Zum ersten Mal seit langer Zeit macht es wieder Spaß, deutsche Literatur zu lesen. Die jungen Autoren der sogenannten Pop-Literatur proben - auf ganz unterschiedliche Weise - einen neuen Umgang mit dem marken- und mediendominierten Erscheinungsbild unserer Gegenwart. Sie schreiben das kulturelle Archiv dieser Gegenwart fort und um (Andreas Mand), analysieren einzelne Aspekte davon (Thomas Meinecke) oder bewegen sich souverän im Netz seiner Enzyklopädien und Sprachspiele (Benjamin von Stuckrad-Barre). Das öffentliche Thema der 90er Jahre: Erinnerung, Fortbestand der Altlasten deutscher Geschichte in der Berliner Republik, wird von dieser Generation vermieden oder auf neue Weise angegangen (Thomas Brussig). Die Qualität dieses Erzählens zeigt sich im Kontrast zur zeitgleichen E-Literatur (Handke, Hilbig, Müller) und zum sogenannten Neuen Erzählen (Bernhard Schlink). Was dabei herauskommt, mag (wie die Kriminalromane von Wolf Haas) Pop sein und vor allem Spaß machen, darf aber darumin d er Stringenz seiner literarischen Verfahren nicht unterschätzt werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.01.2003Der Diskurs tanzt
Volle Speicher: Moritz Baßlers Pop-Literaturwissenschaft
Der Mensch heißt Mensch, weil er vergißt, weil er verdrängt. Pophits dagegen werden rasch unvergeßlich und gehen nicht mehr aus dem Ohr. "Aber wenn der Golffahrer schon damit anfängt, die gleiche Musik wie ich zu hören, wäre es ja nicht abwegig, daß wir auch sonst einiges gemeinsam haben, und deshalb wende ich mich dann von dieser Musik ab", so beschrieb der Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre im "popkulturellen Quintett" 1999 das Gesetz der Grenzziehung. Bei Proust heißt es einmal, daß nichts wahre Kunst sein könnte, was nicht mindestens die Hälfte des Publikums ablehne. Und dann geht Stuckrad-Barre hin und schreibt im "Spiegel" eine hymnische Rezension der neuen CD von Herbert Grönemeyer, die sich mittlerweile zweieinhalb Millionen Male verkauft hat. Geht das zusammen?
In Moritz Baßlers Studie über die deutsche Pop-Literatur der neunziger Jahre kommt diese Volte eines der stilbildenden Pop-Autoren noch nicht vor. Doch sie läßt sich mit seinen Thesen leicht erklären. Nach Baßler haben die Vertreter des Genres nämlich erkannt, daß es vor dem Sekundären ohnehin kein Entrinnen gibt und man sich dann auch gleich den Wonnen der Gewöhnlichkeit hingeben dürfe. "CHRISTIAN KRACHT: Das Problem ist der Konsens. JOACHIM BESSING: Aber warum sträuben wir uns gegen den Konsens? Es ist doch eigentlich schön, ein Teil von etwas zu sein." Die Distinktion des Dandys scheint passé; was bleibt, ist "Ironic-Hell" (Bessing) - oder die konsequente Rückkehr zum Rock, zu "Oasis" oder eben Grönemeyer. Bei Baßler werden aus solchen Nöten Tugenden - Erzählverfahren, die sich von der Authentizität verabschiedet haben und Texte als Speichermedium für all die Phrasen und Slangs, Markennamen und Musiktitel verstehen, die unserer Mediengesellschaft so durch die kollektive Rübe rauschen. Der Mensch heißt Mensch, weil er erinnert, weil er kämpft - wogegen? Gegen das Vergessen natürlich, wie früher.
