Geflüchtet vor den Nazis, lebt der Dichter Clemens Teck während des Zweiten Weltkriegs mit seiner Familie in einem Boarding House in London und trifft dort auf Flüchtlinge aus Europa, »ein menschliches Wachsfigurenkabinett«. Um der »Stauung«, dem »schmerzhaften Leersein« zu entgehen, plant er eine »vivisektorische Novelle«, die nicht Abgelebtes erzählt, sondern in das Leben gleichgültiger Personen provozierend eingreift und sie aus ihrer Bedeutungslosigkeit aufscheucht: Der Schriftsteller als Experimentator, die Menschen als Objekte seiner handelnden Neugier.
Diese Geschichte, in deren Form sich die Vorliebe für die deutsche Romantik äußert: episodenhaft, vielfach gebrochen, Prosa und Lyrik munter mischend, ist auch ein Spiegelbild von Kerrs Leben im »Dauernd-Vorläufigen« des Exils. Sie zeigt den seiner Sprache, seiner Heiterkeit, seiner Erinnerungen noch immer mächtigen Kerr im Kampf gegen das Verstummen, seine Sehnsucht nach dem vormals unberechnet quellenden Leben und die »Abscheu vor dem einzig noch zu Erwartenden«.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Diese Geschichte, in deren Form sich die Vorliebe für die deutsche Romantik äußert: episodenhaft, vielfach gebrochen, Prosa und Lyrik munter mischend, ist auch ein Spiegelbild von Kerrs Leben im »Dauernd-Vorläufigen« des Exils. Sie zeigt den seiner Sprache, seiner Heiterkeit, seiner Erinnerungen noch immer mächtigen Kerr im Kampf gegen das Verstummen, seine Sehnsucht nach dem vormals unberechnet quellenden Leben und die »Abscheu vor dem einzig noch zu Erwartenden«.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.05.2003Bin ich Kerr? Bin ich Teck?
Alfred Kerrs größte Krise: In der unbekannten Novelle "Der Dichter und die Meerschweinchen" kämpfte der Kritiker gegen die Leere des Londoner Exils und seinen bedrohlichen Doppelgänger
Die Lebensspur des Kritikers und Schriftstellers Alfred Kerr endet nicht mit dem Februar 1933, als er aus Deutschland fliehen mußte. Er ist auch nicht entlassen aus unserer Erinnerung. Er hat sich durch seine Arbeit und seine Person tiefer eingeprägt als der Geist der Zeit, der in ihm erschien. Seine Hinterlassenschaft beschäftigt uns noch immer.
Am 18. September 1948 diktierte er seiner Frau Julia einen Brief, der sich auf diese Hinterlassenschaft bezog. Er sorgte sich, was damit nach seinem Tod sein werde. An diesem Tag lag Alfred Kerr, der einmal einer der scharfen kritischen Köpfe in Berlin war, im englischen Militärhospital in Hamburg. Er war linksseitig gelähmt durch einen Schlaganfall, der ihn in der Stunde getroffen hatte, in der er zum erstenmal wieder in einem deutschen Theater saß: Hamburg, Besenbinderhof (wo das Deutsche Schauspielhaus Hamburg damals sein Quartier hatte), Vorstellung "Romeo und Julia". Manchem war es, als hätte die Heimsuchung dieses forcierten Geistes bis zu diesem Augenblick gewartet, anderen erschien es wie ein versöhnendes Zeichen, daß der Emigrant das Sterben auf deutschem Boden annahm. Eine Aussicht auf Besserung seines Zustandes gab es nicht.
Alfred Kerr war fast einundachtzig Jahre alt. Er hatte sich auf diesen Besuch gefreut, war zum erstenmal in seinem Leben geflogen; er hatte aus London einen Auftrag, Bericht über den Zustand des deutschen Theaters zu geben. Das war nun alles dahin. Er, der der realistischen Literatur in Deutschland ein Vorkämpfer gewesen war, blieb auch in diesen Vorstunden seines Todes ein Realist für sich selbst. Die Absprache galt: daß einer der Gatten dem anderen aus dem Leben hülfe, sollte dieses nicht mehr lebenswert sein. Der Brief zeigt die Vorbereitungen auf diesen Augenblick. In ihm steht folgender Satz: "Ob die Novelle (in der untersten Schublade der Kommode in meinem Zimmer) ,Der Dichter und die Meerschweinchen' in dieser unkorrigierten und fast unleserlichen Form erscheinen könnte, ist zweifelhaft, aber es wäre mir ein Herzensbedürfnis. Denn die Novelle enthält neue Gesichtspunkte, die aufrichtig verwegen sind." Der Brief ist eine letzte Willensbekundung. Das Wort "Herzensbedürfnis", das man in Kerrs großem, noch immer packendem öffentlichen Wortschatz nicht vermuten konnte, sagt, daß er an dieser "Novelle" hing, als enthielte sie eine letzte Botschaft. Und auf "neue Gesichtspunkte" war der Künftiges erspürende Kerr immer stolz. Der Text ist bisher unveröffentlicht.
Er ist merkwürdig, aufstörend und seltsam: wie sein Titel. Er erklärt sich aus Kerrs Sarkasmus und aus der Attitüde des Naturforschers, die er als Herausgeber dieses Texts annahm. Forscher suchen mit Hilfe von Versuchstieren (etwa: Meerschweinchen) nach Erkenntnissen über Wesen und Verhalten ihrer Objekte. Sie sind an allem nur beobachtend interessiert, wie jene innerhalb der Versuchsanordnung reagieren.
Ein Schriftsteller verhält sich zu seinen Figuren kaum anders. Balzac, vor allem Flaubert sind Zeugen. Auch Kerr nimmt solche Haltung ein. Sie war ihm nicht ungewohnt. Was macht ein Kritiker des Theaters anderes, als Figuren auf der Bühne zu beobachten, was sie sind, wie sie sich verhalten, was aus ihnen wird, ob sie sich bewähren oder verfehlen oder - auf den Schauspieler gewendet: ob der Text ihn ergreift, ob er seine Rolle erfaßt und sich mit ihr weiterentwickelt. Die Frage nach der Veränderbarkeit des Menschen hat ihn, Kerr, der mit jeder Zeile seiner Kritiken auf Menschen Einfluß nahm, sehr beschäftigt.
Das Schlimmste ist
das abenteuerlose Jetzt
Seit Kerr sich zu öffentlicher Arbeit, also zum kritischen Journalismus entschieden hatte, war er entschlossen, mit Hinweis und Argument zu Erkenntnis und Veränderung des Denkens und Handelns beizutragen. Er begann damit vorsichtig in der Kaiserzeit. Mit dem Beginn der Republik sah er sich bestätigt. Er glaubte an die Erneuerbarkeit des menschlichen Denkens und Verhaltens, entwickelte in der Weimarer Republik entsprechende linke Sympathien. Und sah sich, 1933, durch die Vorgänge in Deutschland abgeschnitten von allem: von seinem Berlin, seiner Arbeit, seinem Kampf gegen die "Rückwärtserei", wie er das Aufkommen der Hitlerschen Bewegung nannte, auch von jenem Wirkungsfeld, das nicht zuletzt die deutsche Sprache war. Mit der Besetzung Frankreichs durch die deutschen Truppen verlor er auch die Publikationsmöglichkeiten in französischen Blättern und deutschsprachigen Exilzeitungen ("Pariser Tageblatt"). So blieb ihm in London fast nur noch das Schreiben für sich selbst.
