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Produktdetails
  • Fischer Taschenbücher
  • Verlag: FISCHER Taschenbuch
  • Lim. Sonderausg.
  • Seitenzahl: 419
  • Gewicht: 368g
  • ISBN-13: 9783596502370
  • ISBN-10: 3596502373
  • Artikelnr.: 25053973
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.08.2011

Der Mythos „Barbarossa“
Hitler-Deutschlands Überfall auf die Sowjetunion ist siebzig Jahre her – die Fehden der Geschichtsforscher halten an
Verloschen, verblichen, mit Großvätern und Vätern begraben sind persönliche Erinnerungen an den
22. Juni 1941: an das Artilleriefeuer über Bug und Memel an diesem Sonntagmorgen; an den bei Eydtkau am östlichen Ende der Reichsstraße 1 beiseitegeholzten Grenzschlagbaum, kurz nach drei Uhr, pünktlich aufs Codewort „Dortmund“ aus Hitlers Berlin; an deutsche Bombenteppiche auf Kiew, Riga, Sewastopol.
In Merkels Berlin und darum herum ist der „Plan Barbarossa“, der Überfall auf die Sowjetunion 1941, keine stark nachgefragte Vergangenheit. Auch in Russland, das damals drei Jahre und zehn Monate lang gegen Fremdbestimmung, Liquidierung und Versklavung ankämpfte, sind die Enkel nur noch schwer zum Gedenken zu bewegen. Veteranen, die noch vor zehn Jahren leicht als Zeitzeugen mobilisiert werden konnten, zählten am Rande der diesjährigen Jubiläumsparade zum Siegestag im Großen Vaterländischen Krieg gerade noch nach Hunderten.
In dieser ost-westlichen Gemengelage allmählichen Vergessens ist es verdienstvoll, dass zwei Veteranentitel der zeitgeschichtlichen Forschung über Hitlers Russlandfeldzug wieder publiziert wurden. Das Lob gilt dem Fischer-Verlag, der sowohl den Sammelband der Militärhistoriker Gerd R. Ueberschär und Wolfram Wette „Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion“ als auch eine von der Konstanzer Historikerin Bianka Pietrow-Ennker herausgegebene Aufsatzsammlung neu aufgelegt hat. Beide Bücher vereinen ein großes Spektrum zeitgeschichtlichen Sachverstandes mit enormer Datenfülle.
Zwar sind seither gewiss Schlachtenverläufe plausibler ausgedeutet worden, vor allem durch die 2008 abgeschlossene Reihe „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“ des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes in Potsdam. Gleichwohl ist bei neuerlicher Lektüre bemerkenswert, wie frisch fast alle Beiträge der älteren Bücher sich immer noch ausnehmen, wie unbeschadet Forschungs- und Denkansätze ihrer Autoren sämtliche Beben und Nachbeben von Historikerstreit, Wehrmachtsausstellung und Präventivkriegdebatte überstanden haben.
Der Band von Ueberschär und Wette geht den ideologischen und propagandistischen Legitimationsversuchen des Ostkrieges nach: den nazistischen Pseudobegründungen von der „Lebensraum“-Suche bis zur militärischen Prävention gegen ein angebliches „jüdisch-bolschewistisch-plutokratisches Komplott“. Besonders eindrucksvoll ist Christian Streits pointierte Zusammenfassung seines Ende der siebziger Jahre erschienenen, damals aufsehenerregenden Buches über den erbärmlichen Hungertod Hunderttausender sowjetischer Kriegsgefangener – hart am kalkulierten Massenmord durch die Wehrmacht.
Die von Bianka Pietrow-Ennker edierte Streitschrift richtet sich gegen „das Märchen vom ‚Präventivkrieg‘“, das sie schon vor elf Jahren als „endgültig widerlegt“ beschrieb. Besonders der Bochumer Historiker Bernd Bonwetsch machte sich die Mühe sorgfältiger Quellenprüfung: Er fand nicht einen überzeugenden Beleg für einen von Stalin terminierten Angriff auf das Deutsche Reich. Doch vermochte das bis heute wenig an Bonwetschs Diagnose zu ändern, dass am rechten Rand der Historikerzunft und mehr noch in Kreisen nationaler Hobby-Geschichtsdeuter nach wie vor „Spekulationen, Vermutungen, Behauptungen und Tatsachen geradezu bedenkenlos vermischt“ werden, um die Überfallenen als wahre Angreifer zu decouvrieren – und damit wieder in den Endlosschleifen Goebbels’scher Schuldzuweisungen von 1941 anzukommen.
Dass dagegen Hitler lange vor Kriegsbeginn in Polen den idealen „antirussischen Schützengraben“ sah, hat nun der Berliner Historiker Rolf-Dieter Müller in seinem neuesten Buch „Der Feind steht im Osten“ überzeugend dargestellt. Solange Warschau eine gegen Russland gerichtete Komplizenschaft mit dem Reich nicht endgültig abgelehnt hatte, sei ein „Barbarossa (bereits) 1939“, so Müller, durchaus erwogen worden. Seiner Militärführung schärfte Hitler im Mai jenes Jahres ein: „Danzig ist nicht das Objekt, um das es geht. Es handelt sich für uns um die Erweiterung des Lebensraumes im Osten.“ Und, noch deutlicher, im Juli 1940: „Russisches Problem in Angriff nehmen. Gedankliche Vorbereitungen treffen.“
Warum jedoch hatte Stalin, den Umfragen im heutigen Russland noch immer in die Spitzengruppe historischen Führungspersonals wählen, gut 80 teils hochexakte Warnungen vor dem Angriff in den Wind geschlagen, warum war der Feind auf eine unvorbereitete Rote Armee getroffen? Warum hatte die Wehrmacht sie 1941 monatelang bis Moskau vor sich her treiben und dabei Hunderttausende töten und gefangennehmen können? Diese Fragen treiben russische Geschichtsforscher um.