Zu diesem Zweck gibt es Archive, oder eben, so der Untertitel, "Archivisten": Autoren, deren Texte die Dinge aus dem "wertlosen profanen Raum" (Boris Groys) in das kulturelle Gedächtnis einspeisen. Nun mag man fragen, was das mit Pop-Literatur zu tun hat. Taugt nicht jeder beliebige Roman stets wenigstens zur Rumpelkammer seiner Epoche? Von diesem trivialen Verständnis unterscheidet Baßler eine raffiniertere Form der Archivierung, die zum poetischen Prinzip wird. Stuckrad-Barre verwendet "Oasis"-Songtitel als Überschriften und nimmt die Handlung zum Anlaß letztinstanzlicher Geschmacksurteile; Thomas Meinecke übt sich in einem komplexen Nachschreiben von Theorie-Diskursen; Max Goldts bahnbrechendes "Kultur-Tagebuch" wiederum ballt die Phrasen aus Werbung und Betroffenheitskitsch zu Kunst.
Baßlers Literaturgeschichte nimmt ihren Ausgang von den Realismus-Debatten seit Ende der achtziger Jahre: Neben eine formbewußte und als sperrig verschrieene Avantgarde trat ein an angloamerikanischen Vorbildern orientiertes, "lesbares" Erzählen. Nach Baßler verfehlt die übliche Entgegensetzung - "unverständliche Moderne versus filmischer Realismus" - aber den springenden Punkt. Realismus könne heute nicht mehr bedeuten, ein fiktionales Klein-Universum mit hohem Plot-Anteil zu erzeugen. Mit einer exemplarischen Detailanalyse von Bernhard Schlinks Erfolgsroman "Der Vorleser", dessen melodramatische Geschichte einer geläuterten KZ-Aufseherin sich als haarsträubender Moral-Kitsch erweist, markiert Baßler suggestiv die Grenzen solchen Schreibens.
Den gegen die Pop-Literatur oft ins Feld geführten Vorwurf, nichts als Benutzeroberflächen ohne Tiefgang zu bieten, kehrt er um, indem er eine Wahrnehmung genau jener inkriminierten Oberflächen fordert, über die das zeitgenössische Bewußtsein alltäglich gleitet. Gegen eine "Literatur der ersten Worte" stellt Baßler das Katalogprinzip. In dieser nominalistischen Poetik verbürgen allgemeine Begriffe weniger Wirklichkeit als konkrete Namen, die Enzyklopädie des Alltags. Eine Liste der "Fahrradläden in Studentenstädten, die wirklich so heißen", wie sie Stuckrad-Barre aufstellt, wäre der Extremfall einer solchen inventarisierenden Literatur. Wen kümmert's, wer spricht? Hauptsache, ein Band läuft mit.
Doch was, wenn Oberflächen oberflächlich gelesen werden? Die fast schon sprichwörtliche Barbour-Jacke und das Jever, die Christian Krachts "Faserland" zum "Gründungsdokument" der Bewegung" machten, fertigt Baßler rasch ab. Die emphatische Rezeption dieses "traditionellen Problemromans" hält er für ein Mißverständnis, obwohl dessen "Markenfetischismus" durchaus Archivarbeit leiste. In einem Exkurs wird der Umgang mit Marken zum Lackmustest der Zeitgemäßheit, bei dem etwa Herta Müller und Wolfgang Hilbig glatt durchfallen. Den "Sammlern" des Sprachschutts stehen die "Jäger" auf den Spuren der Eigentlichkeit gegenüber. So Peter Handke, der im Serbien-Buch das Fehlen aller Markennamen als Triumph einer ursprünglichen Wirklichkeit deutet, in der noch unverdorbene "Markenworte" gelten. Eine Rose ist zwar eine Rose, aber "Brot" ist nicht gleich "Golden Toast".
Über viele Wertungen dieses meinungsfreudigen Buchs läßt sich streiten - auch darin liegt seine Qualität. Christoph Peters' Roman "Stadt Land Fluß" etwa "kriegt am Ende die Kurve nicht" (dabei klang der Titel doch vielversprechend katalogisierend); Judith Hermann biete altbackenen Realismus, der sich mit "popkulturellen Accessoires" die "Aura des Gegenwärtigen verleihe". Überzeugend dagegen die Auseinandersetzung mit Rainald Goetz, der gemeinhin ja als Inbegriff des Pop-Literaten gehandelt wird, doch hier als sentimentalischer Don Quijote erscheint, der sich - wie weiland die Goethe-Zeit und konträr zu Meinecke - an der Archivierung dessen abarbeitet, was noch nicht Diskurs ist, nämlich Sound, Drogen oder Sex. Es gilt: "Der Diskurs ist die Musik, und nicht umgekehrt."