Seine Berichte (gesammelt unter dem Titel "Ich kam nach England") sind die lesenswerten Zeugnisse. Dann begann für ihn, der ein unermüdbarer, publikumsbezogener Schreiber war, die wahre "Ödnis des Exils". Es wuchs mit dem Verstummen die Einsamkeit. Nicht das Abenteuer der Flucht, nicht die Exiljahre in Paris waren ihm "das Schlimme". Er verbuchte sie als "Zuwachs an Erfahrung". "Das Schlimme ist . . . das Abenteuerlose Jetzt. Die Stauung." Nun war der Zweite Weltkrieg im Gange. Deutsche Flugzeuge warfen Bomben auf London. Der aus seiner Grunewald-Villa geflohene Kerr lebte mit seiner Familie in einer Pension in Bloomsbury, später in Putney in London. Er traf dort auf Flüchtlinge aus Europa. "Ein menschliches Wachsfigurenkabinett in London im Hotel. Erst alles das brachte jenes schmerzhafte Leersein - das schmerzhafter als Schmerz ist." Verhältnisse: ärmlich; Seelenlage: bedrückend; Hoffnung: endend.
Was er in jenem Brief seine "Novelle" nannte, ist das Produkt dieser Situation. Nie hatte Kerr (sieht man von seinen Erinnerungen an Rathenau ab) bisher größere Erzählzusammenhänge entwickelt. Seine Form war der kurze, überschaubare, noch im Beschreiben lustvoll analysierende Bericht: die "Quittung für Erlebtes". Er suchte Erlebnisse, um zu schreiben. Schreiben war Ausdruck seiner Lebensgier. Im Exil schrieb er, um noch zu leben. Und fiel nun, abenteuerlos, auf sich selbst zurück.
Der Sarkasmus, der Witz, die Heiterkeit, die er sich im Schreiben der "Novelle" zu erhalten suchte, verdecken nicht die Verzweiflung, die ihn heimsuchte. "Tragik und Spaß zu trennen ist Fälschung", schrieb er absichtsvoll als Motto über die Geschichte, die er selbst geschrieben hat und doch nicht geschrieben haben will. Warum diese Entrückung? - War er noch Kerr? In Berlin wußte er und wußte man, wer er war: "Kerr!" Wer war er jetzt? In London kannten ihn nur die Emigranten. Sie waren nicht alle seine Freunde. Der Schreiber, der jetzt über sich, seine Umwelt, sein Leben zu reflektieren begann, in dem Erinnerungen wach wurden, die nicht mehr vom Denken an den nächsten Zeitungstag unterdrückt wurden, war nicht mehr der seiner selbst sichere Kerr von Berlin. Er war ein anderer, obwohl er der gleiche war. Er drohte sich selbst unbekannt, krank zu werden im Geiste. So suchte und eroberte er sich einen Stoff, der ihm nahe war, ihn beanspruchte und doch in seiner dürftigen Lage auch die Zeit spiegelte. Spielend experimentierte er in seiner gegenwärtigen Situation, die er "Leben" kaum noch nennen wollte, mit Bruchstücken aus seiner vorigen. Im Londoner Leben des Alfred Kerr spiegelte er sein verlassenes in Berlin: ohne Larmoyanz, ohne Sentimentalität. Man wundert sich, daß er über große Strecken so fröhlich ist. Man spürt an seinem Text: Er belebte sich wieder beim Schreiben.
Die Geschichte beginnt mit jener Differenz: War er noch Kerr! Oder doch schon ein anderer? Sie beginnt mit der Spaltung der Person. Ihr Verfasser ist Kerr, der nicht verheimlichen kann, daß sein Lebensstoff hier verhandelt wird. Als Verfasser stellt er schon anfangs klar: "Dieses Buch enthält nicht meine Geschichte. Sondern die Geschichte des Dichters Clemens Teck." Kerr, heißt das, will Kerr bleiben, obwohl anderes in ihm vorgeht. Was es ist, zeigt die zweite Person: Clemens Teck, der schon im voraus unsicher fragt: "Bin ich krank? Ich glaube nicht. Höchstens bin ich vom Kriege etwas zermürbt." Teck ist Kerrs anderes Ich: ist der auf sich selbst verwiesene Dichter, der Spannung in die Ödnis bringen will, den es "juckt", etwas "geschehen zu machen, wenn man in der Kriegswelt schon untätig sein muß". Er hat eine Novelle neuer Art im Sinn, die nicht Abgelebtes erzählt, sondern in das Leben gleichgültiger Personen provozierend eingreift, um sie "aus ihrer Bedeutungslosigkeit aufzuscheuchen" und zu sehen, wie ihr Inneres antwortet. Der Schriftsteller definiert sich als Experimentator, die Menschen als Objekte seiner handelnden Neugier.
Im Boardinghouse mit seinen vierunddreißig schmalen Zimmern gibt es Personen genug, die sich für seine intendierten Versuche eignen. Eben: das "Wachsfigurenkabinett". Flüchtlinge aus Polen wohnen dort, aus der Tschechoslowakei, aus Holland, Österreich, "je nachdem Hitler ein neues Land beschützt hatte", und aus Deutschland. Wie der Mathematiker aus Chemnitz, ein norddeutscher Jurist, eine Rheinländerin oder Ulla Schröder aus Hamburg, die eine wunderbare Person ist. Die greift er sich zuerst. Sie erscheint ihm als die "innere Verkörperung waterkantischen Wesens". Er will sie provozieren und schiebt ihr was zu. In Kerr war immer ein Schwerenöter. Man lese in den "Berliner Briefen" seine Geschichte mit Anna, der Briefträgerstochter. Wenn er verliebt war, machte er Gedichte, "Liebesstrophen". Die Verse entsprangen schnell seiner Leidenschaft. Im unausgepackten Koffer im Keller des Boardinghouse war ein Holzkästchen, durch Zufall gerettet: Es enthielt die Liebeszeichen von einst. Die holte er herauf. Er, wer? Kerr oder Teck? Also Teck.
Kerr sagt, sein Teck war selbst gerührt beim Wiederlesen seiner Verse. Die schob er Ulla Schröder zu: hochdeutsche, niederdeutsche, um zu sehen, wie sie reagiert. Verse, die er zum Beispiel auf der Insel Pellworm gemacht hatte. Anno 1915: "Stilles Land. Der Leuchtturm guckt / Über Inseln weit und breit. / Häuslein schilfgedeckt, geduckt/ In Verlassenheit. / Mannsvolk snakt am Deich entlang, / Wenn die Ebbedörfer ruhn: / Piepgras, Thamling, Fuglsang / Karsten, Hinrichs, Thomson, Bruhn." Reagiert sie? Gelingt die Novelle? Ulla bleibt nüchtern "Gib deiner Frau ain' Kuß . . . Glaub man nich, daß ich dumm bin."
Die Novelle stößt auf Schwierigkeiten. Ulla kam für das Experiment nicht in Betracht. Doch Teck gibt nicht auf. Aber er spürt schon ein schlechtes Gefühl bei seinem "Menschenexperiment". Er betreibt es um der neuen literarischen Gattung, der "vivisektorischen Novelle", willen, in der sich "das Geschriebene mit dem Getanen" verbindet. Wird die Idee zur Manie? Teck warnt sich selbst: "Dieser Gedanke, Menschen irrezuführen, vielleicht größenwahnsinnig zu machen, dadurch zuletzt unglücklich (beides war mir gleich), dieser Gedanke . . . wächst zu einem sonderbaren Zwange . . . Fürchten könnt man sich." Und ist fasziniert vom nächsten Versuch.
