Produktdetails
- Verlag: Weltbild
- ISBN-13: 9783828993815
- ISBN-10: 3828993818
- Artikelnr.: 27016930
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.09.2008Pädagogische Provinz
Solidarität ist ein Erbe Maos, aber bei diesem Schweden reden alle Chinesen gleich: Henning Mankell konfrontiert uns mit unserer Verstrickung in Chinas Geschichte.
Die Welt, in die in einer kalten Januarnacht 2006 der Schrecken einbricht, ist eine Welt, in der es so wenige Überraschungen gibt und in der das Gemütsleben so vollständig mit dem verschmolzen ist, was die Medien darüber sagen, dass sich der Chronist Sätze wie diesen leisten kann: "Danach nahm sie sich vor, das Haus zu putzen, was sonst fast immer zu kurz kam." Das ist der Stil, in dem der schwedische Kriminalautor Henning Mankell (dreißig Millionen verkaufte Bücher) seine Figuren auftreten lässt und damit signalisiert: Es kommt nicht mehr darauf an, was die Einzelnen denken und tun. Wir sind alle von einer größeren Macht umfasst, die "Geschichte" heißt oder "Globalisierung".
In besagter Januarnacht werden in einem abgelegenen schwedischen Dorf achtzehn Rentner und ein Kind auf bestialische Weise ermordet. Bald stellt sich heraus, dass ein Chinese dahintersteckt, der auf diese Weise an der Demütigung seiner Vorfahren vor hundertfünfzig Jahren Rache nimmt; beruflich arbeitet derselbe Chinese zufällig an der Kolonialisierung Afrikas.
Es wäre nicht ganz angebracht, dieses Buch als "Krimi" zu bezeichnen, und auch "Polit-Thriller" trifft es nicht recht. Über weite Strecken schleppt sich die Handlung wie ein träger breiter Fluss dahin. Eher wäre eine Gattungsbezeichnung wie "Gefühlte-Geschichte-mit-aktuellen-Auswirkungen-Roman" berechtigt. Die Originalität beschränkt sich auf die weltgeschichtliche Kolportage. Im ersten Teil werden wir als Folie des unheimlichen Weltenlaufs in das gegenwärtige Schweden eingeführt, das sich im Bild eines "von Schweigen erfüllten Frühstücksraums" verdichtet: "Schweigende Menschen, über Zeitungen und Kaffeetassen gebeugt, jeder mit seinen eigenen Gedanken, seinem eigenen Schicksal befasst." Wir lernen schwedische Frauen und Männer in ihrer Midlife-Crisis kennen. Und es zeigt sich, dass ihr depressiv-individualisiertes Idyll brüchig ist.
Im zweiten Teil wird die Geschichte des jungen Chinesen San erzählt, der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts auf der Flucht vor brutalen Großgrundbesitzern in Kanton Menschenhändlern in die Hände fällt, auf amerikanischen Eisenbahnbaustellen unter einem sadistischen schwedischen Vorarbeiter leiden muss und in Fuzhou bei einem bigotten schwedischen Missionar arbeitet, den er schließlich in einer Entladung lange aufgestauter Wut erschlägt. Wir lernen den Psychopathen Ya Ru in der Pekinger Gegenwart kennen, bei dem dann alles zusammenkommt: Er ist ein Nachfahre Sans, dessen verbittertes Tagebuch er gelesen hat, er ist ein erfolgreicher korrupter Unternehmer mit Beziehungen zu höchsten Regierungskreisen, er will die chinesische Kooperation mit Afrika für seine Interessen ausbeuten, und er hat eine idealistische Schwester in der Partei, die noch an Solidarität glaubt und diese für ein Erbe Maos hält.
In den restlichen beiden Teilen werden dann die solchermaßen aufgehängten Handlungsfäden abgespult. Eine schwedische Richterin namens Birgitta Roslin kommt der unglaublichen Rachegeschichte auf die Spur und gerät in Peking in die Fänge von Geheimdiensten. Der psychopathische Kapitalist und Massenmörder bringt in Afrika seine gerechtigkeitsliebende Schwester um und wird in der Londoner Chinatown seinerseits von deren Sohn erschossen. "Es war größer, tiefer, rätselhafter, als sie sich vorstellen konnten", denkt Roslin einmal. "Eigentlich wussten sie nichts."
Als Verdienst könnte man dem Buch anrechnen, dass es den fatalen Zusammenstoß Chinas mit Europa im neunzehnten Jahrhundert, ohne den seine Gegenwart nicht zu verstehen ist, in eine eingängige dramatische Form bringt. Dem Leser drängen sich Fragen auf, die ins Zentrum der heutigen Veränderungen zielen: Ist sich der Westen überhaupt seiner Verstrickung in Chinas bis heute fortwirkender Geschichte bewusst? Lassen sich die tiefsitzenden Traumata friedlich bewältigen? Wiederholt China mit seinen afrikanischen Aktivitäten den westlichen Imperialismus? Und kann das Land inmitten seines nationalen Aufstiegs und des internationalen Kapitalismus sein Gerechtigkeitsproblem lösen?