Tatsächlich ist das Material der Pop-Literatur stets die bereits vorgeprägte Sprache; musikalische Begriffe wie Schneiden und Sampling bleiben Metaphern. Nach Baßler ist es kein Zufall, daß in so vielen Pop-Romanen die Musikkassette - "das gute alte Magnetophonband BASF" (Meinecke) - eine zentrale Rolle spielt. Sie ist das Dingsymbol der neuen Archivisten, das Speichermedium ihrer Generation. Literatur ist Mitschnitt der (sprachlich vermittelten) Gegenwart; der Autor kein DJ, sondern der kleine Junge an der roten Record-Taste.
Baßler läßt seine Geschichte mit Andreas Mands "Grover"-Romanen beginnen, die dem jungen Literaturwissenschaftler in der Tübinger Gelehrtenrepublik Anfang der neunziger Jahre zum Initialerlebnis wurden. Um diese Kindheitsromane unter die Pop-Literatur fassen zu können, muß Baßler seine Kategorien gleich zu Anfang reichlich dehnen - so weit, daß man auch die "Suche nach der verlorenen Zeit" dazu rechnen müßte. Autobiographie ist für Literaturtheorie aber kein Thema mehr. Statt von individueller Erinnerung spricht sie vom "Archiv" und "kulturellem Gedächtnis", als sei ein Buch eine Jukebox, bei der nicht Handkes einsamer Wanderer, sondern der Diskurs selbst sein Lieblingslied auswählt. In Baßlers Fall wäre das sicher eindeutig ein Rocksong, denn "schon das Geschäft von Mick Jagger und Angus Young war im Grunde: Dekonstruktion".
Der ungewöhnliche Blick auf das Material erklärt sich aus der wissenschaftlichen Prägung Baßlers durch den "New Historicism" eines Stephen Greenblatt. Wie dieser die Werke Shakespeare als kulturelle Archive der elisabethanischen Epoche liest und mit juristischen oder naturwissenschaftlichen Diskursen der Zeit verschaltet, so blickt Baßler auf die Werke eines Thomas Brussig oder Wolf Haas, an dem im Schlußkapitel noch einmal die gelingende Synthese von Archiv und Narration vorgeführt wird - als Fluchtpunkt einer im Grunde normativen Poetik. Doch nicht nur hier wird deutlich, daß Speichern poetologisch nie Selbstzweck sein kann, sondern stets Funktion einer Erzählung ist. Sei es als Stein des Anstoßes einer mémoire involontaire, als enzyklopäisches Projekt des "totalen Romans" oder pragmatisch wie bei Haas als kriminalistische Beweissicherung.
Das soll Baßlers Leistung nicht schmälern. Sein Buch ist ein Musterbeispiel dafür, wie Germanistik literaturkritisch produktiv werden kann. Auch sein unterhaltsamer, doch nie flapsiger Stil setzt für dieses Genre Maßstäbe, wenn etwa Handkes Mystifizierung in Kanistern angebotenen Benzins - "eine Kostbarkeit, ein Bodenschatz" - mit dem Zitat eines Werbeslogans der Lächerlichkeit preisgegeben wird: "Hier tanken sie auf!" Die Wissenschaft hat sich sehr zu ihrem Vorteil vom Gegenstand infizieren lassen - ironic hell ist überall. Am Ende erweist sich auch die Neigung zum Geschmacksurteil als typisch popkulturelle Geste. Oder ist es nicht umgekehrt, und Stuckrad-Barre gibt vielmehr Grönemeyer ein Eckchen von seinem Sitz in einem künftigen Pop-Pantheon ab?
Moritz Baßler: "Der deutsche Pop-Roman". Die neuen Archivisten. Verlag C.H. Beck, München 2002. 224 S., br., 12,90 [Euro].