Ein sudetendeutscher Schriftsteller drängt sich ihm auf. Er ist aus der Nähe von Aussig: Heinz Hermann Jahn. Ein Dramatiker mit Ambition, der in London aufgeführt werden will. Dem "beriehmten" Teck huldigt er. Teck spürt die Versuchung, was anderes aus ihm zu machen, ihn zu steigern, eine Tat an dem beflissenen Streber zu tun - wie einst Ibsen für Kerr: Klärung des Weges. Kerrs Schriften dazu stehen in Tecks Regal. Er liest sie zur Beruhigung. Kerr wartet auf Jahns Drama - und erfährt, daß die britische Polizei einen Hochstapler und Betrüger abgeholt hat. Ein mißlungenes Experiment abermals? Teck ahnt danach, ihm drohe "irgend etwas". Betreibt er eine Fiktion? Er steht vor sich wie ein Fremder, beginnt sich selbst zu beobachten. Teck spürt, daß er in Lelia, seiner Frau - die er liebt wie Kerr seine Julia - einen Halt hat, die ihn ernüchtert, ihn zur Vernunft ruft: "Dein früherer Lebenshunger ist ja nichts im Vergleich mit dieser Sucht, ja Sucht - mit dieser Gier nach Bestätigung am menschlichen Versuchstier . . . Was ist es anders? Und was ist all das?!"
Lelia-Julia: Der Umgang mit der Doppelfrau wird für Teck-Kerr ein großes Ausruhen, ein Sich-Erinnern an vergangene Tage. An Gemeinsamkeiten, an ein Glück, das durch das Exil beeinträchtigt, aber nicht zerbrochen ist. In dieser Geschichte vom Ausbruch und Fortschreiten einer Wahnvorstellung, die der Lebensleere entspringt, sind die Szenen um Lelia und die Kinder, denen Hitler das rosa Kaninchen stahl, wie große Liebesinseln, wie Beschwörungen von Halt und Seligkeit; sie sind durchseelt von Gedichten.
Die größte dieser Lelia-Huldigungen wirkt wie eine Bitte, nicht zu zürnen, wenn ihn, Clemens Teck, die Erinnerung weiter fortträgt zu einer jungen Frau, die seine erste große Liebe war, lange vor Lelia-Julias Zeit. Die Erinnerung an Gemma, das Mädchen aus Südtirol, steht in ihm wieder auf. Ein Unfall hat sie dahingerafft, als der Erste Weltkrieg ausbrach (oder war der Fön in der Badewanne doch ein Selbstmord?). Er trifft eine Luxemburgerin, Emma Winckler, die ihn an Gemma erinnert. Und schon wird das Experiment neu angefacht. "Alles in mir schrie: - ,Gemma . . .!'" - als könne er in dieser kühlen Frau die Gemma von einst wiedererwecken. Er schickt der Luxemburgerin die Gedichte, die er Gemma schrieb. Sie bleibt taub. Aber die Vergangenheit steht auf, und so, wie Kerr seine Geschichte mit Gemma erzählt, geziert mit immer neuen, aus dem Vergessen geholten Gedichten, lesen wir eine der schönsten Liebesgeschichten, die denen Tucholskys nahe rückt. Sie beleuchtet (in der Teckschen Verfremdung) mehr als ein Stück Kerrscher Liebesvergangenheit. Sie erzählt von seiner Liebesbereitschaft, seiner eigenen Verwandlung durch die junge Frau, durch die bleibende und zukunftsbeherrschende Kraft vergangenen Erlebens. "Dein Ich, Gemma, hat mich nie verlassen." Beglückt und erschüttert, erfährt er, daß sie nach dem Tod noch mit ihm lebt "in aller jungen, ewigen Schönheit". Er sieht an den Gedichten, die er hervorkramt, daß vom Leben nichts bleibt als die Kunst.
Das Experiment, jemandem
den Kopf zu verdrehen
Kerr, der Liebhaber junger Frauen, weiß, daß man Frauen verführen kann durch Verse, durch Witz und Humor. Für seine Novelle versucht es Clemens Teck noch einmal mit Gedichten, die einer anderen galten. Die Neugier auf das Ergebnis mischt sich mit seinen Skrupeln. Für das Experiment muß man jemandem den Kopf verdrehen. Er begreift, daß er Unstatthaftes tut; daß "der Mensch manchmal ein Schwein ist", weil er mit Täuschung arbeitet, um seine Ziele zu erreichen. Aber noch zieht er sich aus der Verlegenheit mit der Ausrede, er sei ein Schriftsteller, der seine "Erlösung aus der Untätigkeit" sucht, der weiß, "wozu es einem ganz gegen, gegen, gegen den eigenen Willen lockt".
Die Ausrede hält nicht, auch wenn das trügerische Experiment sich der Schreibnot des Exils verdankt. Teck spürt das Dilemma: "Verse kommen heilig in die Welt - und gehen unheilig heraus." Es ist der Mißbrauch, der ihn wahnsinnig macht, weil er seinem Projekt der Novelle hörig geworden ist. "Welche Gruppe fortgeschrittener Ärzte kommt für mich in Betracht?" Fortgeschritten wohl deswegen, weil seine Krankheit neuartiger Natur ist, der Exilwahnsinn. Einer fixen Idee nachlaufen, die aus der Schreibnot erlösen soll und die Not vergrößert. Der Arzt rät ihm, alles niederzuschreiben, was er bei seinem Versuch erfahren hat. Tecks Fazit: "Kein Meerschweinchen erlag mir. Die Novelle der Zukunft wird nicht geschrieben." Ein Projekt ist gescheitert. Möglich ist nur die Novelle der Novelle, als Bericht des Scheiterns.
Teck zieht Bilanz: Was trieb ihn? Die Sehnsucht nach einem "nicht mehr zu Erhoffenden"? Die Sehnsucht nach seinem "vormals unberechnet quellenden Leben" und der Abscheu vor dem, was zu erwarten ist? Vor der fortschreitenden Tristesse des Exils. War es der Traum von einst "in dem gegenwärtigen tödlichen Aschermittwoch"? Teck packt der Schauder der Vergänglichkeit, des kommenden Abschieds. Es ist der kritische Punkt. Da trifft Teck vor dem Britischen Museum in London Alfred Kerr, den immer Vergnügten, Fordernden. "Wir sahen einander an. Mit einem Blick wie: Was nun? Das Ende?" Und Kerr sagt: "Nicht absatteln. Mit dem Megaphon die furchtbare Zeit anraunzen. Nichts aufgeben. Nicht in den Wahn flüchten."
Wie oft muß der Schreiber dieser verzweifelten Zeilen sich selbst das gesagt haben, was er seinem anderen Ich hier auf den Weg gibt. Er fand in sich wohl einen Teck, der in den Wahn floh, in eine Sucht, mit dem Experiment an anderen das eigene, vergangene Leben zurückzuholen. Klar sagt Kerr hier zu Teck: "Sie selber sind das schiechste aller Meerschweinchen." Er läßt Teck stehen mit den Worten "Sie . . . Sie . . .". Und meint damit: Du, du selbst bist es. Betrachte, was mit dir geschieht.
Und die Reflexion auf sich selbst beginnt. In der vorangestellten "Bitte des Dichters" hatte Teck schon gesagt: "Ich komme gegen meinen Willen dazu, mich zu beobachten - und merke dann einiges, das ich früher nicht gemerkt habe." "Ich suche mich nicht zu entschuldigen. Ich will vielmehr aufdecken, was vorliegt. Auch gegen mich vorliegt." Der Punkt ist erreicht.