Zur letzten Frage nimmt das Buch eine vom Mainstream deutlich abweichende Position ein: gegen die Marktliberalen innerhalb der chinesischen Regierung und für jene solidarischen Kräfte, die der Roman im Sinne der gerechtigkeitsliebenden Schwester für eine Errungenschaft der Revolution hält. Mankell versucht sich dabei mit der gleichen Selbstverständlichkeit in die Gedanken und Gefühle von Pekinger Parteistrategen wie die von schwedischen Provinzpolizeikommissarinnen hineinzuversetzen.
Das aber geht gründlich schief. Die Chinesen in diesem Roman reden zwar bisweilen in blumigen Bildern; ansonsten aber unterscheiden sich Sprache, Denk- und Erlebniswelt kein bisschen untereinander und von dem, was ohnehin täglich in der Zeitung steht. Es ist, als sprächen und empfänden alle gerade so, als würden sie einen Artikel über China mit verteilten Rollen vorlesen.
"Sie bewegte sich in einer Stadt, die in hektischer Verwandlung begriffen war", heißt es da, wenn eine Schwedin Peking betritt und kurz danach natürlich auch noch akute Identitätsauflösungsgefühle im Menschengewimmel bekommt. Die vielen Toten, die waghalsigen Konstruktionen und hochsymbolischen Zufälle des Romans sind auch nicht dazu angetan, diesen Mief zu durchlüften, eher steigern sie ihn noch ins Surreale. Es bleibt die pädagogische Absicht, aber leider glaubt man ihr nicht.
MARK SIEMONS
Henning Mankell: "Der Chinese". Roman. Aus dem Schwedischen übersetzt von Wolfgang Butt. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2008. 606 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Solidarität ist ein Erbe Maos, aber bei diesem Schweden reden alle Chinesen gleich: Henning Mankell konfrontiert uns mit unserer Verstrickung in Chinas Geschichte.
Die Welt, in die in einer kalten Januarnacht 2006 der Schrecken einbricht, ist eine Welt, in der es so wenige Überraschungen gibt und in der das Gemütsleben so vollständig mit dem verschmolzen ist, was die Medien darüber sagen, dass sich der Chronist Sätze wie diesen leisten kann: "Danach nahm sie sich vor, das Haus zu putzen, was sonst fast immer zu kurz kam." Das ist der Stil, in dem der schwedische Kriminalautor Henning Mankell (dreißig Millionen verkaufte Bücher) seine Figuren auftreten lässt und damit signalisiert: Es kommt nicht mehr darauf an, was die Einzelnen denken und tun. Wir sind alle von einer größeren Macht umfasst, die "Geschichte" heißt oder "Globalisierung".
In besagter Januarnacht werden in einem abgelegenen schwedischen Dorf achtzehn Rentner und ein Kind auf bestialische Weise ermordet. Bald stellt sich heraus, dass ein Chinese dahintersteckt, der auf diese Weise an der Demütigung seiner Vorfahren vor hundertfünfzig Jahren Rache nimmt; beruflich arbeitet derselbe Chinese zufällig an der Kolonialisierung Afrikas.
Es wäre nicht ganz angebracht, dieses Buch als "Krimi" zu bezeichnen, und auch "Polit-Thriller" trifft es nicht recht. Über weite Strecken schleppt sich die Handlung wie ein träger breiter Fluss dahin. Eher wäre eine Gattungsbezeichnung wie "Gefühlte-Geschichte-mit-aktuellen-Auswirkungen-Roman" berechtigt. Die Originalität beschränkt sich auf die weltgeschichtliche Kolportage. Im ersten Teil werden wir als Folie des unheimlichen Weltenlaufs in das gegenwärtige Schweden eingeführt, das sich im Bild eines "von Schweigen erfüllten Frühstücksraums" verdichtet: "Schweigende Menschen, über Zeitungen und Kaffeetassen gebeugt, jeder mit seinen eigenen Gedanken, seinem eigenen Schicksal befasst." Wir lernen schwedische Frauen und Männer in ihrer Midlife-Crisis kennen. Und es zeigt sich, dass ihr depressiv-individualisiertes Idyll brüchig ist.
Im zweiten Teil wird die Geschichte des jungen Chinesen San erzählt, der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts auf der Flucht vor brutalen Großgrundbesitzern in Kanton Menschenhändlern in die Hände fällt, auf amerikanischen Eisenbahnbaustellen unter einem sadistischen schwedischen Vorarbeiter leiden muss und in Fuzhou bei einem bigotten schwedischen Missionar arbeitet, den er schließlich in einer Entladung lange aufgestauter Wut erschlägt. Wir lernen den Psychopathen Ya Ru in der Pekinger Gegenwart kennen, bei dem dann alles zusammenkommt: Er ist ein Nachfahre Sans, dessen verbittertes Tagebuch er gelesen hat, er ist ein erfolgreicher korrupter Unternehmer mit Beziehungen zu höchsten Regierungskreisen, er will die chinesische Kooperation mit Afrika für seine Interessen ausbeuten, und er hat eine idealistische Schwester in der Partei, die noch an Solidarität glaubt und diese für ein Erbe Maos hält.
