Die Vertreibung von Verlegern, Buchhändlern und Antiquaren durch die NS-Machthaber nach 1933 hatte in Deutschland eine tiefgreifend zerstörerische Wirkung auf alle Bereiche des Buchhandels. Zugleich aber entstanden in den europäischen und überseeischen Fluchtländern Strukturen eines Exilbuchhandels, die als Manifestation des "anderen Deutschland" ein historisch einzigartiges Phänomen darstellen. Band 3/3 der "Geschichte des deutschen Buchhandels" führt erstmals in voller Breite vor, wie sich in der über alle Kontinente zerstreuten deutschsprachigen Emigration neben einer vielgestaltigen Verlagslandschaft auch weit verzweigte buchhändlerische Distributionsnetze und letztlich alle wichtigen Funktionen des Buchmarkts neu herausbildeten, von der kleinen Leihbuchhandlung bis zur internationalen Literarischen Agentur. Wenn für viele Exilanten die Vertreibung in die Fremde mit Bedrängnissen schlimmster Art verbunden war, so nützten doch nicht wenige von ihnen die Chance zu bemerkenswerten beruflichen Karrieren und entfalteten eine transkontinentale Wirksamkeit, mit der sie zu Vorreitern einer globalisierten Buchwirtschaft wurden.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Mark Lehmstedt kann es nicht glauben, dass der Buchhandel neunzig Jahre brauchte, um in den Spiegel zu schauen. Die beiden abschließenden von Ernst Fischer und Reinhard Wittmann herausgegebenen Teilbände zur Geschichte des deutschen Buchhandels im Nationalsozialismus begrüßt Lehmstedt aber auch wegen ihrer umfangreichen Perspektive, die die Herstellung und Verbreitung von Druckschriften aus den Bereichen der Architektur, der Musik und des Schul- sowie des Kinder- und Jugendbuches unter den Bedingungen der Ideologie in den Blick nimmt. Dass die Autoren aufgrund der prekären Quellenlage Grundlagenarbeit leisten, entgeht Lehmstedt beim Lesen ebensowenig wie der Umstand, dass buchhändlerisches Überleben in der Diktatur vielfältig war und längst nicht mit dem Gegensatz Opposition-Anpasser/Mitläufer zu erfassen ist. Die Bände bieten laut Rezensent eine solide Forschungsgrundlage.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine ZeitungKein Lager in Leipzig
Von Querido in Amsterdam bis hin zur kleinen Leihbibliothek in Jerusalem: Ernst Fischer legt zum ersten Mal ein Gesamtbild des deutschen Buchhandels im Exil während und auch noch nach der NS-Zeit vor.
Im Sommer 1816 verfasste der Hamburger Verleger Friedrich Christoph Perthes die Programmschrift "Der deutsche Buchhandel als Bedingung des Daseins einer deutschen Literatur". Unter Buchhandel verstand er das gesamte System der Herstellung und Verbreitung von Druckschriften aller Art, Buch-, Musik- und Zeitungsverlage ebenso wie Sortiments- und Antiquariatsbuchhandlungen, und unter Literatur die Gesamtheit des im Druck Vervielfältigten. Der berühmt gewordene Titel umreißt in kürzestmöglicher Formulierung die Leistung eines ganzen Wirtschaftszweiges - ohne Buchwirtschaft keine Literatur, keine Wissenschaft, keine Bildung. Perthes' Wort markiert aber zugleich auch einen Anspruch an die Verleger und Buchhändler als Schöpfer und Bewahrer der Bedingungen einer Möglichkeit von Literatur.
