie haben etwas Haltloses, Beliebiges und wie absichtlich Ungefähres. Mit großem Aufwand rotiert hier eine Bedeutsamkeitsmaschine.
Es dauert eine Weile, bis dieser Lärm selbst dem Erfinder der Metaphernschleuder auf die Nerven geht, und die Übergänge sind fließend. Spätestens nach einem Vierteljahr Briefeschreiben für Rodin, also etwa um Weihnachten 1905, ist zum ersten Mal bemerken, dass der hohe Ton der Weihe auf einen mittleren Ton des Respekts gesunken ist. Es wird nun durch Kollegialität, manchmal sogar durch etwas Freundschaftliches getragen, das verstärkt wiederkehrt, als Rodin zwischen 1908 und 1910 eine Reihe von Sälen im Hotel Biron mietet, in dem auch Rilke arbeitet. Da aber hatte Rilke die Vorzüge des prosaischen Tons längst für die Lyrik entdeckt – der „Cornet” und die „Neuen Gedichte” waren erschienen, vor allem auch die „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge”, und die großen Gesten des Überschwangs waren einer zunehmenden Nüchternheit, Welthaltigkeit gewichen.
Als Rainer Maria Rilke zum ersten Mal zu Rodin reist, beherrscht er das Französische nicht vollkommen. Zwar nimmt er noch Unterricht an der „Berlitz-School” in Bremen, aber er kennt weder das Imperfektum in konditionalen Nebensätzen noch den Relativsatz ohne Komma. Durch seine Briefe – und später: durch seine Erinnerungen an die Zeit mit Rodin - ziehen sich die Geständnisse, sich damals auf französisch nur mangelhaft ausgedrückt zu haben. Aber es ging, und es ging ganz wunderbar, genauso leicht, wie es aus der Dichtung in die bildende Kunst und zurück ging oder von Worpswede über Capri nach Paris. Eine zivile Welt tut sich in diesem Briefwechsel aus den Tagen vor dem Weltkrieg auf, ein Europa, das offenbar größer und freier ist als alles, was ein neues, einiges und unendlich mobileres Europa heute zu Stande zu bringen vermag. Denn Bachstelzen sind Zugvögel, und alte Erpel sind es manchmal auch.
THOMAS STEINFELD
RÄTUS LUCK (Hrsg.): Rainer Maria Rilke. Auguste Rodin. Der Briefwechsel und andere Dokumente der Begegnung mit Rodin. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2001. 426Seiten,64Mark.
Die Urgestalt im Urgestein: Auguste Rodin zwischen seinen Gipsen im Atelier. Die Fotografie entstand 1902, im selben Jahr, in dem ihn Rainer Maria Rilke zum ersten Mal aufsuchte.
Foto Musée Rodin, Paris
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Mit 25 Jahren traf Rainer Maria Rilke das erste Mal August Rodin und arbeitete fortan als dessen Sekretär, informiert Hans-Albrecht Koch. Für Rilke, hat der Rezensent vermutlich dem Briefwechsel zwischen Rodin und dem Dichter entnommen, war seine Zeit bei Rodin "eine Schule des Sehens". Mit dieser Edition werde "eine der großen Konstellationen" zwischen Dichtkunst und bildender Kunst "nahezu vollständig zugänglich". Lange Briefe des Dichters wechselten einander mit kurzen Antworten des Künstlers ab, "verklammert" würden diese Briefe mit "umfangreichen Zitaten" aus anderen Briefwechseln und Dokumenten, die der Herausgeber wo immer möglich eingefügt habe, berichtet Koch.
© Perlentaucher Medien GmbH
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