Produktdetails
- Verlag: Brill Fink
- Seitenzahl: 340
- Deutsch
- Abmessung: 235mm
- Gewicht: 608g
- ISBN-13: 9783770530199
- ISBN-10: 3770530195
- Artikelnr.: 22329323
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.11.1996Stoßtrupp der Engel
Gabriele d'Annunzio kämpft um Fiume · Von Gert Mattenklott
Im Mai 1917 schreibt der Dichter Gabriele d'Annunzio an den Chef des Generalstabs des italienischen Heeres Cadorna einen Brief, in dem poetischer Enthusiasmus für das Erhabene und das technische "Know-how" moderner Waffentechnik wetteifern. Es geht um einen neuen dreimotorigen Dreidecker mit einer 240-PS-Nennleistung pro Motor und einer Tragfähigkeit von dreihundert Kilogramm in dreitausend Meter Höhe, umgerechnet: vier Personen Besatzung und zwölfhundert Kilogramm Bomben plus Kanonen, Instrumenten und Treibstoff. Aus ihrer subalternen Rolle würden diese neuen Instrumente zu "wesentlichen Elementen der Schlacht" aufsteigen. Was im Englischen "enlightenment" heißt und italienisch "illuminazione" - das biblische "Lichtwerden" assoziierend - erhält in d'Annunzios Sprache eine konkret materielle Ausdeutung: "Die Aufklärung, unterstützt von optischer Telegraphie und Lufttopographie, wird heute fast ausschließlich den himmlischen Geschwadern anvertraut."
Einerseits scheint damit das Zeitalter Montesquieus, Rousseaus und Voltaires in den technischen Operationen der Feindaufklärung eine makabre Engführung zu erfahren; andererseits wird diese aber in den Rang einer metaphysischen Bataille im Stil von Tintorettos Engelstoßtrupps unter Anführung sakraler Lichtgestalten erhoben. Die neue Wunderwaffe, die der Poet zum Einsatz bringen wollte, gehört zwei Ordnungen an, der waffentechnischen zur Zeit des Ersten Weltkriegs und einer geschichtstheologischen, in der das technische Mirakel den Ort einnimmt, den d'Annunzio für das Auftreten eines profanen Messias ausspart.
Die Erfahrung der Schlachtfelder macht ihre Opfer reif für "die fünfte Waffe, die geflügelte, verkörperte, die der wahre Vorbote des Sieges ist". Im selben Sinn träumt d'Annunzio von "der fünften Jahreszeit" außerhalb der natürlichen Ordnung oder der zehnten Kunst, deren noch unbekannte Muse "weder Zahl noch Namen" hat: "Sie ist den mystischen Kräften des arbeitenden und aufsteigenden Volkes vorbehalten. Sie ist gleichsam ein Votivbild, das dem unbekannten Genius, dem Erscheinen des gänzlich neuen Menschen, den Vergeistigungen der Werke und der Tage, der Erfüllung der Freiheit des Geistes durch Mühsal und Schweiß des Blutes geweiht ist."
So steht es in d'Annunzios Entwurf einer neuen Ordnung für den Freistaat Fiume, dessen episodisch-anekdotische Verwirklichung vom 12. September 1919 bis Weihnachten 1920 dauerte, als d'Annunzio als Freischarführer die Internationalisierung des Hafens verhinderte. Daß "der neue Mensch" außerhalb der Natur zur Welt kommt; daß er asymmetrisch zur rechtwinkligen Welt steht; daß er als ein Zarathustra aus dem Osten die verbrauchte westliche Welt herausfordert, ist das gemeinsame mythologische Credo des Nietzscheaners d'Annunzio und seines "Aktionssekretärs", des Barons Kellerer von Volkenkeller aus Mailand.
Nicht der chaotische Osten freilich soll hier am Ende triumphieren, sondern die lateinische Disziplin, neuerlich geimpft, gestärkt und siegreich das Feld behauptend gegen das Eindringen der balkanischen Fremdlinge nach der Auflösung des Habsburgischen Reiches. D'Annunzios Kampf für ein italienisches Fiume geht gegen Jugoslawien avant la lettre. Sein "lyrisches Zittern" ist durch die Infektion mit dem östlichen Fieber verursacht, das er in seinem berühmten Marsch auf Fiume niederhält. In der Phantasmagorik italienischen Nationalbewußtseins füllt das Abenteuer von Fiume die Lücke zwischen Garibaldis und Mussolinis Märschen auf Rom, mit anderen Worten: in der nationalen Mythologie verklammert d'Annunzios Heroismus Risorgimento und Faschismus.