In den restlichen beiden Teilen werden dann die solchermaßen aufgehängten Handlungsfäden abgespult. Eine schwedische Richterin namens Birgitta Roslin kommt der unglaublichen Rachegeschichte auf die Spur und gerät in Peking in die Fänge von Geheimdiensten. Der psychopathische Kapitalist und Massenmörder bringt in Afrika seine gerechtigkeitsliebende Schwester um und wird in der Londoner Chinatown seinerseits von deren Sohn erschossen. "Es war größer, tiefer, rätselhafter, als sie sich vorstellen konnten", denkt Roslin einmal. "Eigentlich wussten sie nichts."
Als Verdienst könnte man dem Buch anrechnen, dass es den fatalen Zusammenstoß Chinas mit Europa im neunzehnten Jahrhundert, ohne den seine Gegenwart nicht zu verstehen ist, in eine eingängige dramatische Form bringt. Dem Leser drängen sich Fragen auf, die ins Zentrum der heutigen Veränderungen zielen: Ist sich der Westen überhaupt seiner Verstrickung in Chinas bis heute fortwirkender Geschichte bewusst? Lassen sich die tiefsitzenden Traumata friedlich bewältigen? Wiederholt China mit seinen afrikanischen Aktivitäten den westlichen Imperialismus? Und kann das Land inmitten seines nationalen Aufstiegs und des internationalen Kapitalismus sein Gerechtigkeitsproblem lösen?
Zur letzten Frage nimmt das Buch eine vom Mainstream deutlich abweichende Position ein: gegen die Marktliberalen innerhalb der chinesischen Regierung und für jene solidarischen Kräfte, die der Roman im Sinne der gerechtigkeitsliebenden Schwester für eine Errungenschaft der Revolution hält. Mankell versucht sich dabei mit der gleichen Selbstverständlichkeit in die Gedanken und Gefühle von Pekinger Parteistrategen wie die von schwedischen Provinzpolizeikommissarinnen hineinzuversetzen.
Das aber geht gründlich schief. Die Chinesen in diesem Roman reden zwar bisweilen in blumigen Bildern; ansonsten aber unterscheiden sich Sprache, Denk- und Erlebniswelt kein bisschen untereinander und von dem, was ohnehin täglich in der Zeitung steht. Es ist, als sprächen und empfänden alle gerade so, als würden sie einen Artikel über China mit verteilten Rollen vorlesen.
"Sie bewegte sich in einer Stadt, die in hektischer Verwandlung begriffen war", heißt es da, wenn eine Schwedin Peking betritt und kurz danach natürlich auch noch akute Identitätsauflösungsgefühle im Menschengewimmel bekommt. Die vielen Toten, die waghalsigen Konstruktionen und hochsymbolischen Zufälle des Romans sind auch nicht dazu angetan, diesen Mief zu durchlüften, eher steigern sie ihn noch ins Surreale. Es bleibt die pädagogische Absicht, aber leider glaubt man ihr nicht.
MARK SIEMONS
Henning Mankell: "Der Chinese". Roman. Aus dem Schwedischen übersetzt von Wolfgang Butt. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2008. 606 S., geb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.06.2008Der Weltgesellschaftsbeobachter
Henning Mankells jüngster Roman „Der Chinese” empfiehlt den Maoismus mit menschlichem Antlitz
„Bad is the world”, sagte William Shakespeare. Wenig spricht dafür, dass sich die Lage seither grundsätzlich gebessert hätte. Gut, wir verfügen mittlerweile über schmerzstillende und entzündungshemmende Arzneimittel, der Strom kommt als Lebenselixier der Wissensgesellschaften aus jeder Steckdose, und der Staat kümmert sich, bei deutlich eingekürzten Transferleistungen, um die sozial Schwachen, und darum, dass die Züge pünktlich fahren. Andererseits ist der medizinisch-technische Komplex verantwortlich für eine kaum noch einzudämmende Kostenexplosion im Gesundheitswesen, nutzen die Energiekonzerne Monopolstellungen aus, um die Rendite auf dem Rücken ihrer Kunden ständig aufzubessern, und die beschlossene Privatisierung der Bahn bietet ein untrügliches Zeichen dafür, dass die staatliche Sorge um die öffentlichen Güter zunehmend in private Hände gerät. Streng genommen, oder sagen wir doch besser: dialektisch gesehen, kann es nach dem annähernd globalen Triumph des Kapitalismus eigentlich nur noch bergab gehen.
Wem letzte Zweifel die apokalyptische Sicht auf den Zustand der Welt noch verstellen sollten, dem dürfte Hennig Mankells jüngste Veröffentlichung mit einer nachdrücklichen Lektion aufhelfen. Unter dem Tarnanstrich eines Kriminalromans ist seine 600 Seiten umfassende politische Streitschrift am vergangenen Wochenende in sieben Ländern gleichzeitig herausgekommen. Sie trägt den Titel „Der Chinese” (Zsolnay Verlag, Wien 2008. 603 Seiten, 24,90 Euro) und wird verlagsseitig als „internationaler Thriller” beworben.