Nie sind Leistung und Anspruch des deutschen Buchhandels so radikal auf die Probe gestellt worden wie in der Zeit des Nationalsozialismus, als nicht nur Tausende Schriftsteller aller Art und jeglichen Ranges aus politischen oder "rassischen" Gründen ins Exil getrieben wurden, sondern ebenso auch Hunderte Inhaber und Mitarbeiter von Buch-, Musik- und Zeitungsverlagen, von Buch- und Musikalienhandlungen, von Leihbibliotheken und Antiquariaten. Wie die Autoren litten sie unter der kulturellen Entwurzelung, unter dem Verlust der Muttersprache und nicht zuletzt unter teils gewaltigen materiellen Einbußen. Wer aber im Exil wieder als Verleger oder Buchhändler tätig werden wollte, sah sich noch ganz anderen Hindernissen gegenüber.
Über mehrere Jahrhunderte hinweg hatte sich der deutsche Buchhandel zu einem perfekt austarierten System entwickelt. Von diesem System waren Exilverlage, Exilbuchhandlungen und im Exil entstandene Bücher weitgehend ausgesperrt. Wer wie sie nicht im Leipziger "Adressbuch des deutschen Buchhandels" gelistet war, keine Anzeigen im Leipziger "Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel" schalten, in Leipzig keine Lagerung und Auslieferung seiner Bücher unterhalten und keinen Leipziger Zwischenbuchhändler mit der Abwicklung der Geschäfte beauftragen durfte, der war ganz auf sich gestellt.
Die weltweit bewunderte Effizienz des "Leipziger Platzes" erwies sich für die neuen Machthaber als spielend einfach zu handhabendes Mittel der Unterdrückung. Doch auch im Ausland gab es Widerstände und Hindernisse vieler Art, die von simpler Konkurrenzangst über Einreisebeschränkungen und gewerbe- und devisenrechtliche Restriktionen bis hin zu Bedenken außenpolitischer Art (insbesondere in den auf ihre Neutralität bedachten Staaten wie der Schweiz und Schweden) reichten.
Nicht zu unterschätzen ist schließlich auch der zeitliche Faktor. Zumindest in den ersten Jahren der NS-Diktatur glaubten viele an deren baldiges Ende und damit an eine schnelle Rückkehr. Unter diesen Umständen ein doch recht komplexes Wirtschaftsunternehmen wie einen Verlag oder eine Buchhandlung aufzubauen bedurfte einer starken Motivation. Wer es dennoch wagte, musste sehr schnell feststellen, dass alles auf Sand gebaut war, denn mit dem "Anschluss" Österreichs und der Besetzung der Tschechoslowakei (beide 1938) sowie mit der Annexion der Niederlande und von Teilen Frankreichs (beide 1940) waren auch die Zentren des Exilbuchhandels - Wien, Prag, Amsterdam und Paris - in die Hände des Feindes gefallen. Wem die abermalige Flucht gelang - und sie gelang nicht jedem -, war abermals um alles gebracht, fand sich nun aber in Gegenden der Welt wieder, die mit dem deutschen oder wenigstens europäischen System des Verlagswesens und Buchhandels kaum noch etwas gemein hatten.
Es ist das außerordentliche Verdienst der mehr als zweitausend Druckseiten umfassenden Darstellung von Ernst Fischer, emeritierter Professor am Institut für Buchwissenschaft der Universität Mainz, die mehrere Kontinente umspannende und weit über das Ende der Hitler-Diktatur hinausreichende Geschichte des Exilbuchhandels mit all ihren Aspekten nachzuzeichnen. Er macht deutlich, auf welchen oft genug verworrenen, nur mit Mühe noch zu rekonstruierenden Pfaden es deutschen Verlegern, Buchhändlern, Antiquaren, Lektoren und Buchgestaltern gelang, den Werken der vertriebenen Autoren eine Öffentlichkeit zu verschaffen, und sei sie noch so klein und fragmentiert. In der kaum zu überschauenden, stark literaturwissenschaftlich geprägten Exilforschung erscheint ihre mühevolle Tätigkeit bis heute, wenn überhaupt, als mehr oder minder lästiges Beiwerk. Tatsächlich waren es aber sie, die es den Schriftstellern ermöglichten, in ihrer Muttersprache weiterzuarbeiten und ihnen so gut als möglich den Lebensunterhalt zu finanzieren, etwa durch monatliche Zahlungen, die mit dem Honorar verrechnet wurden. Allein die Tatsache, dass die Bücher gedruckt wurden, sicherte in Zeiten extremer Krisen und fortwährender Fluchten die dauerhafte Existenz der Texte - nicht nur von Walter Benjamin ist bekannt, dass Manuskripte oder Typoskripte für immer verlorengegangen sind.