Die Choreographie seiner Auftritte, sein Sinn für spektakuläre Coups und Effekte mit Fernwirkung, sind der Oper des neunzehnten Jahrhunderts abgesehen, und wer sich heute d'Annunzios Alterssitz und "Vermächtnis" an Italien, die Denkmalsanlage Il Vittoriale degli Italiani oberhalb des Gardasees anschaut, mag die Luft anhalten im Bad des Dichters mit den zahllosen Duftflakons oder im erträumten Orient seiner Wohnzimmer, ehe er im Garten aufatmend das Kanonenboot des "Kommandanten" zwischen Zypressen ausmacht.
Fasziniert von den futuristischen und vermeintlich futurischen Aspekten des italienischen Theatralikers, haben Hans Ulrich Gumbrecht, Friedrich Kittler, Bernhard Siegert und einige um sie versammelte Autoren den ästhetischen, aber auch ideologischen Schwerkräften in Leben und Werk d'Annunzios wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Im Vordergrund stehen statt dessen Rhetorik und Phantasmagorik des "Torpedobootdichters" (Budisavljevic) und die Stoßtrupp-Strategie seiner "Arditi" (Kittler), Blutopfer und Feuertaufe als Initiationsritual (Ballinger), d'Annunzios Ort in der Geschichte des Luftkriegs (Siegert) und "Fiumes Ort in der Genealogie des Faschismus" (Gumbrecht).
In der Entwicklung des akademischen Jargons ist "Verortung" an die Stelle der diskreditierten "Einordnung" der ehedem jungtürkischen Marxistengeneration getreten. So eröffnen die Herausgeber ihr Buch mit einer theoretischen Phantasie über die "Gegenwärtigkeit erinnerten Raumes". Von Seite zu Seite aufdringlicher wird daraus der Seminarraum einer kultursemiotisch ausschwärmenden Philologie von Beginn der neunziger Jahre, die selbstverliebt darauf aus ist, x-beliebige Sachen in ein Spiegelbild ihrer idées fixes aufzulösen. D'Annunzio im Spiel der Signifikanten zwischen Metonymie und Metapher, seine Welt als Text und dessen Autor als Agent eines neuartigen Aufschreibsystems ("Autorschaft als Luftherrschaft"), das Werk des Dichters als "permanenter Aufschub des Augenblicks der Wahrheit" - das sind einige der gegenwärtig meistgebrauchten, etüdenhaft verfügbaren Formeln, in deren Prokrustesbett noch die eigenartigsten und erstaunlichsten Phänomene um ihre Besonderheit gebracht werden.
Ernster ist zu nehmen, was hier als These unausgesprochen bleibt: die Aufwertung d'Annunzios und der Seinen zu Platzhaltern einer Modernisierungsleistung der faschistischen und kryptofaschistischen Bewegungen. Am überzeugendsten ist in diesem Zusammenhang der Hinweis auf die technische Fortentwicklung im Innern der ästhetischen Formen, wie Daniel Gethmann sie aufzeigt, indem er die Geschichte der Kamerafahrt in d'Annunzios Beiträgen zum Film untersucht. Aber was halten die Autoren von dieser "Modernisierung"?
D'Annunzio wird ihnen zum Gewährsmann einer Besetzung des zwanzigsten Jahrhunderts durch die Eigendynamik einer technologischen Entwicklung, die selbstreferentiell funktioniert und sich der Menschen nur noch als Vollstrecker bedient. Im Ersten Weltkrieg wurde die artilleristische Vorbereitung unmittelbar darauffolgender Nahkampf-Stoßtruppangriffe üblich. Die der Feuerwalze im Abstand von wenigen Metern Nachrückenden mußten damit rechnen, noch von den Granaten der eigenen Seite niedergemacht zu werden. In einer Art theoretischer Wollust verarbeitet Friedrich Kittler diese Strategie des Vorlaufens in die Möglichkeit des selbsterzeugten Todes als angebliches Muster für Heideggers Todesphilosophie: "In seiner Zerrissenheit, geworfener Entwurf sein zu müssen, trägt Heideggers Dasein den Wettlauf zwischen Taktik und Technik, Jemeinigkeit und Generalstabsarbeit, Stoßtrupp und OHL aus."