Doch nicht nur die Erscheinungsorte von Mankells meinungsstarker Abhandlung sind international verteilt. Auch die Schauplätze des Plots umgreifen den Globus. Vordergründig geht es um die Aufklärung eines entsetzlichen Massakers, bei dem ein mutmaßlich psychopathischer Killer 19 Unschuldige in einem gottverlassenen mittelschwedischen Kaff mit einem chinesischen Schwert niedergemetzelt hat. Hinter dieser abstoßenden Fassade rollt der schwedische Weltgesellschaftsbeobachter eine lange Geschichte auf, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt und bis in die unmittelbare Gegenwart hineinragt. Sie handelt von Versklavung, Niedertracht und Entrechtung, von Landnahme, Korruption und Mord, von Ausbeutung, Machtmissbrauch und Kolonialismus. Das ganze Ensemble der Widerwärtigkeiten erstreckt sich über wechselnde Ort- und Landschaften in Europa, den Vereinigten Staaten, China und Afrika. Dass sich kriminelle Energie globalisiert und die Gewissenlosigkeit der Gierigen, Rachsüchtigen und Machthungrigen weltweit ausgedehnt hat, ist schnell begriffen. Etwas mehr Zeit nimmt die Erkenntnis in Anspruch, dass sich die Natur des Bösen im Zuge seiner Globalisierung nicht verändert hat. In der Essenz ist das Böse geblieben, was es für Karl Marx gewesen war – der Egoismus des Habenwollens.
Sollen Bücher heute international reüssieren, gelingt ihnen das leichter, wenn sie einen Sozialverband thematisieren, der in der Krise steckt. Sie wenden sich daher bevorzugt der Familie zu, der Keimzelle der bürgerlicher Gesellschaft. Henning Mankell hat seine dialektische Naturgeschichte des Bösen durch gleich zwei Familiengeschichten eingerahmt. Die eine porträtiert eine schwedischen Mittelstandsfamilie, die andere eine chinesische Großfamilie, deren weit in die Vergangenheit zurückweisende Genealogie jetzt in drei noch verbliebene Mitglieder ausläuft. Die schwedische Familie leidet an den üblichen Malaisen: das Ehepaar Roslin hat sich einander entfremdet, die Attraktion zwischen den Partnern ist verblasst. Birgitta, eine Richterin, und ihr als Bahnschaffner tätiger Mann (der die Juristerei aufgegeben hat) gehen ihren beruflichen Pflichten nach, die Kinder sind aus dem Haus. Am Schluss jedoch finden alle wieder zueinander, und eine der Töchter teilt zur Freude der Eltern mit, sie beabsichtige Politologie zu studieren – ein rundes Happy End.
Von der chinesischen Familie bleibt dagegen nur ein junger, im britischen Exil lebender Sohn übrig, der in Londons Straßen an der archaischen Schuld trägt, seinen Onkel in einem Akt unvermeidlicher Blutrache getötet zu haben. Kein Happy End, sondern die tragische Wiederauflage alteuropäisch einschlägiger Verstrickungen, der Fluch der Atriden hier im exil-chinesischen Remix.
Es ist auch für den aufmerksamen Leser nicht leicht zu verstehen, wie der Massenmord in Hälsingland, Brigitta Roslin aus Schonen und die chinesische Großfamilie miteinander zusammenhängen – aber sie hängen zusammen, weil im historischen Materialismus und in der Theorie der Globalisierung stets alles mit allem zusammenhängt.
Die Mutter des Rächers heißt Hong Qui. Sie ist eine Spitzenbeamtin im chinesischen Staatsapparat, zuständig für Fragen innerer und äußerer Sicherheit. Ihr Bruder ist der Großindustrielle Ya Ru, der dank ruchloser Machenschaften zu der Unternehmerelite aufgestiegen ist, die Chinas entfesselter Kapitalismus mit exorbitantem Reichtum beglückt. Hong Qui und Ya Ru liegen überkreuz, weil der Bruder andere Prinzipien verficht als die Schwester, die in der Rolle einer überzeugten Kommunistin sehr für sich einnimmt. Dass sie gelegentlich ein bisschen undurchsichtig operiert, mag typisch für Sicherheitsfachleute sein, freilich adelt ein geradezu glühendes Verantwortungsbewusstsein für das große gesellschaftliche Ganze ihr Fühlen und Handeln. Hong Quis Herz schlägt vor allem für das Millionenheer der chinesischen Bauern, die Maos langer Marsch doch nicht aus unsäglichem Elend befreit haben kann, damit sie im China der Jetztzeit in den Ziegelfabriken ihres Bruders neuerlich versklavt werden. Kurzum, in Hong Qui tritt eine makellose Klassenkämpferin auf – und dass ihre Vergangenheit als Rotgardistin. Dass Henning Mankell womöglich unschöne Details aus der Zeit ihres kulturrevolutionären Elans als Rotgardistin ausspart, nehmen wir verwundert zur Kenntnis.