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Volle Speicher: Moritz Baßlers Pop-Literaturwissenschaft
Der Mensch heißt Mensch, weil er vergißt, weil er verdrängt. Pophits dagegen werden rasch unvergeßlich und gehen nicht mehr aus dem Ohr. "Aber wenn der Golffahrer schon damit anfängt, die gleiche Musik wie ich zu hören, wäre es ja nicht abwegig, daß wir auch sonst einiges gemeinsam haben, und deshalb wende ich mich dann von dieser Musik ab", so beschrieb der Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre im "popkulturellen Quintett" 1999 das Gesetz der Grenzziehung. Bei Proust heißt es einmal, daß nichts wahre Kunst sein könnte, was nicht mindestens die Hälfte des Publikums ablehne. Und dann geht Stuckrad-Barre hin und schreibt im "Spiegel" eine hymnische Rezension der neuen CD von Herbert Grönemeyer, die sich mittlerweile zweieinhalb Millionen Male verkauft hat. Geht das zusammen?
In Moritz Baßlers Studie über die deutsche Pop-Literatur der neunziger Jahre kommt diese Volte eines der stilbildenden Pop-Autoren noch nicht vor. Doch sie läßt sich mit seinen Thesen leicht erklären. Nach Baßler haben die Vertreter des Genres nämlich erkannt, daß es vor dem Sekundären ohnehin kein Entrinnen gibt und man sich dann auch gleich den Wonnen der Gewöhnlichkeit hingeben dürfe. "CHRISTIAN KRACHT: Das Problem ist der Konsens. JOACHIM BESSING: Aber warum sträuben wir uns gegen den Konsens? Es ist doch eigentlich schön, ein Teil von etwas zu sein." Die Distinktion des Dandys scheint passé; was bleibt, ist "Ironic-Hell" (Bessing) - oder die konsequente Rückkehr zum Rock, zu "Oasis" oder eben Grönemeyer. Bei Baßler werden aus solchen Nöten Tugenden - Erzählverfahren, die sich von der Authentizität verabschiedet haben und Texte als Speichermedium für all die Phrasen und Slangs, Markennamen und Musiktitel verstehen, die unserer Mediengesellschaft so durch die kollektive Rübe rauschen. Der Mensch heißt Mensch, weil er erinnert, weil er kämpft - wogegen? Gegen das Vergessen natürlich, wie früher.
Zu diesem Zweck gibt es Archive, oder eben, so der Untertitel, "Archivisten": Autoren, deren Texte die Dinge aus dem "wertlosen profanen Raum" (Boris Groys) in das kulturelle Gedächtnis einspeisen. Nun mag man fragen, was das mit Pop-Literatur zu tun hat. Taugt nicht jeder beliebige Roman stets wenigstens zur Rumpelkammer seiner Epoche? Von diesem trivialen Verständnis unterscheidet Baßler eine raffiniertere Form der Archivierung, die zum poetischen Prinzip wird. Stuckrad-Barre verwendet "Oasis"-Songtitel als Überschriften und nimmt die Handlung zum Anlaß letztinstanzlicher Geschmacksurteile; Thomas Meinecke übt sich in einem komplexen Nachschreiben von Theorie-Diskursen; Max Goldts bahnbrechendes "Kultur-Tagebuch" wiederum ballt die Phrasen aus Werbung und Betroffenheitskitsch zu Kunst.
Baßlers Literaturgeschichte nimmt ihren Ausgang von den Realismus-Debatten seit Ende der achtziger Jahre: Neben eine formbewußte und als sperrig verschrieene Avantgarde trat ein an angloamerikanischen Vorbildern orientiertes, "lesbares" Erzählen. Nach Baßler verfehlt die übliche Entgegensetzung - "unverständliche Moderne versus filmischer Realismus" - aber den springenden Punkt. Realismus könne heute nicht mehr bedeuten, ein fiktionales Klein-Universum mit hohem Plot-Anteil zu erzeugen. Mit einer exemplarischen Detailanalyse von Bernhard Schlinks Erfolgsroman "Der Vorleser", dessen melodramatische Geschichte einer geläuterten KZ-Aufseherin sich als haarsträubender Moral-Kitsch erweist, markiert Baßler suggestiv die Grenzen solchen Schreibens.