Fischers Grundlagenwerk fasst die Arbeit von vier Jahrzehnten zusammen. Er kann sich nicht nur auf eine inzwischen recht beachtliche Zahl von Spezialstudien, Bibliographien, Briefeditionen und autobiographischen Texten stützen, sondern ebenso auf eigene Recherchen in Archiven wie auf eine Fülle von Interviews und Korrespondenzen mit den einstigen Akteuren oder deren Nachfahren. Während er die rein biographischen Informationen zu den etwa neunhundert ermittelten Personen in einen eigenen Band ausgelagert hat, der hier in zweiter, erweiterter Auflage als Supplement erscheint, besteht seine Darstellung im Kern aus mehreren hundert Firmengeschichten, die thematisch nach Geschäftsfeldern geordnet werden. Auf diese Weise entsteht zum ersten Mal überhaupt ein Gesamtbild des Exilbuchhandels, das sich nicht auf wenige, bekannte Highlights beschränkt, sondern sich bis in die "Niederungen" einer kleinen deutschen Leihbibliothek in Jerusalem begibt, die nur wenige Jahre zu existieren vermochte, aber eben auch die Buchhandlung in Buenos Aires dem Vergessen entreißt, die zum Anlaufpunkt der vertriebenen Autoren wurde.
Dass ein Exilbuchhandel überhaupt entstehen konnte, war allerdings nicht allein das Verdienst der Exilierten. Vom heimatlichen Netzwerk getrennt, bedurfte es der Ankoppelung an andere, bestehende Netzwerke. So geraten Persönlichkeiten und Unternehmen der niederländischen, schwedischen, tschechischen, schwedischen oder Schweizer Buchgeschichte wie Allert de Lange, Emanuel Querido, Michal Kácha, Albert Bonnier, Emil Oprecht, aber auch Gewerkschafter und Politiker wie Lázaro Cárdenas und Vicente Lombardo Toledano in Mexiko in den Blick, ohne deren finanzielle, vertriebliche und organisatorische Hilfe gerade die erfolgreichsten und wirkungsvollsten Exilverlage nicht hätten tätig werden können - ohne Bonnier kein Bermann Fischer Verlag, ohne Lombardo kein El Libro Libre! Das "freie deutsche Buch" war ein Buch des freien Weltbuchhandels.
Dies gilt umso mehr, als - von raren Ausnahmen der Anfangsjahre abgesehen - im Exil entstandene Bücher deutscher Autoren eine größere Resonanz nur erfuhren, wenn sie in Übersetzungen erschienen und in die ausländischen Vertriebssysteme eingespeist werden konnten. "Das siebte Kreuz" von Anna Seghers wurde zum Weltbestseller in einer amerikanischen Übersetzung, in einem amerikanischen Comic Strip und in einer amerikanischen Verfilmung! (An ihr gewaltiges Dollar-Guthaben kam die in Mexiko lebende Autorin allerdings nur in homöopathischen Dosen heran.)
Die Wirkungen der im Exil verlegten und gehandelten Bücher festzustellen, eine "Lese(r)geschichte" des Exils also, bleibt, wie Fischer feststellt, ein Desiderat der Forschung. Aber er demonstriert auf eindrucksvolle Weise, welche Wirkungen die ins Exil getriebenen Verleger und Buchhändler für das Buchgewerbe ihrer Exilländer, für die deutsche Buchwirtschaft der Nachkriegszeit und nicht zuletzt für den Prozess der Globalisierung des Buchgewerbes gehabt haben - ob es sich um Verleger wie Gottfried Bermann Fischer oder Walter Janka, um Antiquare wie Hans Peter Kraus oder um Musikverleger wie Walter und Max Hinrichsen handelt.