Was wie eine Erzählung, wie der Bericht eines anderen Schriftstellers namens Teck aussah, erscheint nun als Untersuchung in eigener Sache. War Tecks früheres Tun ganz ohne Verdienst? Er rechnet sich zu, immer "ein ehrlicher Enthüller gewesen zu sein. Ein ehrlich Empfindender und Sagender." Soweit das kritische Unterscheiden in öffentlich interessierenden Dingen war, sagt er: "Und das ist ein Wert." Er sagt aber auch, daß er sich "mit alledem Haß, Argwohn, Nachteil, Feindschaft geschaffen" hat. Das sei vielleicht "eine Sühne". - "Buße" und "Sühne", die Worte erscheinen plötzlich in diesem Text, als wolle Kerr die Feindschaften und Verkümmerungen im Exil verstehen als Ausgleich für Verletzungen aus anderen seiner früheren Arbeiten. Er weiß: "Die Welt ist keinem dankbar, der sich zum eigenen Schaden entblößt." Man wird ihm das Bekenntnis verargen, ihn wohl auch beschimpfen. "Ich weiß jedoch, daß in diesem Verargtwerden eine selbstauferlegte Buße liegt." Man liest diese Sätze Kerrs, als wären sie für die Nachwelt geschrieben, die sich seiner erinnert.
Kerrs Teck gibt die Novelle auf, die eine Suche nach Neuland war. Was bleibt? Deutsche Bomben auf das Nachbarhaus, das Dach, das verwüstend in sein Zimmer stürzt, falsche Diagnosen zu einer unnötigen Krebsoperation. Und am Ende aller Niederschriften und dazwischengeschobenen Tagebucheintragungen die Angstvision von der schlimmsten aller Begegnungen; daß er in der fortschreitenden Verwirrung den Sohn nicht mehr erkennt, der vor ihm steht, in der Uniform der Royal Air Force, die Nacht für Nacht die Angriffe auf Deutschland fliegt. Dieses Deutschland, von dem er nicht loskommt, das immer wieder in seinen Gedanken auftaucht; das sein Leben war, ein Leben, von dem nichts blieb als die Gegenwart Lelias und die das Elend durchsonnenden Kinder.
Aufbäumen gegen
das Vergessen
In dem Versuch, Neuland zu finden mit der neuartigen Novelle, ist noch einmal wiederholt worden, was immer Kerrs Ziel war: Menschen zu ergreifen, zu beeinflussen, weiterzubringen. Schon als er begann, Kritiken zu schreiben, reflektierte er über das Verfahren des Kritikers: "Man betrachtet Dichter, wie ein Dichter Menschen betrachtet . . . Gewiß zeigt der Kritikus, wie sie ,sind'. Doch er zeigt in einem, wie er vor ihnen ist. Er macht was aus ihnen . . . Tretet darum alle ein in das Werk des Rezensenten, wie in ein Irrenhaus - wie in ein Menschenhaus. Seht die Menschen des Kritikers: Seht sie ihre künstlichen Menschlein schaffen. Seht die Verzerrung, seht die geschwellte Blödheit, seht den versuchten Betrug, seht das bleiche Unterliegen, seht die Glücklichen, die Schöpfer . . . Seht!"
Das war im Jahr 1902 und steht am Ende einer Auseinandersetzung mit dem Dramatiker Sudermann. Im Mißerfolg Tecks spiegelt sich die Enttäuschung über den geringen Erfolg seiner Bemühungen als Kritiker in den Berliner Jahren, nun verschärft, weil "alles Handeln gegen die Untat eines Landes erfolglos war". Aber er hebt auch die Menschenfreundlichkeit seiner Versuche gegenüber den Menschenversuchen und -verführungen in Hitlers Deutschland hervor. "Menschenversuche" ist das Kennwort in diesem Text. Klar heißt es: "Ich tue minder Irres als meine Zeitgenossen. Sie verführen die Menschen nicht zu sich selbst, sondern in einen Wahn. Machen sie zu Meerschweinchen ihrer Ideologie."
Dem Ende der "Novelle" fügt Kerr noch ein Nachwort hinzu. Abermals aus Tecks Papieren, als sei Teck nach den niedergeschriebenen Erfahrungen mit sich und den anderen zu neuer Klarheit und Entschiedenheit gekommen. Teck spricht davon, daß man Feind bleiben muß allem Chaotischen, Rauschhaften, allem "Dionysischen". Es sei "niederzuschlagen, wo man es trifft. Niederschlagen! Niederschlagen! Denn dies ist der empfehlbare Weg aller kommenden Entwicklung." Das ist der letzte Satz Tecks. Und der letzte von Kerr. Wie sagte er in seinem letzten Brief? Die Novelle sei ihm ein "Herzensbedürfnis".
Der Text wurde verschlossen, zuunterst in die Kommode gelegt. Das Manuskript zeigt an den verschiedenen Schriftzügen die lange, immer wieder neu ansetzende, verbessernde, ergänzende, fast ins "Unleserliche" führende Arbeit. Vermutlich entstand sie in den Jahren 1942 bis 1946. Nach Kerrs Tod war das Manuskript wohl nur für seine Frau Julia, die Lelia des Textes, lesbar. Sie, die 1947 nach Deutschland ging als Dolmetscherin zu den Nürnberger Prozessen, hat wohl auch für eine überlieferbare Abschrift gesorgt. Ihre wenigen Korrekturen im Typoskript zeigen, daß sie alles noch einmal überprüfte. 244 Seiten insgesamt. Ein Vermächtnis innerhalb dessen, was wir die Literatur des deutschen Exils nennen, ist Kerrs "Novelle" ein eigenwilliges Dokument. Es öffnet Einblicke in die Psychologie des Exils, in Kerrs eigene Biographie wie ins politische Feld. Und sie zeigt den seiner Sprache, seiner Heiterkeit, seiner Erinnerungen noch immer mächtigen Kerr im Kampf gegen das Verstummen, den Selbstverlust in der Reflexion über sich, sein Alter und seine Zukunft - auf eine neue dichterische Weise.
Die "Novelle", die eher ein Roman ist, verweist auf Kerrs Herkunft aus der Romantik. Es ist formal alles beisammen, was der Student Kerr in seinen Romantik-Studien (speziell zu Clemens Brentano, aber auch zu Jean Paul) in Berlin in sich aufnahm. Der Autor gibt sich als Herausgeber fremder Papiere, er behandelt eine Ich-Spaltung, führt vor einen Doppelgänger, mischt beider Erfahrungen, behandelt das Irrewerden und die Folgen des Schreibens, die Angst vor dem Wahnsinn, wechselt Erzähltext mit Tagebuchblättern, Prosa mit Gedichten, Vergangenheit und Gegenwart, Heiterkeit und Erschrecken, Witz und Verzweiflung, Überlegung und Schaudern. Der Autor erscheint selbst an der kritischen Stelle im Text, fügt den Namen seines Doppelgängers zusammen aus dem des verehrten Clemens Brentano und des oft schaurigen Ludwig Tieck. Er schreibt eine Novelle über das Scheitern einer Novelle und gibt ihr gerade dadurch ihren Inhalt. Ein Rezensent betrachtet und rezensiert sich selbst. "Warum betreibt man das Verfassen von Rezensionen? Um des Rezensenten willen", heißt es im Sudermann-Text von 1902. So ist alles durchzogen von jener romantischen Ironie, die mit ernsten, gefährlichen Dingen auf überlegene Weise umgeht, poetisch bleibt, wo sie das Gefährdende und Schreckliche meint, und dabei selbst die neue Form gewinnt, die ihr inhaltlich im versuchten "Experiment" abhanden kommt. Es ist ein anderer Kerr, als wir ihn kennen. Und ist doch, in Sprache, in Anmutung, auch der uns Vertraute: der Lebensüberlegene in der Betrübnis.