Zwischen Ya Ru und Hong Qui spielt sich, gut maoistisch, der Kampf zweier Linien ab. Nach dem Tod des großen Vorsitzenden, nach dem siegreichen Kampf gegen dessen letzte Gattin – als dem Kopf der sogenannten Viererbande wird ihrer kurz mit Abscheu gedacht – und nach dem segensreichen Wirken Deng Hsiao Pings stehen sich allerdings nicht mehr Revolution und Reaktion, Kommunismus und Kapitalismus am Scheideweg der Utopien gegenüberstehen. Auch im Reich der Mitte bestimmt die Logik des Marktes das Geschehen. Im Lichte dieser unumkehrbaren Tatsache nun sieht sich Mankell zu einer Aktualisierung von Ideen Mao-Tse-Tungs beauftragt.
Anhand der in solchen Fällen üblichen Unterscheidung zwischen Lebendigem und Toten ist die Aufgabe allerdings schnell erledigt. Vergessen wir Mao als den Erfinder des Großen Sprungs nach vorn und der Kulturrevolution! Beides ist nicht gut gelaufen, die Großexperimente haben ein paar Millionen Menschen bedauerlicherweise das Leben gekostet. Aber die Gesamtbilanz! Wie Moses die Seinigen hat Mao das Volk der Bauern aus der Knechtschaft der Mandarine herausgeführt. Sein Vermächtnis ist nach diesen Retuschen mit Händen zu greifen. Der große Vorsitzende ist, war und bleibt ein Herold der Gerechtigkeit, ergo: auch der Marktgerechtigkeit. Da die Märkte keine Stoppregeln für individuelle Bereicherung kennen, ist „kapitalistische Freiheit” zerstörerisch. Wohlmeinende Steuerung tut not. Zwar sollen die Produktivkräfte entfesselt werden, doch muss der gesellschaftlich produzierte Reichtum in einer Weise verteilt werden, die Klassenherrschaft verhindert.
Also stoßen im Pekinger Geschwisterpaar „alte”, sprich: gute, und „neue”, sprich: schlechte „Ideale” unversöhnlich aufeinander. Diesen Widerstreit der Werte durchatmet der Geist Mao Tse Tungs, damit wir den hausinternen Konflikt ja nicht zu einer Familienstreitigkeit verniedlichen. Erst die Geschichtsvision des chinesischen „Sehers”, „Propheten” und „Wissenschaftlers” hebt die Auseinandersetzung auf ihr welthistorisches Niveau, sprengt die Gattungsgrenzen des Familienromans und verleiht der Kontroverse, zumindest für Henning Mankells Begriffe, den Glutkern ihrer globalen Aktualität.
„Mao hatte gewusst, was kommen würde.” Er hatte bereits 1949, im Jahre der Proklamation der Volksrepublik China, gesagt: „Die Menschen müssen gar nicht böse sein. Sie streben trotzdem nach dem, wovon sie sich Vorteile versprechen. Die Mandarine sind nicht tot. Wenn wir nicht wachsam sind, stehen sie eines Tages vor uns und halten rote Fahnen in den Händen.” Diese Warnung steckt uns Mankell hinter den Spiegel, damit wir die Misere der Gegenwart umso klarer erkennen. Hong Quis Bruder ist die exemplarische Verkörperung der wiedergeborenen Mandarine. Auch wenn sie ihre Ideale in rote Tücher schlagen, vom Wohlstand für alle und dem Ende der Armut schwadronieren, kaschiert die Rhetorik nur den Egoismus des Habenwollens. Dem alten Adam reißt Maos dialektisch geschulte Prophetie die Maske vom Gesicht. Stets wird der Fortschritt auf dem Weg zur gerechten Gesellschaft durch Egoismus gefährdet, China ist überall.
Wachsam im Sinne Maos zu sein, bedeutet folglich, die Fassaden zu durchschauen, die materiellen Motive zu erkennen und das Böse im Menschen zu bekämpfen, sein ewiges Streben nach Vorteilen und Privilegien. Selbstverständlich ist dieser Kampf unser aller Auftrag. Aber Moral bliebe zur Ohnmacht verurteilt, rüstete sie sich nicht mit den Zwangsmitteln des Staates auf. Hong Qui sieht nur eine Chance dafür, die „Zersplitterung” und den „Verfall” der chinesischen Gesellschaft abzuwenden. Die ökonomische Entwicklung muss „unter die Kontrolle der Partei” kommen, soll der Entsolidarisierung begegnet und die Zerstörung der Umwelt, die nach ihrem Dafürhalten „zum Wesen des Marktes” gehört, abgewendet werden. Diese beiden Zwecke rechtfertigen den Führungsanspruch der Staatspartei. Sie begründen im Übrigen die politische Wahlverwandtschaft zwischen der chinesischen und der schwedischen Beamtin, deren Wege sich einmal in Peking kreuzen.