Wie alle Geschichtsschreibung tendiert auch die des Buchhandels dazu, die Erfolgsgeschichten in den Vordergrund zu stellen, allein schon, weil sie besser (oder überhaupt) dokumentiert sind. Doch wo immer möglich, markiert Fischer auch das ungeheure Risiko, unter dem Exilverleger und Exilbuchhändler gewirkt haben. Willi Münzenberg, der mit dem in mehr als zwanzig Übersetzungen und über 500 000 Exemplaren verbreiteten "Braunbuch" dem Hitler-Regime die größte propagandistische Niederlage zufügte, die es jemals erlitten hat, der aber - als Kommunist und Komintern-Mitglied! - nach dem Bekanntwerden des Hitler-Stalin-Paktes in Form eines geradezu biblischen Bannspruchs öffentlich erklärte: "Stalin, der Verräter bist du", wurde 1940 tot aufgefunden, und es wird wohl immer ungeklärt bleiben, ob er den Schergen Hitlers oder Stalins zum Opfer gefallen ist oder sich aus Furcht vor beiden selbst das Leben genommen hat.
Indem Ernst Fischer das Bekannte, oft genug an entlegener Stelle Publizierte souverän zusammenfasst und es mit sehr vielen neuen Informationen anreichert, schafft er ein Kompendium ersten Ranges, ein Standardwerk, an dem niemand wird vorbeigehen können, der sich mit Entstehung und Wirkung des deutschen Buches im zwanzigsten Jahrhundert auseinandersetzen will.
MARK LEHMSTEDT
Ernst Fischer: "Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert". Band 3/3: Drittes Reich und Exil. Exilbuchhandel.
De Gruyter Verlag, Berlin/ Boston 2020. Bd. 1/2: zus. 1385 S., geb., 319,99 [Euro]. Supplementband: 660 S., geb., 159,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von Querido in Amsterdam bis hin zur kleinen Leihbibliothek in Jerusalem: Ernst Fischer legt zum ersten Mal ein Gesamtbild des deutschen Buchhandels im Exil während und auch noch nach der NS-Zeit vor.
Im Sommer 1816 verfasste der Hamburger Verleger Friedrich Christoph Perthes die Programmschrift "Der deutsche Buchhandel als Bedingung des Daseins einer deutschen Literatur". Unter Buchhandel verstand er das gesamte System der Herstellung und Verbreitung von Druckschriften aller Art, Buch-, Musik- und Zeitungsverlage ebenso wie Sortiments- und Antiquariatsbuchhandlungen, und unter Literatur die Gesamtheit des im Druck Vervielfältigten. Der berühmt gewordene Titel umreißt in kürzestmöglicher Formulierung die Leistung eines ganzen Wirtschaftszweiges - ohne Buchwirtschaft keine Literatur, keine Wissenschaft, keine Bildung. Perthes' Wort markiert aber zugleich auch einen Anspruch an die Verleger und Buchhändler als Schöpfer und Bewahrer der Bedingungen einer Möglichkeit von Literatur.
Nie sind Leistung und Anspruch des deutschen Buchhandels so radikal auf die Probe gestellt worden wie in der Zeit des Nationalsozialismus, als nicht nur Tausende Schriftsteller aller Art und jeglichen Ranges aus politischen oder "rassischen" Gründen ins Exil getrieben wurden, sondern ebenso auch Hunderte Inhaber und Mitarbeiter von Buch-, Musik- und Zeitungsverlagen, von Buch- und Musikalienhandlungen, von Leihbibliotheken und Antiquariaten. Wie die Autoren litten sie unter der kulturellen Entwurzelung, unter dem Verlust der Muttersprache und nicht zuletzt unter teils gewaltigen materiellen Einbußen. Wer aber im Exil wieder als Verleger oder Buchhändler tätig werden wollte, sah sich noch ganz anderen Hindernissen gegenüber.