Kerrs Fabel handelt nicht nur von Exil und Berlin, sondern auch von der stachelnden und zehrenden Macht der Zeit. Was er damit als poetische Nachricht hinterließ, ist zu eindringlich, zu aufschlußreich, zu gut, als daß es - unverstanden - weiter im Archiv verkümmert und selbst von Exilforschern mißkannt wird. Ein forcierter Geist, der sich ins Jahrhundert einschrieb, spielte schmerzend zum letzten Mal mit dem, was sein Leben war, also mit sich selbst.
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Alfred Kerrs größte Krise: In der unbekannten Novelle "Der Dichter und die Meerschweinchen" kämpfte der Kritiker gegen die Leere des Londoner Exils und seinen bedrohlichen Doppelgänger
Die Lebensspur des Kritikers und Schriftstellers Alfred Kerr endet nicht mit dem Februar 1933, als er aus Deutschland fliehen mußte. Er ist auch nicht entlassen aus unserer Erinnerung. Er hat sich durch seine Arbeit und seine Person tiefer eingeprägt als der Geist der Zeit, der in ihm erschien. Seine Hinterlassenschaft beschäftigt uns noch immer.
Am 18. September 1948 diktierte er seiner Frau Julia einen Brief, der sich auf diese Hinterlassenschaft bezog. Er sorgte sich, was damit nach seinem Tod sein werde. An diesem Tag lag Alfred Kerr, der einmal einer der scharfen kritischen Köpfe in Berlin war, im englischen Militärhospital in Hamburg. Er war linksseitig gelähmt durch einen Schlaganfall, der ihn in der Stunde getroffen hatte, in der er zum erstenmal wieder in einem deutschen Theater saß: Hamburg, Besenbinderhof (wo das Deutsche Schauspielhaus Hamburg damals sein Quartier hatte), Vorstellung "Romeo und Julia". Manchem war es, als hätte die Heimsuchung dieses forcierten Geistes bis zu diesem Augenblick gewartet, anderen erschien es wie ein versöhnendes Zeichen, daß der Emigrant das Sterben auf deutschem Boden annahm. Eine Aussicht auf Besserung seines Zustandes gab es nicht.
Alfred Kerr war fast einundachtzig Jahre alt. Er hatte sich auf diesen Besuch gefreut, war zum erstenmal in seinem Leben geflogen; er hatte aus London einen Auftrag, Bericht über den Zustand des deutschen Theaters zu geben. Das war nun alles dahin. Er, der der realistischen Literatur in Deutschland ein Vorkämpfer gewesen war, blieb auch in diesen Vorstunden seines Todes ein Realist für sich selbst. Die Absprache galt: daß einer der Gatten dem anderen aus dem Leben hülfe, sollte dieses nicht mehr lebenswert sein. Der Brief zeigt die Vorbereitungen auf diesen Augenblick. In ihm steht folgender Satz: "Ob die Novelle (in der untersten Schublade der Kommode in meinem Zimmer) ,Der Dichter und die Meerschweinchen' in dieser unkorrigierten und fast unleserlichen Form erscheinen könnte, ist zweifelhaft, aber es wäre mir ein Herzensbedürfnis. Denn die Novelle enthält neue Gesichtspunkte, die aufrichtig verwegen sind." Der Brief ist eine letzte Willensbekundung. Das Wort "Herzensbedürfnis", das man in Kerrs großem, noch immer packendem öffentlichen Wortschatz nicht vermuten konnte, sagt, daß er an dieser "Novelle" hing, als enthielte sie eine letzte Botschaft. Und auf "neue Gesichtspunkte" war der Künftiges erspürende Kerr immer stolz. Der Text ist bisher unveröffentlicht.
Er ist merkwürdig, aufstörend und seltsam: wie sein Titel. Er erklärt sich aus Kerrs Sarkasmus und aus der Attitüde des Naturforschers, die er als Herausgeber dieses Texts annahm. Forscher suchen mit Hilfe von Versuchstieren (etwa: Meerschweinchen) nach Erkenntnissen über Wesen und Verhalten ihrer Objekte. Sie sind an allem nur beobachtend interessiert, wie jene innerhalb der Versuchsanordnung reagieren.
Ein Schriftsteller verhält sich zu seinen Figuren kaum anders. Balzac, vor allem Flaubert sind Zeugen. Auch Kerr nimmt solche Haltung ein. Sie war ihm nicht ungewohnt. Was macht ein Kritiker des Theaters anderes, als Figuren auf der Bühne zu beobachten, was sie sind, wie sie sich verhalten, was aus ihnen wird, ob sie sich bewähren oder verfehlen oder - auf den Schauspieler gewendet: ob der Text ihn ergreift, ob er seine Rolle erfaßt und sich mit ihr weiterentwickelt. Die Frage nach der Veränderbarkeit des Menschen hat ihn, Kerr, der mit jeder Zeile seiner Kritiken auf Menschen Einfluß nahm, sehr beschäftigt.
Das Schlimmste ist
das abenteuerlose Jetzt
Seit Kerr sich zu öffentlicher Arbeit, also zum kritischen Journalismus entschieden hatte, war er entschlossen, mit Hinweis und Argument zu Erkenntnis und Veränderung des Denkens und Handelns beizutragen. Er begann damit vorsichtig in der Kaiserzeit. Mit dem Beginn der Republik sah er sich bestätigt. Er glaubte an die Erneuerbarkeit des menschlichen Denkens und Verhaltens, entwickelte in der Weimarer Republik entsprechende linke Sympathien. Und sah sich, 1933, durch die Vorgänge in Deutschland abgeschnitten von allem: von seinem Berlin, seiner Arbeit, seinem Kampf gegen die "Rückwärtserei", wie er das Aufkommen der Hitlerschen Bewegung nannte, auch von jenem Wirkungsfeld, das nicht zuletzt die deutsche Sprache war. Mit der Besetzung Frankreichs durch die deutschen Truppen verlor er auch die Publikationsmöglichkeiten in französischen Blättern und deutschsprachigen Exilzeitungen ("Pariser Tageblatt"). So blieb ihm in London fast nur noch das Schreiben für sich selbst.
Seine Berichte (gesammelt unter dem Titel "Ich kam nach England") sind die lesenswerten Zeugnisse. Dann begann für ihn, der ein unermüdbarer, publikumsbezogener Schreiber war, die wahre "Ödnis des Exils". Es wuchs mit dem Verstummen die Einsamkeit. Nicht das Abenteuer der Flucht, nicht die Exiljahre in Paris waren ihm "das Schlimme". Er verbuchte sie als "Zuwachs an Erfahrung". "Das Schlimme ist . . . das Abenteuerlose Jetzt. Die Stauung." Nun war der Zweite Weltkrieg im Gange. Deutsche Flugzeuge warfen Bomben auf London. Der aus seiner Grunewald-Villa geflohene Kerr lebte mit seiner Familie in einer Pension in Bloomsbury, später in Putney in London. Er traf dort auf Flüchtlinge aus Europa. "Ein menschliches Wachsfigurenkabinett in London im Hotel. Erst alles das brachte jenes schmerzhafte Leersein - das schmerzhafter als Schmerz ist." Verhältnisse: ärmlich; Seelenlage: bedrückend; Hoffnung: endend.
Was er in jenem Brief seine "Novelle" nannte, ist das Produkt dieser Situation. Nie hatte Kerr (sieht man von seinen Erinnerungen an Rathenau ab) bisher größere Erzählzusammenhänge entwickelt. Seine Form war der kurze, überschaubare, noch im Beschreiben lustvoll analysierende Bericht: die "Quittung für Erlebtes". Er suchte Erlebnisse, um zu schreiben. Schreiben war Ausdruck seiner Lebensgier. Im Exil schrieb er, um noch zu leben. Und fiel nun, abenteuerlos, auf sich selbst zurück.