Den gegen die Pop-Literatur oft ins Feld geführten Vorwurf, nichts als Benutzeroberflächen ohne Tiefgang zu bieten, kehrt er um, indem er eine Wahrnehmung genau jener inkriminierten Oberflächen fordert, über die das zeitgenössische Bewußtsein alltäglich gleitet. Gegen eine "Literatur der ersten Worte" stellt Baßler das Katalogprinzip. In dieser nominalistischen Poetik verbürgen allgemeine Begriffe weniger Wirklichkeit als konkrete Namen, die Enzyklopädie des Alltags. Eine Liste der "Fahrradläden in Studentenstädten, die wirklich so heißen", wie sie Stuckrad-Barre aufstellt, wäre der Extremfall einer solchen inventarisierenden Literatur. Wen kümmert's, wer spricht? Hauptsache, ein Band läuft mit.
Doch was, wenn Oberflächen oberflächlich gelesen werden? Die fast schon sprichwörtliche Barbour-Jacke und das Jever, die Christian Krachts "Faserland" zum "Gründungsdokument" der Bewegung" machten, fertigt Baßler rasch ab. Die emphatische Rezeption dieses "traditionellen Problemromans" hält er für ein Mißverständnis, obwohl dessen "Markenfetischismus" durchaus Archivarbeit leiste. In einem Exkurs wird der Umgang mit Marken zum Lackmustest der Zeitgemäßheit, bei dem etwa Herta Müller und Wolfgang Hilbig glatt durchfallen. Den "Sammlern" des Sprachschutts stehen die "Jäger" auf den Spuren der Eigentlichkeit gegenüber. So Peter Handke, der im Serbien-Buch das Fehlen aller Markennamen als Triumph einer ursprünglichen Wirklichkeit deutet, in der noch unverdorbene "Markenworte" gelten. Eine Rose ist zwar eine Rose, aber "Brot" ist nicht gleich "Golden Toast".
Über viele Wertungen dieses meinungsfreudigen Buchs läßt sich streiten - auch darin liegt seine Qualität. Christoph Peters' Roman "Stadt Land Fluß" etwa "kriegt am Ende die Kurve nicht" (dabei klang der Titel doch vielversprechend katalogisierend); Judith Hermann biete altbackenen Realismus, der sich mit "popkulturellen Accessoires" die "Aura des Gegenwärtigen verleihe". Überzeugend dagegen die Auseinandersetzung mit Rainald Goetz, der gemeinhin ja als Inbegriff des Pop-Literaten gehandelt wird, doch hier als sentimentalischer Don Quijote erscheint, der sich - wie weiland die Goethe-Zeit und konträr zu Meinecke - an der Archivierung dessen abarbeitet, was noch nicht Diskurs ist, nämlich Sound, Drogen oder Sex. Es gilt: "Der Diskurs ist die Musik, und nicht umgekehrt."
Tatsächlich ist das Material der Pop-Literatur stets die bereits vorgeprägte Sprache; musikalische Begriffe wie Schneiden und Sampling bleiben Metaphern. Nach Baßler ist es kein Zufall, daß in so vielen Pop-Romanen die Musikkassette - "das gute alte Magnetophonband BASF" (Meinecke) - eine zentrale Rolle spielt. Sie ist das Dingsymbol der neuen Archivisten, das Speichermedium ihrer Generation. Literatur ist Mitschnitt der (sprachlich vermittelten) Gegenwart; der Autor kein DJ, sondern der kleine Junge an der roten Record-Taste.
