Produktdetails
- Verlag: ARTEMIS; WINKLER, DÜSSELDORF
- 1995.
- Abmessung: 14, 5 x 21 cm
- ISBN-13: 9783760819563
- ISBN-10: 3760819567
- Artikelnr.: 08753203
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.09.1995Milde Sorte
Klaus Thiele-Dohrmanns Vorabendprogramm über den Klatsch vermag nicht zu fesseln
Jeder weiß, was Klatsch ist, alle Kulturen kennen ihn. Seit knapp hundert Jahren versuchen Rechtswissenschaftler, Soziologen und Psychologen, das Phänomen der informellen Kommunikation im Horizont ihrer jeweiligen Disziplin einzugrenzen. Auf der Suche nach der "Sozialform der diskreten Indiskretion" (Jörg R. Bergmann) folgt Klaus Thiele-Dohrmann der Spur des Klatsches von der Antike bis in die Welt der halbseidenen "Gesellschaftsreporter". Er bedient sich dazu des gegenwärtig sehr beliebten historiographischen Subgenres der "kleinen Kulturgeschichte".
Männer und Frauen klatschen gleich viel; Thiele-Dormann schildert die sozialen Gefahren und Funktionen des Geredes und weist hin auf die anthropologische Konstante Neugier, ohne die kein Klatsch, kein Gerücht je zustande kämen. Dabei verzichtet er darauf, sein Material chronologisch zu gliedern; er bündelt es locker nach thematischen Aspekten wie "Die Lust an der Enthüllung" oder "Prominenz und Medienklatsch". Unter solchen Überschriften erstreckt sich ein dicht gewebter Teppich von Zitaten, Paraphrasen und Namen.
Alles wird flüchtig angerissen und vorgeführt, man liest Motti, Meinungen und Bonmots in rauhen Mengen, dem Gedanken aber, für den sie einstehen sollen, nehmen sie jeden Raum. Ohne ein historisches oder präzis systematisches Gerüst verliert sich das Thema hinter den Belegen. Klare Thesen sucht man vergebens, und wo Francis Bacon, Graham Greene, Freud und Brecht zusammenfließen, verschwimmt die Erkenntnis zum Kalenderspruch.
Dabei ist Thiele-Dohrmann gut vorbereitet auf sein Thema: Vor zwanzig Jahren publizierte er eine Studie zur "Psychologie des Klatsches". Jetzt aber schwenkt er ab, sobald es einmal spannend wird - etwa bei der angedeuteten Analogie von Witz und Klatsch -, und verliert sich, parlierend, ans nächste Exempel, an die nächste Wahrheit. Jedes dient als Beispiel für alles. Und die entscheidenden Fragen, wie die nach der ursprünglichen Mündlichkeit des Klatsches oder die nach seiner Rolle in der Bildung von exklusiven Gruppen, werden gar nicht erst gestellt. Das ist schade, denn hier wäre die Gelegenheit gewesen, dem "Labyrinth" Klatsch tatsächlich etwas von seinem "Geheimnis" abzulauschen. So aber liest man sich wehrlos von Fundstelle zu Fundstelle, von Kenntnis zu Kenntnis, und langweilt sich vor lauter Kurzweil.
Wer wann wie wo wem was nachsagte - über Poesie und Praxis des Klatsches ließe sich gut klatschen. Thiele-Dohrmann dagegen bevorzugt das Lamento. Auf der einen Seite steht die böse, kalte "Gesellschaft" mit all ihren "sozialen Kontrollen" und "Ventilfunktionen", auf der anderen der gute Einzelne. Bei Thiele-Dohrmann trägt er das lebensnahe Antlitz des ewigen Opfers. Vorurteil und üble Nachrede, des Klatsches böse Schwestern, treiben vorbestrafte Elektriker, Angestellte und ihre gemobbten Chefs - Homos, Bärtige, Frauen und Schwarze sowieso - gnadenlos in den Knast, den Selbstmord oder nach Bad Lippspringe. Da macht dann die Mobbingklinik die Schmerzensleute des Sozialen "wieder für das Berufsleben fit".