Der Moskauer Militärhistoriker Ruslan Irinarchow stellt in gleich zwei neuen populärwissenschaftlichen Büchern (über den „Versäumten Schlag“ und die „Blutigen Straßen des Rückzugs“) ein detailliertes Ursachen-Cluster der Katastrophe vor: Viele Militärverbände waren nicht komplett; das Offizierskorps war beherrscht von der Furcht aus der Säuberungszeit 1937/38 und verharrte in Hab-Acht-Stellung vor der Moskauer Zentrale. Stalin selbst habe Zeit fürs eigene militärisch-politische Diktat gewinnen und deshalb dem deutschen Feindfreund ums Verrecken glauben wollen. Hinzu kamen die absurden, im Krieg verheerenden Ungereimtheiten einer auf Befehl und Gehorsam gestellten angeblichen „Diktatur des Proletariats“. Diese Fiktion sollte noch weitere 46 Jahre lang falsche Annahmen produzieren – bei den Oberen über die unten und umgekehrt.
Stalin hat kein eigenes Bild vom Zustand der Armee. Er vertraut seinen Berichterstattern und darauf, dass die mehr als fünf Millionen Mann unter Waffen jedem Angreifer standhalten könnten. Vor allem vertraut er darauf, dass sein bloßer Befehl im Handumdrehen die komplizierte Militärmaschinerie auf höchste Touren bringen werde. Ein schönes Beispiel für diesen grandiosen Selbstbetrug der Sowjetführung liefert das formelle Staatsoberhaupt Michail Kalinin noch 17 Tage vor Kriegsbeginn, als er angehende Offiziere belehrt: „Wir warten darauf (dass die Deutschen uns angreifen): je schneller, desto besser, weil wir ihnen dann ein für alle Mal den Hals umdrehen werden.“
Erst am frühen Morgen des 22. Juni 1941, keine drei Stunden vor dem Angriff, trifft bei den westlichen Wehrkreisen das Moskauer Telegramm mit dem Mobilmachungsbefehl ein. Bis dahin hatten vorgeschobene Einheiten den Grenzstreifen ohne besondere Genehmigung nicht einmal betreten dürfen. Dass angesichts solcher gravierender Fehler und Versäumnisse der stark demoralisierten Sowjetarmee vor Moskau die Wende gelingt, der deutsche Angriff steckenbleibt und, so Müller, „der Plan ,Barbarossa‘“ praktisch bereits „im August 1941 scheitert“, ist Futter für die postsowjetische Zeitgeschichtsforschung – freilich eher für die traditionelle, die es auf das Heldentum und Aufopferung im „Großen Vaterländischen Krieg“ abgesehen hat. Davon hat es gewiss reichlich gegeben. Aber auch auf diesem Feld harren, bis zum nächsten runden Datum, noch viele patriotische Mythen nüchterner Überprüfung.
JÖRG R. METTKE
GERD R. UEBERSCHÄR, WOLFRAM WETTE (Hrsg.): Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion „Unternehmen Barbarossa“ 1941. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011. 429 S., 13,40 Euro.
BIANKA PIETROW-ENNKER (Hrsg.): Präventivkrieg? Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011. 252 S., 13,40 Euro.
ROLF-DIETER MÜLLER: Der Feind steht im Osten. Hitlers geheime Pläne für einen Krieg gegen die Sowjetunion im Jahr 1939. Ch. Links Verlag, Berlin 2011. 296 S., 29,90 Euro.
RUSLAN IRINARCHOW: Agonia 1941. Krowawije dorogi otstuplenija. Jausa/Eksimo, Moskau 2011. 540 S., 187 Rubel.
RUSLAN IRINARCHOW: 1941. Propuschtschennyj udar. Jausa/Eksimo, Moskau 2011. 573 S., 205 Rubel.
Der Journalist Jörg R. Mettke arbeitet seit 1987 als Russland-Korrespondent, er lebt teils in Moskau, teils in Berlin.
Das Märchen vom deutschen
„Präventivkrieg“ ist widerlegt.
„Der Plan ,Barbarossa‘“ scheiterte
schon „im August 1941“.
Hier sehen wir die sowjetische Raumstation „Mir“, die viele Jahre lang und über den Systembruch 1991 hinweg um die Erde kreiste. 1997 gab es eine Katastrophe. Unser Künstler zeigt, wie die Kosmonauten – sie wurden damals weltweit für ihre „Entschlossenheit“ gepriesen – ohne Funkkontakt zur Erde die „Mir“ reparierten. Mit derselben Entschlossenheit ist die „Rote Armee“ dem Überfall der Deutschen 1941 begegnet: vom Kreml schlecht informiert, teils chaotisch, ohne Rücksicht auf Menschenleben – aber erfolgreich. (aug) Zeichnung: Haderer
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