Das ist die Lesart des schwarzen Humors: das subjektive Innenfutter einer hier vorherrschenden Geschichtsbetrachtung, die den vermeintlichen Selbstlauf der technologischen "Diskurse" als mephistophelischen Stellvertreter für den verabschiedeten Weltgeist von Hegel und Marx einsetzt. In behaglichem Grausen exekutiert diese "Lektüre" theoretisch noch einmal, was historisch angeblich der Fall ist: die technologische Allgewalt. Für d'Annunzios Karneval ist diese Perspektive zu eng. Ob die Autoren - statt sich auf die großen Hauptwörter zu konzentrieren: Opfer, Tod, Erlösung . . . - nicht besser daran getan hätten, sich ihren Materialien gegenüber offener zu zeigen, statt um jeden Preis gescheit sein zu wollen?
Die Welt d'Annunzios war ein Tollhaus. Am 20. Januar 1920 wird er in der Kirche von St. Vito heiliggesprochen, während Clemenceau, Lloyd George und Wilson die politische Landkarte revidieren. Ende Februar schickt er 250 Kinder zu einem "Kreuzzug" Richtung Süden; Ende März desselben Jahres erläßt er ein gesetzliches Verbot von Süßigkeiten für Fiume und liefert 250 000 Gewehre an Ägypten. Mitte Mai werden die Bilder des heiligen Veit in Fiume gegen die Porträts des "Comandante" ausgetauscht. Mitte November wirft "Aktionssekretär" Baron Keller aus dem Flugzeug einen mit Rüben gefüllten Nachttopf über Roms Quirinale und eine Rose über dem Vatikan ab. Eine Woche später konzertiert Toscanini auf Einladung d'Annunzios in Fiume.
Kryptofaschismus? Wohl eher die Clownerie eines genialen Performers, der seine Werke im Bündnis mit der Macht inszenieren wollte. Mussolini jedenfalls schämte sich des ungebärdigen Pathetikers und behandelte seine Depeschen mit demonstrativ professioneller Geringschätzung.
Hans Ulrich Gumbrecht / Friedrich Kittler / Bernhard Siegert (Hrsg.): "Der Dichter als Kommandant. D'Annunzio erobert Fiume". Fink Verlag, München 1996. 340 S., br., 58,-DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gabriele d'Annunzio kämpft um Fiume · Von Gert Mattenklott
Im Mai 1917 schreibt der Dichter Gabriele d'Annunzio an den Chef des Generalstabs des italienischen Heeres Cadorna einen Brief, in dem poetischer Enthusiasmus für das Erhabene und das technische "Know-how" moderner Waffentechnik wetteifern. Es geht um einen neuen dreimotorigen Dreidecker mit einer 240-PS-Nennleistung pro Motor und einer Tragfähigkeit von dreihundert Kilogramm in dreitausend Meter Höhe, umgerechnet: vier Personen Besatzung und zwölfhundert Kilogramm Bomben plus Kanonen, Instrumenten und Treibstoff. Aus ihrer subalternen Rolle würden diese neuen Instrumente zu "wesentlichen Elementen der Schlacht" aufsteigen. Was im Englischen "enlightenment" heißt und italienisch "illuminazione" - das biblische "Lichtwerden" assoziierend - erhält in d'Annunzios Sprache eine konkret materielle Ausdeutung: "Die Aufklärung, unterstützt von optischer Telegraphie und Lufttopographie, wird heute fast ausschließlich den himmlischen Geschwadern anvertraut."
Einerseits scheint damit das Zeitalter Montesquieus, Rousseaus und Voltaires in den technischen Operationen der Feindaufklärung eine makabre Engführung zu erfahren; andererseits wird diese aber in den Rang einer metaphysischen Bataille im Stil von Tintorettos Engelstoßtrupps unter Anführung sakraler Lichtgestalten erhoben. Die neue Wunderwaffe, die der Poet zum Einsatz bringen wollte, gehört zwei Ordnungen an, der waffentechnischen zur Zeit des Ersten Weltkriegs und einer geschichtstheologischen, in der das technische Mirakel den Ort einnimmt, den d'Annunzio für das Auftreten eines profanen Messias ausspart.