Manchmal aber braucht es noch mehr: Den Suizid der vom Kleinstadtklatsch in "Depressionen und Verzweiflung" getriebenen jungen Mutter verhindert, Freud sei Dank, nur "das zufällige Erscheinen eines befreundeten (bärtigen? vorbestraften?) Psychologen buchstäblich in letzter Minute". Das Leben ist eben doch wie die Lindenstraße: voller Schmerz, Hasard und unverhofftem Wiedersehen.
Aus dem Vorabendprogramm bezieht der "Charme des Indiskreten" wohl auch seinen demonstrativen Tiefgang, seine nachdenklichen Sentenzen und lustigen Weisheiten. "Neugier macht Individualität erlebbar", kann man lernen, oder: "Jeder Mensch spiegelt sich im anderen. Aber er sieht auch manches in andere hinein." So bleibt das Buch, so gut seine Quellen sind, ganz im Genre der leichten Muse, sein Autor laboriert immer haarscharf an der Oberfläche seines Themas, und natürlich gibt er am Ende die unvermeidlichen guten Ratschläge.
Aber zuvor kann man, zum Glück, erfahren, wie Klatsch eigentlich entsteht. Thiele-Dohrmann zitiert den Profi Michael Graeter, "Gesellschaftsreporter" bei der Münchener "Abendzeitung".Der sagt über seine Arbeit: "Das meiste höre ich beim Friseur, in Nachtlokalen, in Massage- und Saunaräumen, also überall dort, wo man keine Gelegenheit zum Lesen hat, wo Menschen miteinander reden; da entsteht dann aus purer Langeweile Tratsch." Plötzlich begreift man doch, woher der Spaß am Klatschen rührt und warum reden manchmal noch schöner ist als lesen. HANS-JOACHIM NEUBAUER
Klaus Thiele-Dohrmann: "Der Charme des Indiskreten". Eine Kulturgeschichte des Klatsches. Verlag Artemis & Winkler, Zürich/Düsseldorf 1995. 224 S., 15 Abb., geb., 44,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Klaus Thiele-Dohrmanns Vorabendprogramm über den Klatsch vermag nicht zu fesseln
Jeder weiß, was Klatsch ist, alle Kulturen kennen ihn. Seit knapp hundert Jahren versuchen Rechtswissenschaftler, Soziologen und Psychologen, das Phänomen der informellen Kommunikation im Horizont ihrer jeweiligen Disziplin einzugrenzen. Auf der Suche nach der "Sozialform der diskreten Indiskretion" (Jörg R. Bergmann) folgt Klaus Thiele-Dohrmann der Spur des Klatsches von der Antike bis in die Welt der halbseidenen "Gesellschaftsreporter". Er bedient sich dazu des gegenwärtig sehr beliebten historiographischen Subgenres der "kleinen Kulturgeschichte".
Männer und Frauen klatschen gleich viel; Thiele-Dormann schildert die sozialen Gefahren und Funktionen des Geredes und weist hin auf die anthropologische Konstante Neugier, ohne die kein Klatsch, kein Gerücht je zustande kämen. Dabei verzichtet er darauf, sein Material chronologisch zu gliedern; er bündelt es locker nach thematischen Aspekten wie "Die Lust an der Enthüllung" oder "Prominenz und Medienklatsch". Unter solchen Überschriften erstreckt sich ein dicht gewebter Teppich von Zitaten, Paraphrasen und Namen.
Alles wird flüchtig angerissen und vorgeführt, man liest Motti, Meinungen und Bonmots in rauhen Mengen, dem Gedanken aber, für den sie einstehen sollen, nehmen sie jeden Raum. Ohne ein historisches oder präzis systematisches Gerüst verliert sich das Thema hinter den Belegen. Klare Thesen sucht man vergebens, und wo Francis Bacon, Graham Greene, Freud und Brecht zusammenfließen, verschwimmt die Erkenntnis zum Kalenderspruch.