Auch Brigitta, die Mankell nicht zufällig als Allegorie einer überarbeiteten Justitia ins Spiel bringt, ist in den späten sechziger Jahren Maoistin gewesen. Bezeichnenderweise fehlt den Frauen aus Ost wie West das Vertrauen in die politische Gestaltungsmacht einer Zivilgesellschaft. Freie Assoziationen von Bürgerinnen und Bürgern, die sich der öffentlichen Angelegenheiten annehmen, tauchen in Mankells weltgesellschaftlichem Panorama nicht auf. Offenbar verbietet ihm sein weichgespülter Maoismus, vorstaatliche Quellen einer Solidarität unter Fremden in Betracht zu ziehen. Um die Apokalypse abzuwenden und dem Egoismus der Individuen zu trotzen, plädiert Henning Mankells globalisierungskritisches Manifest für einen Pakt mit dem kältesten Ungeheuer der Moderne, dem Staat. „Der Chinese” ist ein unheimliches Buch. MARTIN BAUER
Was ist das Böse, wenn nicht der Egoismus des Habenwollens
Der Kapitalismus gehört unter die Kontrolle der Partei
Mao hatte gewusst, was kommen würde: Abbildung aus dem Band „Chinese Propaganda Posters” , herausgegeben von Michael Wolf (Taschen Verlag, Köln 2003).
Wer sagt denn, die Utopien von 1968 seien längst aufgegeben? Nein, sie haben nur die Wissenschaft verlassen und leben im Kriminalroman fort. Dort sind sie erfolgreicher als je: Die Gesamtauflage der Bücher Henning Mankells liegt bei dreißig Millionen Exemplaren. Foto: Thomas Lohnes/ddp
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Henning Mankells jüngster Roman „Der Chinese” empfiehlt den Maoismus mit menschlichem Antlitz
„Bad is the world”, sagte William Shakespeare. Wenig spricht dafür, dass sich die Lage seither grundsätzlich gebessert hätte. Gut, wir verfügen mittlerweile über schmerzstillende und entzündungshemmende Arzneimittel, der Strom kommt als Lebenselixier der Wissensgesellschaften aus jeder Steckdose, und der Staat kümmert sich, bei deutlich eingekürzten Transferleistungen, um die sozial Schwachen, und darum, dass die Züge pünktlich fahren. Andererseits ist der medizinisch-technische Komplex verantwortlich für eine kaum noch einzudämmende Kostenexplosion im Gesundheitswesen, nutzen die Energiekonzerne Monopolstellungen aus, um die Rendite auf dem Rücken ihrer Kunden ständig aufzubessern, und die beschlossene Privatisierung der Bahn bietet ein untrügliches Zeichen dafür, dass die staatliche Sorge um die öffentlichen Güter zunehmend in private Hände gerät. Streng genommen, oder sagen wir doch besser: dialektisch gesehen, kann es nach dem annähernd globalen Triumph des Kapitalismus eigentlich nur noch bergab gehen.
Wem letzte Zweifel die apokalyptische Sicht auf den Zustand der Welt noch verstellen sollten, dem dürfte Hennig Mankells jüngste Veröffentlichung mit einer nachdrücklichen Lektion aufhelfen. Unter dem Tarnanstrich eines Kriminalromans ist seine 600 Seiten umfassende politische Streitschrift am vergangenen Wochenende in sieben Ländern gleichzeitig herausgekommen. Sie trägt den Titel „Der Chinese” (Zsolnay Verlag, Wien 2008. 603 Seiten, 24,90 Euro) und wird verlagsseitig als „internationaler Thriller” beworben.
Doch nicht nur die Erscheinungsorte von Mankells meinungsstarker Abhandlung sind international verteilt. Auch die Schauplätze des Plots umgreifen den Globus. Vordergründig geht es um die Aufklärung eines entsetzlichen Massakers, bei dem ein mutmaßlich psychopathischer Killer 19 Unschuldige in einem gottverlassenen mittelschwedischen Kaff mit einem chinesischen Schwert niedergemetzelt hat. Hinter dieser abstoßenden Fassade rollt der schwedische Weltgesellschaftsbeobachter eine lange Geschichte auf, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt und bis in die unmittelbare Gegenwart hineinragt. Sie handelt von Versklavung, Niedertracht und Entrechtung, von Landnahme, Korruption und Mord, von Ausbeutung, Machtmissbrauch und Kolonialismus. Das ganze Ensemble der Widerwärtigkeiten erstreckt sich über wechselnde Ort- und Landschaften in Europa, den Vereinigten Staaten, China und Afrika. Dass sich kriminelle Energie globalisiert und die Gewissenlosigkeit der Gierigen, Rachsüchtigen und Machthungrigen weltweit ausgedehnt hat, ist schnell begriffen. Etwas mehr Zeit nimmt die Erkenntnis in Anspruch, dass sich die Natur des Bösen im Zuge seiner Globalisierung nicht verändert hat. In der Essenz ist das Böse geblieben, was es für Karl Marx gewesen war – der Egoismus des Habenwollens.
Sollen Bücher heute international reüssieren, gelingt ihnen das leichter, wenn sie einen Sozialverband thematisieren, der in der Krise steckt. Sie wenden sich daher bevorzugt der Familie zu, der Keimzelle der bürgerlicher Gesellschaft. Henning Mankell hat seine dialektische Naturgeschichte des Bösen durch gleich zwei Familiengeschichten eingerahmt. Die eine porträtiert eine schwedischen Mittelstandsfamilie, die andere eine chinesische Großfamilie, deren weit in die Vergangenheit zurückweisende Genealogie jetzt in drei noch verbliebene Mitglieder ausläuft. Die schwedische Familie leidet an den üblichen Malaisen: das Ehepaar Roslin hat sich einander entfremdet, die Attraktion zwischen den Partnern ist verblasst. Birgitta, eine Richterin, und ihr als Bahnschaffner tätiger Mann (der die Juristerei aufgegeben hat) gehen ihren beruflichen Pflichten nach, die Kinder sind aus dem Haus. Am Schluss jedoch finden alle wieder zueinander, und eine der Töchter teilt zur Freude der Eltern mit, sie beabsichtige Politologie zu studieren – ein rundes Happy End.