Der Sarkasmus, der Witz, die Heiterkeit, die er sich im Schreiben der "Novelle" zu erhalten suchte, verdecken nicht die Verzweiflung, die ihn heimsuchte. "Tragik und Spaß zu trennen ist Fälschung", schrieb er absichtsvoll als Motto über die Geschichte, die er selbst geschrieben hat und doch nicht geschrieben haben will. Warum diese Entrückung? - War er noch Kerr? In Berlin wußte er und wußte man, wer er war: "Kerr!" Wer war er jetzt? In London kannten ihn nur die Emigranten. Sie waren nicht alle seine Freunde. Der Schreiber, der jetzt über sich, seine Umwelt, sein Leben zu reflektieren begann, in dem Erinnerungen wach wurden, die nicht mehr vom Denken an den nächsten Zeitungstag unterdrückt wurden, war nicht mehr der seiner selbst sichere Kerr von Berlin. Er war ein anderer, obwohl er der gleiche war. Er drohte sich selbst unbekannt, krank zu werden im Geiste. So suchte und eroberte er sich einen Stoff, der ihm nahe war, ihn beanspruchte und doch in seiner dürftigen Lage auch die Zeit spiegelte. Spielend experimentierte er in seiner gegenwärtigen Situation, die er "Leben" kaum noch nennen wollte, mit Bruchstücken aus seiner vorigen. Im Londoner Leben des Alfred Kerr spiegelte er sein verlassenes in Berlin: ohne Larmoyanz, ohne Sentimentalität. Man wundert sich, daß er über große Strecken so fröhlich ist. Man spürt an seinem Text: Er belebte sich wieder beim Schreiben.
Die Geschichte beginnt mit jener Differenz: War er noch Kerr! Oder doch schon ein anderer? Sie beginnt mit der Spaltung der Person. Ihr Verfasser ist Kerr, der nicht verheimlichen kann, daß sein Lebensstoff hier verhandelt wird. Als Verfasser stellt er schon anfangs klar: "Dieses Buch enthält nicht meine Geschichte. Sondern die Geschichte des Dichters Clemens Teck." Kerr, heißt das, will Kerr bleiben, obwohl anderes in ihm vorgeht. Was es ist, zeigt die zweite Person: Clemens Teck, der schon im voraus unsicher fragt: "Bin ich krank? Ich glaube nicht. Höchstens bin ich vom Kriege etwas zermürbt." Teck ist Kerrs anderes Ich: ist der auf sich selbst verwiesene Dichter, der Spannung in die Ödnis bringen will, den es "juckt", etwas "geschehen zu machen, wenn man in der Kriegswelt schon untätig sein muß". Er hat eine Novelle neuer Art im Sinn, die nicht Abgelebtes erzählt, sondern in das Leben gleichgültiger Personen provozierend eingreift, um sie "aus ihrer Bedeutungslosigkeit aufzuscheuchen" und zu sehen, wie ihr Inneres antwortet. Der Schriftsteller definiert sich als Experimentator, die Menschen als Objekte seiner handelnden Neugier.
Im Boardinghouse mit seinen vierunddreißig schmalen Zimmern gibt es Personen genug, die sich für seine intendierten Versuche eignen. Eben: das "Wachsfigurenkabinett". Flüchtlinge aus Polen wohnen dort, aus der Tschechoslowakei, aus Holland, Österreich, "je nachdem Hitler ein neues Land beschützt hatte", und aus Deutschland. Wie der Mathematiker aus Chemnitz, ein norddeutscher Jurist, eine Rheinländerin oder Ulla Schröder aus Hamburg, die eine wunderbare Person ist. Die greift er sich zuerst. Sie erscheint ihm als die "innere Verkörperung waterkantischen Wesens". Er will sie provozieren und schiebt ihr was zu. In Kerr war immer ein Schwerenöter. Man lese in den "Berliner Briefen" seine Geschichte mit Anna, der Briefträgerstochter. Wenn er verliebt war, machte er Gedichte, "Liebesstrophen". Die Verse entsprangen schnell seiner Leidenschaft. Im unausgepackten Koffer im Keller des Boardinghouse war ein Holzkästchen, durch Zufall gerettet: Es enthielt die Liebeszeichen von einst. Die holte er herauf. Er, wer? Kerr oder Teck? Also Teck.
Kerr sagt, sein Teck war selbst gerührt beim Wiederlesen seiner Verse. Die schob er Ulla Schröder zu: hochdeutsche, niederdeutsche, um zu sehen, wie sie reagiert. Verse, die er zum Beispiel auf der Insel Pellworm gemacht hatte. Anno 1915: "Stilles Land. Der Leuchtturm guckt / Über Inseln weit und breit. / Häuslein schilfgedeckt, geduckt/ In Verlassenheit. / Mannsvolk snakt am Deich entlang, / Wenn die Ebbedörfer ruhn: / Piepgras, Thamling, Fuglsang / Karsten, Hinrichs, Thomson, Bruhn." Reagiert sie? Gelingt die Novelle? Ulla bleibt nüchtern "Gib deiner Frau ain' Kuß . . . Glaub man nich, daß ich dumm bin."
Die Novelle stößt auf Schwierigkeiten. Ulla kam für das Experiment nicht in Betracht. Doch Teck gibt nicht auf. Aber er spürt schon ein schlechtes Gefühl bei seinem "Menschenexperiment". Er betreibt es um der neuen literarischen Gattung, der "vivisektorischen Novelle", willen, in der sich "das Geschriebene mit dem Getanen" verbindet. Wird die Idee zur Manie? Teck warnt sich selbst: "Dieser Gedanke, Menschen irrezuführen, vielleicht größenwahnsinnig zu machen, dadurch zuletzt unglücklich (beides war mir gleich), dieser Gedanke . . . wächst zu einem sonderbaren Zwange . . . Fürchten könnt man sich." Und ist fasziniert vom nächsten Versuch.
Ein sudetendeutscher Schriftsteller drängt sich ihm auf. Er ist aus der Nähe von Aussig: Heinz Hermann Jahn. Ein Dramatiker mit Ambition, der in London aufgeführt werden will. Dem "beriehmten" Teck huldigt er. Teck spürt die Versuchung, was anderes aus ihm zu machen, ihn zu steigern, eine Tat an dem beflissenen Streber zu tun - wie einst Ibsen für Kerr: Klärung des Weges. Kerrs Schriften dazu stehen in Tecks Regal. Er liest sie zur Beruhigung. Kerr wartet auf Jahns Drama - und erfährt, daß die britische Polizei einen Hochstapler und Betrüger abgeholt hat. Ein mißlungenes Experiment abermals? Teck ahnt danach, ihm drohe "irgend etwas". Betreibt er eine Fiktion? Er steht vor sich wie ein Fremder, beginnt sich selbst zu beobachten. Teck spürt, daß er in Lelia, seiner Frau - die er liebt wie Kerr seine Julia - einen Halt hat, die ihn ernüchtert, ihn zur Vernunft ruft: "Dein früherer Lebenshunger ist ja nichts im Vergleich mit dieser Sucht, ja Sucht - mit dieser Gier nach Bestätigung am menschlichen Versuchstier . . . Was ist es anders? Und was ist all das?!"