Die Erfahrung der Schlachtfelder macht ihre Opfer reif für "die fünfte Waffe, die geflügelte, verkörperte, die der wahre Vorbote des Sieges ist". Im selben Sinn träumt d'Annunzio von "der fünften Jahreszeit" außerhalb der natürlichen Ordnung oder der zehnten Kunst, deren noch unbekannte Muse "weder Zahl noch Namen" hat: "Sie ist den mystischen Kräften des arbeitenden und aufsteigenden Volkes vorbehalten. Sie ist gleichsam ein Votivbild, das dem unbekannten Genius, dem Erscheinen des gänzlich neuen Menschen, den Vergeistigungen der Werke und der Tage, der Erfüllung der Freiheit des Geistes durch Mühsal und Schweiß des Blutes geweiht ist."
So steht es in d'Annunzios Entwurf einer neuen Ordnung für den Freistaat Fiume, dessen episodisch-anekdotische Verwirklichung vom 12. September 1919 bis Weihnachten 1920 dauerte, als d'Annunzio als Freischarführer die Internationalisierung des Hafens verhinderte. Daß "der neue Mensch" außerhalb der Natur zur Welt kommt; daß er asymmetrisch zur rechtwinkligen Welt steht; daß er als ein Zarathustra aus dem Osten die verbrauchte westliche Welt herausfordert, ist das gemeinsame mythologische Credo des Nietzscheaners d'Annunzio und seines "Aktionssekretärs", des Barons Kellerer von Volkenkeller aus Mailand.
Nicht der chaotische Osten freilich soll hier am Ende triumphieren, sondern die lateinische Disziplin, neuerlich geimpft, gestärkt und siegreich das Feld behauptend gegen das Eindringen der balkanischen Fremdlinge nach der Auflösung des Habsburgischen Reiches. D'Annunzios Kampf für ein italienisches Fiume geht gegen Jugoslawien avant la lettre. Sein "lyrisches Zittern" ist durch die Infektion mit dem östlichen Fieber verursacht, das er in seinem berühmten Marsch auf Fiume niederhält. In der Phantasmagorik italienischen Nationalbewußtseins füllt das Abenteuer von Fiume die Lücke zwischen Garibaldis und Mussolinis Märschen auf Rom, mit anderen Worten: in der nationalen Mythologie verklammert d'Annunzios Heroismus Risorgimento und Faschismus.
Die Choreographie seiner Auftritte, sein Sinn für spektakuläre Coups und Effekte mit Fernwirkung, sind der Oper des neunzehnten Jahrhunderts abgesehen, und wer sich heute d'Annunzios Alterssitz und "Vermächtnis" an Italien, die Denkmalsanlage Il Vittoriale degli Italiani oberhalb des Gardasees anschaut, mag die Luft anhalten im Bad des Dichters mit den zahllosen Duftflakons oder im erträumten Orient seiner Wohnzimmer, ehe er im Garten aufatmend das Kanonenboot des "Kommandanten" zwischen Zypressen ausmacht.
Fasziniert von den futuristischen und vermeintlich futurischen Aspekten des italienischen Theatralikers, haben Hans Ulrich Gumbrecht, Friedrich Kittler, Bernhard Siegert und einige um sie versammelte Autoren den ästhetischen, aber auch ideologischen Schwerkräften in Leben und Werk d'Annunzios wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Im Vordergrund stehen statt dessen Rhetorik und Phantasmagorik des "Torpedobootdichters" (Budisavljevic) und die Stoßtrupp-Strategie seiner "Arditi" (Kittler), Blutopfer und Feuertaufe als Initiationsritual (Ballinger), d'Annunzios Ort in der Geschichte des Luftkriegs (Siegert) und "Fiumes Ort in der Genealogie des Faschismus" (Gumbrecht).
In der Entwicklung des akademischen Jargons ist "Verortung" an die Stelle der diskreditierten "Einordnung" der ehedem jungtürkischen Marxistengeneration getreten. So eröffnen die Herausgeber ihr Buch mit einer theoretischen Phantasie über die "Gegenwärtigkeit erinnerten Raumes". Von Seite zu Seite aufdringlicher wird daraus der Seminarraum einer kultursemiotisch ausschwärmenden Philologie von Beginn der neunziger Jahre, die selbstverliebt darauf aus ist, x-beliebige Sachen in ein Spiegelbild ihrer idées fixes aufzulösen. D'Annunzio im Spiel der Signifikanten zwischen Metonymie und Metapher, seine Welt als Text und dessen Autor als Agent eines neuartigen Aufschreibsystems ("Autorschaft als Luftherrschaft"), das Werk des Dichters als "permanenter Aufschub des Augenblicks der Wahrheit" - das sind einige der gegenwärtig meistgebrauchten, etüdenhaft verfügbaren Formeln, in deren Prokrustesbett noch die eigenartigsten und erstaunlichsten Phänomene um ihre Besonderheit gebracht werden.