Über mehrere Jahrhunderte hinweg hatte sich der deutsche Buchhandel zu einem perfekt austarierten System entwickelt. Von diesem System waren Exilverlage, Exilbuchhandlungen und im Exil entstandene Bücher weitgehend ausgesperrt. Wer wie sie nicht im Leipziger "Adressbuch des deutschen Buchhandels" gelistet war, keine Anzeigen im Leipziger "Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel" schalten, in Leipzig keine Lagerung und Auslieferung seiner Bücher unterhalten und keinen Leipziger Zwischenbuchhändler mit der Abwicklung der Geschäfte beauftragen durfte, der war ganz auf sich gestellt.
Die weltweit bewunderte Effizienz des "Leipziger Platzes" erwies sich für die neuen Machthaber als spielend einfach zu handhabendes Mittel der Unterdrückung. Doch auch im Ausland gab es Widerstände und Hindernisse vieler Art, die von simpler Konkurrenzangst über Einreisebeschränkungen und gewerbe- und devisenrechtliche Restriktionen bis hin zu Bedenken außenpolitischer Art (insbesondere in den auf ihre Neutralität bedachten Staaten wie der Schweiz und Schweden) reichten.
Nicht zu unterschätzen ist schließlich auch der zeitliche Faktor. Zumindest in den ersten Jahren der NS-Diktatur glaubten viele an deren baldiges Ende und damit an eine schnelle Rückkehr. Unter diesen Umständen ein doch recht komplexes Wirtschaftsunternehmen wie einen Verlag oder eine Buchhandlung aufzubauen bedurfte einer starken Motivation. Wer es dennoch wagte, musste sehr schnell feststellen, dass alles auf Sand gebaut war, denn mit dem "Anschluss" Österreichs und der Besetzung der Tschechoslowakei (beide 1938) sowie mit der Annexion der Niederlande und von Teilen Frankreichs (beide 1940) waren auch die Zentren des Exilbuchhandels - Wien, Prag, Amsterdam und Paris - in die Hände des Feindes gefallen. Wem die abermalige Flucht gelang - und sie gelang nicht jedem -, war abermals um alles gebracht, fand sich nun aber in Gegenden der Welt wieder, die mit dem deutschen oder wenigstens europäischen System des Verlagswesens und Buchhandels kaum noch etwas gemein hatten.
Es ist das außerordentliche Verdienst der mehr als zweitausend Druckseiten umfassenden Darstellung von Ernst Fischer, emeritierter Professor am Institut für Buchwissenschaft der Universität Mainz, die mehrere Kontinente umspannende und weit über das Ende der Hitler-Diktatur hinausreichende Geschichte des Exilbuchhandels mit all ihren Aspekten nachzuzeichnen. Er macht deutlich, auf welchen oft genug verworrenen, nur mit Mühe noch zu rekonstruierenden Pfaden es deutschen Verlegern, Buchhändlern, Antiquaren, Lektoren und Buchgestaltern gelang, den Werken der vertriebenen Autoren eine Öffentlichkeit zu verschaffen, und sei sie noch so klein und fragmentiert. In der kaum zu überschauenden, stark literaturwissenschaftlich geprägten Exilforschung erscheint ihre mühevolle Tätigkeit bis heute, wenn überhaupt, als mehr oder minder lästiges Beiwerk. Tatsächlich waren es aber sie, die es den Schriftstellern ermöglichten, in ihrer Muttersprache weiterzuarbeiten und ihnen so gut als möglich den Lebensunterhalt zu finanzieren, etwa durch monatliche Zahlungen, die mit dem Honorar verrechnet wurden. Allein die Tatsache, dass die Bücher gedruckt wurden, sicherte in Zeiten extremer Krisen und fortwährender Fluchten die dauerhafte Existenz der Texte - nicht nur von Walter Benjamin ist bekannt, dass Manuskripte oder Typoskripte für immer verlorengegangen sind.