Von der chinesischen Familie bleibt dagegen nur ein junger, im britischen Exil lebender Sohn übrig, der in Londons Straßen an der archaischen Schuld trägt, seinen Onkel in einem Akt unvermeidlicher Blutrache getötet zu haben. Kein Happy End, sondern die tragische Wiederauflage alteuropäisch einschlägiger Verstrickungen, der Fluch der Atriden hier im exil-chinesischen Remix.
Es ist auch für den aufmerksamen Leser nicht leicht zu verstehen, wie der Massenmord in Hälsingland, Brigitta Roslin aus Schonen und die chinesische Großfamilie miteinander zusammenhängen – aber sie hängen zusammen, weil im historischen Materialismus und in der Theorie der Globalisierung stets alles mit allem zusammenhängt.
Die Mutter des Rächers heißt Hong Qui. Sie ist eine Spitzenbeamtin im chinesischen Staatsapparat, zuständig für Fragen innerer und äußerer Sicherheit. Ihr Bruder ist der Großindustrielle Ya Ru, der dank ruchloser Machenschaften zu der Unternehmerelite aufgestiegen ist, die Chinas entfesselter Kapitalismus mit exorbitantem Reichtum beglückt. Hong Qui und Ya Ru liegen überkreuz, weil der Bruder andere Prinzipien verficht als die Schwester, die in der Rolle einer überzeugten Kommunistin sehr für sich einnimmt. Dass sie gelegentlich ein bisschen undurchsichtig operiert, mag typisch für Sicherheitsfachleute sein, freilich adelt ein geradezu glühendes Verantwortungsbewusstsein für das große gesellschaftliche Ganze ihr Fühlen und Handeln. Hong Quis Herz schlägt vor allem für das Millionenheer der chinesischen Bauern, die Maos langer Marsch doch nicht aus unsäglichem Elend befreit haben kann, damit sie im China der Jetztzeit in den Ziegelfabriken ihres Bruders neuerlich versklavt werden. Kurzum, in Hong Qui tritt eine makellose Klassenkämpferin auf – und dass ihre Vergangenheit als Rotgardistin. Dass Henning Mankell womöglich unschöne Details aus der Zeit ihres kulturrevolutionären Elans als Rotgardistin ausspart, nehmen wir verwundert zur Kenntnis.
Zwischen Ya Ru und Hong Qui spielt sich, gut maoistisch, der Kampf zweier Linien ab. Nach dem Tod des großen Vorsitzenden, nach dem siegreichen Kampf gegen dessen letzte Gattin – als dem Kopf der sogenannten Viererbande wird ihrer kurz mit Abscheu gedacht – und nach dem segensreichen Wirken Deng Hsiao Pings stehen sich allerdings nicht mehr Revolution und Reaktion, Kommunismus und Kapitalismus am Scheideweg der Utopien gegenüberstehen. Auch im Reich der Mitte bestimmt die Logik des Marktes das Geschehen. Im Lichte dieser unumkehrbaren Tatsache nun sieht sich Mankell zu einer Aktualisierung von Ideen Mao-Tse-Tungs beauftragt.
Anhand der in solchen Fällen üblichen Unterscheidung zwischen Lebendigem und Toten ist die Aufgabe allerdings schnell erledigt. Vergessen wir Mao als den Erfinder des Großen Sprungs nach vorn und der Kulturrevolution! Beides ist nicht gut gelaufen, die Großexperimente haben ein paar Millionen Menschen bedauerlicherweise das Leben gekostet. Aber die Gesamtbilanz! Wie Moses die Seinigen hat Mao das Volk der Bauern aus der Knechtschaft der Mandarine herausgeführt. Sein Vermächtnis ist nach diesen Retuschen mit Händen zu greifen. Der große Vorsitzende ist, war und bleibt ein Herold der Gerechtigkeit, ergo: auch der Marktgerechtigkeit. Da die Märkte keine Stoppregeln für individuelle Bereicherung kennen, ist „kapitalistische Freiheit” zerstörerisch. Wohlmeinende Steuerung tut not. Zwar sollen die Produktivkräfte entfesselt werden, doch muss der gesellschaftlich produzierte Reichtum in einer Weise verteilt werden, die Klassenherrschaft verhindert.
Also stoßen im Pekinger Geschwisterpaar „alte”, sprich: gute, und „neue”, sprich: schlechte „Ideale” unversöhnlich aufeinander. Diesen Widerstreit der Werte durchatmet der Geist Mao Tse Tungs, damit wir den hausinternen Konflikt ja nicht zu einer Familienstreitigkeit verniedlichen. Erst die Geschichtsvision des chinesischen „Sehers”, „Propheten” und „Wissenschaftlers” hebt die Auseinandersetzung auf ihr welthistorisches Niveau, sprengt die Gattungsgrenzen des Familienromans und verleiht der Kontroverse, zumindest für Henning Mankells Begriffe, den Glutkern ihrer globalen Aktualität.