Ernster ist zu nehmen, was hier als These unausgesprochen bleibt: die Aufwertung d'Annunzios und der Seinen zu Platzhaltern einer Modernisierungsleistung der faschistischen und kryptofaschistischen Bewegungen. Am überzeugendsten ist in diesem Zusammenhang der Hinweis auf die technische Fortentwicklung im Innern der ästhetischen Formen, wie Daniel Gethmann sie aufzeigt, indem er die Geschichte der Kamerafahrt in d'Annunzios Beiträgen zum Film untersucht. Aber was halten die Autoren von dieser "Modernisierung"?
D'Annunzio wird ihnen zum Gewährsmann einer Besetzung des zwanzigsten Jahrhunderts durch die Eigendynamik einer technologischen Entwicklung, die selbstreferentiell funktioniert und sich der Menschen nur noch als Vollstrecker bedient. Im Ersten Weltkrieg wurde die artilleristische Vorbereitung unmittelbar darauffolgender Nahkampf-Stoßtruppangriffe üblich. Die der Feuerwalze im Abstand von wenigen Metern Nachrückenden mußten damit rechnen, noch von den Granaten der eigenen Seite niedergemacht zu werden. In einer Art theoretischer Wollust verarbeitet Friedrich Kittler diese Strategie des Vorlaufens in die Möglichkeit des selbsterzeugten Todes als angebliches Muster für Heideggers Todesphilosophie: "In seiner Zerrissenheit, geworfener Entwurf sein zu müssen, trägt Heideggers Dasein den Wettlauf zwischen Taktik und Technik, Jemeinigkeit und Generalstabsarbeit, Stoßtrupp und OHL aus."
Das ist die Lesart des schwarzen Humors: das subjektive Innenfutter einer hier vorherrschenden Geschichtsbetrachtung, die den vermeintlichen Selbstlauf der technologischen "Diskurse" als mephistophelischen Stellvertreter für den verabschiedeten Weltgeist von Hegel und Marx einsetzt. In behaglichem Grausen exekutiert diese "Lektüre" theoretisch noch einmal, was historisch angeblich der Fall ist: die technologische Allgewalt. Für d'Annunzios Karneval ist diese Perspektive zu eng. Ob die Autoren - statt sich auf die großen Hauptwörter zu konzentrieren: Opfer, Tod, Erlösung . . . - nicht besser daran getan hätten, sich ihren Materialien gegenüber offener zu zeigen, statt um jeden Preis gescheit sein zu wollen?
Die Welt d'Annunzios war ein Tollhaus. Am 20. Januar 1920 wird er in der Kirche von St. Vito heiliggesprochen, während Clemenceau, Lloyd George und Wilson die politische Landkarte revidieren. Ende Februar schickt er 250 Kinder zu einem "Kreuzzug" Richtung Süden; Ende März desselben Jahres erläßt er ein gesetzliches Verbot von Süßigkeiten für Fiume und liefert 250 000 Gewehre an Ägypten. Mitte Mai werden die Bilder des heiligen Veit in Fiume gegen die Porträts des "Comandante" ausgetauscht. Mitte November wirft "Aktionssekretär" Baron Keller aus dem Flugzeug einen mit Rüben gefüllten Nachttopf über Roms Quirinale und eine Rose über dem Vatikan ab. Eine Woche später konzertiert Toscanini auf Einladung d'Annunzios in Fiume.
Kryptofaschismus? Wohl eher die Clownerie eines genialen Performers, der seine Werke im Bündnis mit der Macht inszenieren wollte. Mussolini jedenfalls schämte sich des ungebärdigen Pathetikers und behandelte seine Depeschen mit demonstrativ professioneller Geringschätzung.
Hans Ulrich Gumbrecht / Friedrich Kittler / Bernhard Siegert (Hrsg.): "Der Dichter als Kommandant. D'Annunzio erobert Fiume". Fink Verlag, München 1996. 340 S., br., 58,-DM.
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