Lelia-Julia: Der Umgang mit der Doppelfrau wird für Teck-Kerr ein großes Ausruhen, ein Sich-Erinnern an vergangene Tage. An Gemeinsamkeiten, an ein Glück, das durch das Exil beeinträchtigt, aber nicht zerbrochen ist. In dieser Geschichte vom Ausbruch und Fortschreiten einer Wahnvorstellung, die der Lebensleere entspringt, sind die Szenen um Lelia und die Kinder, denen Hitler das rosa Kaninchen stahl, wie große Liebesinseln, wie Beschwörungen von Halt und Seligkeit; sie sind durchseelt von Gedichten.
Die größte dieser Lelia-Huldigungen wirkt wie eine Bitte, nicht zu zürnen, wenn ihn, Clemens Teck, die Erinnerung weiter fortträgt zu einer jungen Frau, die seine erste große Liebe war, lange vor Lelia-Julias Zeit. Die Erinnerung an Gemma, das Mädchen aus Südtirol, steht in ihm wieder auf. Ein Unfall hat sie dahingerafft, als der Erste Weltkrieg ausbrach (oder war der Fön in der Badewanne doch ein Selbstmord?). Er trifft eine Luxemburgerin, Emma Winckler, die ihn an Gemma erinnert. Und schon wird das Experiment neu angefacht. "Alles in mir schrie: - ,Gemma . . .!'" - als könne er in dieser kühlen Frau die Gemma von einst wiedererwecken. Er schickt der Luxemburgerin die Gedichte, die er Gemma schrieb. Sie bleibt taub. Aber die Vergangenheit steht auf, und so, wie Kerr seine Geschichte mit Gemma erzählt, geziert mit immer neuen, aus dem Vergessen geholten Gedichten, lesen wir eine der schönsten Liebesgeschichten, die denen Tucholskys nahe rückt. Sie beleuchtet (in der Teckschen Verfremdung) mehr als ein Stück Kerrscher Liebesvergangenheit. Sie erzählt von seiner Liebesbereitschaft, seiner eigenen Verwandlung durch die junge Frau, durch die bleibende und zukunftsbeherrschende Kraft vergangenen Erlebens. "Dein Ich, Gemma, hat mich nie verlassen." Beglückt und erschüttert, erfährt er, daß sie nach dem Tod noch mit ihm lebt "in aller jungen, ewigen Schönheit". Er sieht an den Gedichten, die er hervorkramt, daß vom Leben nichts bleibt als die Kunst.
Das Experiment, jemandem
den Kopf zu verdrehen
Kerr, der Liebhaber junger Frauen, weiß, daß man Frauen verführen kann durch Verse, durch Witz und Humor. Für seine Novelle versucht es Clemens Teck noch einmal mit Gedichten, die einer anderen galten. Die Neugier auf das Ergebnis mischt sich mit seinen Skrupeln. Für das Experiment muß man jemandem den Kopf verdrehen. Er begreift, daß er Unstatthaftes tut; daß "der Mensch manchmal ein Schwein ist", weil er mit Täuschung arbeitet, um seine Ziele zu erreichen. Aber noch zieht er sich aus der Verlegenheit mit der Ausrede, er sei ein Schriftsteller, der seine "Erlösung aus der Untätigkeit" sucht, der weiß, "wozu es einem ganz gegen, gegen, gegen den eigenen Willen lockt".
Die Ausrede hält nicht, auch wenn das trügerische Experiment sich der Schreibnot des Exils verdankt. Teck spürt das Dilemma: "Verse kommen heilig in die Welt - und gehen unheilig heraus." Es ist der Mißbrauch, der ihn wahnsinnig macht, weil er seinem Projekt der Novelle hörig geworden ist. "Welche Gruppe fortgeschrittener Ärzte kommt für mich in Betracht?" Fortgeschritten wohl deswegen, weil seine Krankheit neuartiger Natur ist, der Exilwahnsinn. Einer fixen Idee nachlaufen, die aus der Schreibnot erlösen soll und die Not vergrößert. Der Arzt rät ihm, alles niederzuschreiben, was er bei seinem Versuch erfahren hat. Tecks Fazit: "Kein Meerschweinchen erlag mir. Die Novelle der Zukunft wird nicht geschrieben." Ein Projekt ist gescheitert. Möglich ist nur die Novelle der Novelle, als Bericht des Scheiterns.
Teck zieht Bilanz: Was trieb ihn? Die Sehnsucht nach einem "nicht mehr zu Erhoffenden"? Die Sehnsucht nach seinem "vormals unberechnet quellenden Leben" und der Abscheu vor dem, was zu erwarten ist? Vor der fortschreitenden Tristesse des Exils. War es der Traum von einst "in dem gegenwärtigen tödlichen Aschermittwoch"? Teck packt der Schauder der Vergänglichkeit, des kommenden Abschieds. Es ist der kritische Punkt. Da trifft Teck vor dem Britischen Museum in London Alfred Kerr, den immer Vergnügten, Fordernden. "Wir sahen einander an. Mit einem Blick wie: Was nun? Das Ende?" Und Kerr sagt: "Nicht absatteln. Mit dem Megaphon die furchtbare Zeit anraunzen. Nichts aufgeben. Nicht in den Wahn flüchten."
Wie oft muß der Schreiber dieser verzweifelten Zeilen sich selbst das gesagt haben, was er seinem anderen Ich hier auf den Weg gibt. Er fand in sich wohl einen Teck, der in den Wahn floh, in eine Sucht, mit dem Experiment an anderen das eigene, vergangene Leben zurückzuholen. Klar sagt Kerr hier zu Teck: "Sie selber sind das schiechste aller Meerschweinchen." Er läßt Teck stehen mit den Worten "Sie . . . Sie . . .". Und meint damit: Du, du selbst bist es. Betrachte, was mit dir geschieht.
Und die Reflexion auf sich selbst beginnt. In der vorangestellten "Bitte des Dichters" hatte Teck schon gesagt: "Ich komme gegen meinen Willen dazu, mich zu beobachten - und merke dann einiges, das ich früher nicht gemerkt habe." "Ich suche mich nicht zu entschuldigen. Ich will vielmehr aufdecken, was vorliegt. Auch gegen mich vorliegt." Der Punkt ist erreicht.
Was wie eine Erzählung, wie der Bericht eines anderen Schriftstellers namens Teck aussah, erscheint nun als Untersuchung in eigener Sache. War Tecks früheres Tun ganz ohne Verdienst? Er rechnet sich zu, immer "ein ehrlicher Enthüller gewesen zu sein. Ein ehrlich Empfindender und Sagender." Soweit das kritische Unterscheiden in öffentlich interessierenden Dingen war, sagt er: "Und das ist ein Wert." Er sagt aber auch, daß er sich "mit alledem Haß, Argwohn, Nachteil, Feindschaft geschaffen" hat. Das sei vielleicht "eine Sühne". - "Buße" und "Sühne", die Worte erscheinen plötzlich in diesem Text, als wolle Kerr die Feindschaften und Verkümmerungen im Exil verstehen als Ausgleich für Verletzungen aus anderen seiner früheren Arbeiten. Er weiß: "Die Welt ist keinem dankbar, der sich zum eigenen Schaden entblößt." Man wird ihm das Bekenntnis verargen, ihn wohl auch beschimpfen. "Ich weiß jedoch, daß in diesem Verargtwerden eine selbstauferlegte Buße liegt." Man liest diese Sätze Kerrs, als wären sie für die Nachwelt geschrieben, die sich seiner erinnert.