„Mao hatte gewusst, was kommen würde.” Er hatte bereits 1949, im Jahre der Proklamation der Volksrepublik China, gesagt: „Die Menschen müssen gar nicht böse sein. Sie streben trotzdem nach dem, wovon sie sich Vorteile versprechen. Die Mandarine sind nicht tot. Wenn wir nicht wachsam sind, stehen sie eines Tages vor uns und halten rote Fahnen in den Händen.” Diese Warnung steckt uns Mankell hinter den Spiegel, damit wir die Misere der Gegenwart umso klarer erkennen. Hong Quis Bruder ist die exemplarische Verkörperung der wiedergeborenen Mandarine. Auch wenn sie ihre Ideale in rote Tücher schlagen, vom Wohlstand für alle und dem Ende der Armut schwadronieren, kaschiert die Rhetorik nur den Egoismus des Habenwollens. Dem alten Adam reißt Maos dialektisch geschulte Prophetie die Maske vom Gesicht. Stets wird der Fortschritt auf dem Weg zur gerechten Gesellschaft durch Egoismus gefährdet, China ist überall.
Wachsam im Sinne Maos zu sein, bedeutet folglich, die Fassaden zu durchschauen, die materiellen Motive zu erkennen und das Böse im Menschen zu bekämpfen, sein ewiges Streben nach Vorteilen und Privilegien. Selbstverständlich ist dieser Kampf unser aller Auftrag. Aber Moral bliebe zur Ohnmacht verurteilt, rüstete sie sich nicht mit den Zwangsmitteln des Staates auf. Hong Qui sieht nur eine Chance dafür, die „Zersplitterung” und den „Verfall” der chinesischen Gesellschaft abzuwenden. Die ökonomische Entwicklung muss „unter die Kontrolle der Partei” kommen, soll der Entsolidarisierung begegnet und die Zerstörung der Umwelt, die nach ihrem Dafürhalten „zum Wesen des Marktes” gehört, abgewendet werden. Diese beiden Zwecke rechtfertigen den Führungsanspruch der Staatspartei. Sie begründen im Übrigen die politische Wahlverwandtschaft zwischen der chinesischen und der schwedischen Beamtin, deren Wege sich einmal in Peking kreuzen.
Auch Brigitta, die Mankell nicht zufällig als Allegorie einer überarbeiteten Justitia ins Spiel bringt, ist in den späten sechziger Jahren Maoistin gewesen. Bezeichnenderweise fehlt den Frauen aus Ost wie West das Vertrauen in die politische Gestaltungsmacht einer Zivilgesellschaft. Freie Assoziationen von Bürgerinnen und Bürgern, die sich der öffentlichen Angelegenheiten annehmen, tauchen in Mankells weltgesellschaftlichem Panorama nicht auf. Offenbar verbietet ihm sein weichgespülter Maoismus, vorstaatliche Quellen einer Solidarität unter Fremden in Betracht zu ziehen. Um die Apokalypse abzuwenden und dem Egoismus der Individuen zu trotzen, plädiert Henning Mankells globalisierungskritisches Manifest für einen Pakt mit dem kältesten Ungeheuer der Moderne, dem Staat. „Der Chinese” ist ein unheimliches Buch. MARTIN BAUER
Was ist das Böse, wenn nicht der Egoismus des Habenwollens
Der Kapitalismus gehört unter die Kontrolle der Partei
Mao hatte gewusst, was kommen würde: Abbildung aus dem Band „Chinese Propaganda Posters” , herausgegeben von Michael Wolf (Taschen Verlag, Köln 2003).
Wer sagt denn, die Utopien von 1968 seien längst aufgegeben? Nein, sie haben nur die Wissenschaft verlassen und leben im Kriminalroman fort. Dort sind sie erfolgreicher als je: Die Gesamtauflage der Bücher Henning Mankells liegt bei dreißig Millionen Exemplaren. Foto: Thomas Lohnes/ddp
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
In recht deutliche Worte fasst Mark Siemons seine Ablehnung von Henning Mankells "Der Chinese": Als Krimi oder Polit-Thriller könne er das weitgehend wenig originelle Buch nicht bezeichnen, dazu ging ihm in diesem "Gefühlte-Geschichte-mit-aktuellen-Auswirkungen-Roman" die Handlung zu schleppend voran. Mit den "aktuellen Auswirkungen" meint der Rezensent die Morde, die ein psychopathischer Chinese an Schweden begeht, um sich für das Unrecht, das seine Vorfahren vor 150 Jahren durch Schweden erlitten haben, zu rächen. Der (einzige) Vorzug des Romans besteht für den Kritiker darin, dass er die chinesisch-europäische Beziehung im 19. Jahrhundert eingängig thematisiert und dadurch Fragen aufwirft. Aber diese pädagogische Absicht sieht Mark Siemons durch den surrealen "Mief" und die eindimensionale Darstellung der Chinesen desavouiert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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