Fischers Grundlagenwerk fasst die Arbeit von vier Jahrzehnten zusammen. Er kann sich nicht nur auf eine inzwischen recht beachtliche Zahl von Spezialstudien, Bibliographien, Briefeditionen und autobiographischen Texten stützen, sondern ebenso auf eigene Recherchen in Archiven wie auf eine Fülle von Interviews und Korrespondenzen mit den einstigen Akteuren oder deren Nachfahren. Während er die rein biographischen Informationen zu den etwa neunhundert ermittelten Personen in einen eigenen Band ausgelagert hat, der hier in zweiter, erweiterter Auflage als Supplement erscheint, besteht seine Darstellung im Kern aus mehreren hundert Firmengeschichten, die thematisch nach Geschäftsfeldern geordnet werden. Auf diese Weise entsteht zum ersten Mal überhaupt ein Gesamtbild des Exilbuchhandels, das sich nicht auf wenige, bekannte Highlights beschränkt, sondern sich bis in die "Niederungen" einer kleinen deutschen Leihbibliothek in Jerusalem begibt, die nur wenige Jahre zu existieren vermochte, aber eben auch die Buchhandlung in Buenos Aires dem Vergessen entreißt, die zum Anlaufpunkt der vertriebenen Autoren wurde.
Dass ein Exilbuchhandel überhaupt entstehen konnte, war allerdings nicht allein das Verdienst der Exilierten. Vom heimatlichen Netzwerk getrennt, bedurfte es der Ankoppelung an andere, bestehende Netzwerke. So geraten Persönlichkeiten und Unternehmen der niederländischen, schwedischen, tschechischen, schwedischen oder Schweizer Buchgeschichte wie Allert de Lange, Emanuel Querido, Michal Kácha, Albert Bonnier, Emil Oprecht, aber auch Gewerkschafter und Politiker wie Lázaro Cárdenas und Vicente Lombardo Toledano in Mexiko in den Blick, ohne deren finanzielle, vertriebliche und organisatorische Hilfe gerade die erfolgreichsten und wirkungsvollsten Exilverlage nicht hätten tätig werden können - ohne Bonnier kein Bermann Fischer Verlag, ohne Lombardo kein El Libro Libre! Das "freie deutsche Buch" war ein Buch des freien Weltbuchhandels.
Dies gilt umso mehr, als - von raren Ausnahmen der Anfangsjahre abgesehen - im Exil entstandene Bücher deutscher Autoren eine größere Resonanz nur erfuhren, wenn sie in Übersetzungen erschienen und in die ausländischen Vertriebssysteme eingespeist werden konnten. "Das siebte Kreuz" von Anna Seghers wurde zum Weltbestseller in einer amerikanischen Übersetzung, in einem amerikanischen Comic Strip und in einer amerikanischen Verfilmung! (An ihr gewaltiges Dollar-Guthaben kam die in Mexiko lebende Autorin allerdings nur in homöopathischen Dosen heran.)
Die Wirkungen der im Exil verlegten und gehandelten Bücher festzustellen, eine "Lese(r)geschichte" des Exils also, bleibt, wie Fischer feststellt, ein Desiderat der Forschung. Aber er demonstriert auf eindrucksvolle Weise, welche Wirkungen die ins Exil getriebenen Verleger und Buchhändler für das Buchgewerbe ihrer Exilländer, für die deutsche Buchwirtschaft der Nachkriegszeit und nicht zuletzt für den Prozess der Globalisierung des Buchgewerbes gehabt haben - ob es sich um Verleger wie Gottfried Bermann Fischer oder Walter Janka, um Antiquare wie Hans Peter Kraus oder um Musikverleger wie Walter und Max Hinrichsen handelt.