Dabei ist Thiele-Dohrmann gut vorbereitet auf sein Thema: Vor zwanzig Jahren publizierte er eine Studie zur "Psychologie des Klatsches". Jetzt aber schwenkt er ab, sobald es einmal spannend wird - etwa bei der angedeuteten Analogie von Witz und Klatsch -, und verliert sich, parlierend, ans nächste Exempel, an die nächste Wahrheit. Jedes dient als Beispiel für alles. Und die entscheidenden Fragen, wie die nach der ursprünglichen Mündlichkeit des Klatsches oder die nach seiner Rolle in der Bildung von exklusiven Gruppen, werden gar nicht erst gestellt. Das ist schade, denn hier wäre die Gelegenheit gewesen, dem "Labyrinth" Klatsch tatsächlich etwas von seinem "Geheimnis" abzulauschen. So aber liest man sich wehrlos von Fundstelle zu Fundstelle, von Kenntnis zu Kenntnis, und langweilt sich vor lauter Kurzweil.
Wer wann wie wo wem was nachsagte - über Poesie und Praxis des Klatsches ließe sich gut klatschen. Thiele-Dohrmann dagegen bevorzugt das Lamento. Auf der einen Seite steht die böse, kalte "Gesellschaft" mit all ihren "sozialen Kontrollen" und "Ventilfunktionen", auf der anderen der gute Einzelne. Bei Thiele-Dohrmann trägt er das lebensnahe Antlitz des ewigen Opfers. Vorurteil und üble Nachrede, des Klatsches böse Schwestern, treiben vorbestrafte Elektriker, Angestellte und ihre gemobbten Chefs - Homos, Bärtige, Frauen und Schwarze sowieso - gnadenlos in den Knast, den Selbstmord oder nach Bad Lippspringe. Da macht dann die Mobbingklinik die Schmerzensleute des Sozialen "wieder für das Berufsleben fit".
Manchmal aber braucht es noch mehr: Den Suizid der vom Kleinstadtklatsch in "Depressionen und Verzweiflung" getriebenen jungen Mutter verhindert, Freud sei Dank, nur "das zufällige Erscheinen eines befreundeten (bärtigen? vorbestraften?) Psychologen buchstäblich in letzter Minute". Das Leben ist eben doch wie die Lindenstraße: voller Schmerz, Hasard und unverhofftem Wiedersehen.
Aus dem Vorabendprogramm bezieht der "Charme des Indiskreten" wohl auch seinen demonstrativen Tiefgang, seine nachdenklichen Sentenzen und lustigen Weisheiten. "Neugier macht Individualität erlebbar", kann man lernen, oder: "Jeder Mensch spiegelt sich im anderen. Aber er sieht auch manches in andere hinein." So bleibt das Buch, so gut seine Quellen sind, ganz im Genre der leichten Muse, sein Autor laboriert immer haarscharf an der Oberfläche seines Themas, und natürlich gibt er am Ende die unvermeidlichen guten Ratschläge.
Aber zuvor kann man, zum Glück, erfahren, wie Klatsch eigentlich entsteht. Thiele-Dohrmann zitiert den Profi Michael Graeter, "Gesellschaftsreporter" bei der Münchener "Abendzeitung".Der sagt über seine Arbeit: "Das meiste höre ich beim Friseur, in Nachtlokalen, in Massage- und Saunaräumen, also überall dort, wo man keine Gelegenheit zum Lesen hat, wo Menschen miteinander reden; da entsteht dann aus purer Langeweile Tratsch." Plötzlich begreift man doch, woher der Spaß am Klatschen rührt und warum reden manchmal noch schöner ist als lesen. HANS-JOACHIM NEUBAUER
Klaus Thiele-Dohrmann: "Der Charme des Indiskreten". Eine Kulturgeschichte des Klatsches. Verlag Artemis & Winkler, Zürich/Düsseldorf 1995. 224 S., 15 Abb., geb., 44,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main