Kerrs Teck gibt die Novelle auf, die eine Suche nach Neuland war. Was bleibt? Deutsche Bomben auf das Nachbarhaus, das Dach, das verwüstend in sein Zimmer stürzt, falsche Diagnosen zu einer unnötigen Krebsoperation. Und am Ende aller Niederschriften und dazwischengeschobenen Tagebucheintragungen die Angstvision von der schlimmsten aller Begegnungen; daß er in der fortschreitenden Verwirrung den Sohn nicht mehr erkennt, der vor ihm steht, in der Uniform der Royal Air Force, die Nacht für Nacht die Angriffe auf Deutschland fliegt. Dieses Deutschland, von dem er nicht loskommt, das immer wieder in seinen Gedanken auftaucht; das sein Leben war, ein Leben, von dem nichts blieb als die Gegenwart Lelias und die das Elend durchsonnenden Kinder.
Aufbäumen gegen
das Vergessen
In dem Versuch, Neuland zu finden mit der neuartigen Novelle, ist noch einmal wiederholt worden, was immer Kerrs Ziel war: Menschen zu ergreifen, zu beeinflussen, weiterzubringen. Schon als er begann, Kritiken zu schreiben, reflektierte er über das Verfahren des Kritikers: "Man betrachtet Dichter, wie ein Dichter Menschen betrachtet . . . Gewiß zeigt der Kritikus, wie sie ,sind'. Doch er zeigt in einem, wie er vor ihnen ist. Er macht was aus ihnen . . . Tretet darum alle ein in das Werk des Rezensenten, wie in ein Irrenhaus - wie in ein Menschenhaus. Seht die Menschen des Kritikers: Seht sie ihre künstlichen Menschlein schaffen. Seht die Verzerrung, seht die geschwellte Blödheit, seht den versuchten Betrug, seht das bleiche Unterliegen, seht die Glücklichen, die Schöpfer . . . Seht!"
Das war im Jahr 1902 und steht am Ende einer Auseinandersetzung mit dem Dramatiker Sudermann. Im Mißerfolg Tecks spiegelt sich die Enttäuschung über den geringen Erfolg seiner Bemühungen als Kritiker in den Berliner Jahren, nun verschärft, weil "alles Handeln gegen die Untat eines Landes erfolglos war". Aber er hebt auch die Menschenfreundlichkeit seiner Versuche gegenüber den Menschenversuchen und -verführungen in Hitlers Deutschland hervor. "Menschenversuche" ist das Kennwort in diesem Text. Klar heißt es: "Ich tue minder Irres als meine Zeitgenossen. Sie verführen die Menschen nicht zu sich selbst, sondern in einen Wahn. Machen sie zu Meerschweinchen ihrer Ideologie."
Dem Ende der "Novelle" fügt Kerr noch ein Nachwort hinzu. Abermals aus Tecks Papieren, als sei Teck nach den niedergeschriebenen Erfahrungen mit sich und den anderen zu neuer Klarheit und Entschiedenheit gekommen. Teck spricht davon, daß man Feind bleiben muß allem Chaotischen, Rauschhaften, allem "Dionysischen". Es sei "niederzuschlagen, wo man es trifft. Niederschlagen! Niederschlagen! Denn dies ist der empfehlbare Weg aller kommenden Entwicklung." Das ist der letzte Satz Tecks. Und der letzte von Kerr. Wie sagte er in seinem letzten Brief? Die Novelle sei ihm ein "Herzensbedürfnis".
Der Text wurde verschlossen, zuunterst in die Kommode gelegt. Das Manuskript zeigt an den verschiedenen Schriftzügen die lange, immer wieder neu ansetzende, verbessernde, ergänzende, fast ins "Unleserliche" führende Arbeit. Vermutlich entstand sie in den Jahren 1942 bis 1946. Nach Kerrs Tod war das Manuskript wohl nur für seine Frau Julia, die Lelia des Textes, lesbar. Sie, die 1947 nach Deutschland ging als Dolmetscherin zu den Nürnberger Prozessen, hat wohl auch für eine überlieferbare Abschrift gesorgt. Ihre wenigen Korrekturen im Typoskript zeigen, daß sie alles noch einmal überprüfte. 244 Seiten insgesamt. Ein Vermächtnis innerhalb dessen, was wir die Literatur des deutschen Exils nennen, ist Kerrs "Novelle" ein eigenwilliges Dokument. Es öffnet Einblicke in die Psychologie des Exils, in Kerrs eigene Biographie wie ins politische Feld. Und sie zeigt den seiner Sprache, seiner Heiterkeit, seiner Erinnerungen noch immer mächtigen Kerr im Kampf gegen das Verstummen, den Selbstverlust in der Reflexion über sich, sein Alter und seine Zukunft - auf eine neue dichterische Weise.
Die "Novelle", die eher ein Roman ist, verweist auf Kerrs Herkunft aus der Romantik. Es ist formal alles beisammen, was der Student Kerr in seinen Romantik-Studien (speziell zu Clemens Brentano, aber auch zu Jean Paul) in Berlin in sich aufnahm. Der Autor gibt sich als Herausgeber fremder Papiere, er behandelt eine Ich-Spaltung, führt vor einen Doppelgänger, mischt beider Erfahrungen, behandelt das Irrewerden und die Folgen des Schreibens, die Angst vor dem Wahnsinn, wechselt Erzähltext mit Tagebuchblättern, Prosa mit Gedichten, Vergangenheit und Gegenwart, Heiterkeit und Erschrecken, Witz und Verzweiflung, Überlegung und Schaudern. Der Autor erscheint selbst an der kritischen Stelle im Text, fügt den Namen seines Doppelgängers zusammen aus dem des verehrten Clemens Brentano und des oft schaurigen Ludwig Tieck. Er schreibt eine Novelle über das Scheitern einer Novelle und gibt ihr gerade dadurch ihren Inhalt. Ein Rezensent betrachtet und rezensiert sich selbst. "Warum betreibt man das Verfassen von Rezensionen? Um des Rezensenten willen", heißt es im Sudermann-Text von 1902. So ist alles durchzogen von jener romantischen Ironie, die mit ernsten, gefährlichen Dingen auf überlegene Weise umgeht, poetisch bleibt, wo sie das Gefährdende und Schreckliche meint, und dabei selbst die neue Form gewinnt, die ihr inhaltlich im versuchten "Experiment" abhanden kommt. Es ist ein anderer Kerr, als wir ihn kennen. Und ist doch, in Sprache, in Anmutung, auch der uns Vertraute: der Lebensüberlegene in der Betrübnis.
Kerrs Fabel handelt nicht nur von Exil und Berlin, sondern auch von der stachelnden und zehrenden Macht der Zeit. Was er damit als poetische Nachricht hinterließ, ist zu eindringlich, zu aufschlußreich, zu gut, als daß es - unverstanden - weiter im Archiv verkümmert und selbst von Exilforschern mißkannt wird. Ein forcierter Geist, der sich ins Jahrhundert einschrieb, spielte schmerzend zum letzten Mal mit dem, was sein Leben war, also mit sich selbst.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Für Rezensentin Sandra Kerschbaumer spiegelt diese einzige, erstmals veröffentlichte Erzählung des legendären Berliner Theaterkritikers den "Behauptungswillen" des Autors wider, seine durch die Lebensumstände des Exils begründete Angst vor der Sprachlosigkeit. In diesem Erzähltext, der um die Aufhebung der Kluft zwischen Kunst und Leben kreise, diagnostiziert die Rezensentin eine "freie Mischung der Gattungen" Lyrik, Erzählung und Tagebucheintragung. Dadurch kommt es auch immer wieder zu einem abrupten Tonfallwechsel, stellt sie fest: Schwermut wird von Komik abgelöst. In den knappen Sätzen mit ihren Wortspielen findet die Rezensentin auch Kerrs "brüchigen Subjektivismus" wieder, der schon seine Theaterkritiken auszeichne.
© Perlentaucher Medien GmbH
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