Wie alle Geschichtsschreibung tendiert auch die des Buchhandels dazu, die Erfolgsgeschichten in den Vordergrund zu stellen, allein schon, weil sie besser (oder überhaupt) dokumentiert sind. Doch wo immer möglich, markiert Fischer auch das ungeheure Risiko, unter dem Exilverleger und Exilbuchhändler gewirkt haben. Willi Münzenberg, der mit dem in mehr als zwanzig Übersetzungen und über 500 000 Exemplaren verbreiteten "Braunbuch" dem Hitler-Regime die größte propagandistische Niederlage zufügte, die es jemals erlitten hat, der aber - als Kommunist und Komintern-Mitglied! - nach dem Bekanntwerden des Hitler-Stalin-Paktes in Form eines geradezu biblischen Bannspruchs öffentlich erklärte: "Stalin, der Verräter bist du", wurde 1940 tot aufgefunden, und es wird wohl immer ungeklärt bleiben, ob er den Schergen Hitlers oder Stalins zum Opfer gefallen ist oder sich aus Furcht vor beiden selbst das Leben genommen hat.
Indem Ernst Fischer das Bekannte, oft genug an entlegener Stelle Publizierte souverän zusammenfasst und es mit sehr vielen neuen Informationen anreichert, schafft er ein Kompendium ersten Ranges, ein Standardwerk, an dem niemand wird vorbeigehen können, der sich mit Entstehung und Wirkung des deutschen Buches im zwanzigsten Jahrhundert auseinandersetzen will.
MARK LEHMSTEDT
Ernst Fischer: "Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert". Band 3/3: Drittes Reich und Exil. Exilbuchhandel.
De Gruyter Verlag, Berlin/ Boston 2020. Bd. 1/2: zus. 1385 S., geb., 319,99 [Euro]. Supplementband: 660 S., geb., 159,95 [Euro].
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"Ein so materialreiches wie glänzend strukturiertes und gut lesbares Buch ist ein Glücksfall nicht nur für die Buchgeschichte im engeren Sinne, sondern auch für unser Verständnis von den Strukturen des internationalen Kulturtransfers. [Es wird] ... für lange Zeit das Referenzwerk für den Exilbuchhandel sein." Michael Knoche: Ein Wiener Würstchen für ein bisschen Lesestoff - Ernst Fischers phänomenale Geschichte des deutschen Buchhandels im Exil, in: Aus der Forschungsbibliothek Krekelborn, 8. Februar 2021, URL:https://biblio.hypotheses.org/2266. (09.02.2021)
"Fischers Werk sollte zu einer Pflichtlektüre werden." Börsenblatt, 52-53/2020, 29
"Indem Ernst Fischer das Bekannte, oft genug an entlegener Stelle Publizierte souverän zusammenfasst und es mit sehr vielen neuen Informationen anreichert, schafft er ein Kompendium ersten Ranges, ein Standardwerk, an dem niemand wird vorbeigehen können, der sich mit Entstehung und Wirkung des deutschen Buches im zwanzigsten Jahrhundert auseinandersetzen will." Mark Lehmstedt in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.03.2021, https://zeitung.faz.net/faz/feuilleton/2021-03-05/f7b3362d86492dbda89512629cdf86f1/?GEPC=s5 (11.03.2021)
"Ein Werk wurde hier vorgelegt, das bleiben wird." Holger Böning in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 24 (2022)
"Fischers Werk sollte zu einer Pflichtlektüre werden." Börsenblatt, 52-53/2020, 29
"Indem Ernst Fischer das Bekannte, oft genug an entlegener Stelle Publizierte souverän zusammenfasst und es mit sehr vielen neuen Informationen anreichert, schafft er ein Kompendium ersten Ranges, ein Standardwerk, an dem niemand wird vorbeigehen können, der sich mit Entstehung und Wirkung des deutschen Buches im zwanzigsten Jahrhundert auseinandersetzen will." Mark Lehmstedt in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.03.2021, https://zeitung.faz.net/faz/feuilleton/2021-03-05/f7b3362d86492dbda89512629cdf86f1/?GEPC=s5 (11.03.2021)
"Ein Werk wurde hier vorgelegt, das bleiben wird." Holger Böning in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 24 (2022)