Baßler läßt seine Geschichte mit Andreas Mands "Grover"-Romanen beginnen, die dem jungen Literaturwissenschaftler in der Tübinger Gelehrtenrepublik Anfang der neunziger Jahre zum Initialerlebnis wurden. Um diese Kindheitsromane unter die Pop-Literatur fassen zu können, muß Baßler seine Kategorien gleich zu Anfang reichlich dehnen - so weit, daß man auch die "Suche nach der verlorenen Zeit" dazu rechnen müßte. Autobiographie ist für Literaturtheorie aber kein Thema mehr. Statt von individueller Erinnerung spricht sie vom "Archiv" und "kulturellem Gedächtnis", als sei ein Buch eine Jukebox, bei der nicht Handkes einsamer Wanderer, sondern der Diskurs selbst sein Lieblingslied auswählt. In Baßlers Fall wäre das sicher eindeutig ein Rocksong, denn "schon das Geschäft von Mick Jagger und Angus Young war im Grunde: Dekonstruktion".
Der ungewöhnliche Blick auf das Material erklärt sich aus der wissenschaftlichen Prägung Baßlers durch den "New Historicism" eines Stephen Greenblatt. Wie dieser die Werke Shakespeare als kulturelle Archive der elisabethanischen Epoche liest und mit juristischen oder naturwissenschaftlichen Diskursen der Zeit verschaltet, so blickt Baßler auf die Werke eines Thomas Brussig oder Wolf Haas, an dem im Schlußkapitel noch einmal die gelingende Synthese von Archiv und Narration vorgeführt wird - als Fluchtpunkt einer im Grunde normativen Poetik. Doch nicht nur hier wird deutlich, daß Speichern poetologisch nie Selbstzweck sein kann, sondern stets Funktion einer Erzählung ist. Sei es als Stein des Anstoßes einer mémoire involontaire, als enzyklopäisches Projekt des "totalen Romans" oder pragmatisch wie bei Haas als kriminalistische Beweissicherung.
Das soll Baßlers Leistung nicht schmälern. Sein Buch ist ein Musterbeispiel dafür, wie Germanistik literaturkritisch produktiv werden kann. Auch sein unterhaltsamer, doch nie flapsiger Stil setzt für dieses Genre Maßstäbe, wenn etwa Handkes Mystifizierung in Kanistern angebotenen Benzins - "eine Kostbarkeit, ein Bodenschatz" - mit dem Zitat eines Werbeslogans der Lächerlichkeit preisgegeben wird: "Hier tanken sie auf!" Die Wissenschaft hat sich sehr zu ihrem Vorteil vom Gegenstand infizieren lassen - ironic hell ist überall. Am Ende erweist sich auch die Neigung zum Geschmacksurteil als typisch popkulturelle Geste. Oder ist es nicht umgekehrt, und Stuckrad-Barre gibt vielmehr Grönemeyer ein Eckchen von seinem Sitz in einem künftigen Pop-Pantheon ab?
Moritz Baßler: "Der deutsche Pop-Roman". Die neuen Archivisten. Verlag C.H. Beck, München 2002. 224 S., br., 12,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
In seinem Buch "Der deutsche Pop-Roman" liefert Moritz Baßler zur Freude von Rezensent Andreas Bernard eine "literaturgeschichtlich gedeckte Positionsbestimmung" der deutschen Pop-Literatur. Wie Bernard ausführt, geht es der Pop-Literatur nach Baßlers Deutung um eine Art "sekundären Realismus": nicht das mimetische Abbilden einer Individualgeschichte stehe im Blickpunkt, sondern das Zusammenstellen einer Enzyklopädie, anstelle von Gegenständen werde von den Redeweisen über diese Gegenstände erzählt, referiert Bernard die zentrale These Baßlers. Das große Verdienst der Popliteratur erblickt Baßler darin, dass sie der Gegenwartsliteratur Gegenwart eingeflößt hat - ein Befund, dem der Rezensent voll und ganz zustimmt. Was Bernard allerdings ein wenig auf die Nerven geht, sind Baßlers stilistische Brüche. Neben "abgelegenster strukturalistischer Terminologie" finden sich laut Rezensent jede Menge "Flapsigkeiten", so als ob der Autor beweisen wollte, dass er sowohl auf akademischen, als auch auf popkulturellen Parkett sicher ist. Abgesehen davon lobt Bernard Baßlers Untersuchung der Pop-Literatur als "wohltuende Ausnahme" in der Diskussion um dieses Genre.
© Perlentaucher Medien GmbH
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