DIE STUNDE NULL FAND NICHT STATT - BENJAMIN LAHUSENS GLÄNZENDE DARSTELLUNG DER DEUTSCHEN JUSTIZ VOR UND NACH 1945
Kaum beirrt von Bombenkrieg, Kapitulation und alliierter Besatzung liefen Gerichtsverfahren vor und nach 1945 einfach weiter, mit denselben Akteuren, nach den gleichen Regeln. Der Rechtshistoriker Benjamin Lahusen deckt in seiner fulminanten Studie unheimliche Kontinuitäten der deutschen Justiz auf und zeichnet so das eindringliche Bild einer Gesellschaft, die den großen Einschnitt so klein wie möglich hielt.
Stuttgart, im September 1944: Das Justizgebäude wird durch neun Sprengbomben und zahlreiche Brandbomben weitgehend zerstört, doch stolz meldet der Generalstaatsanwalt, dass bereits am nächsten Morgen «noch in den Rauchschwaden... eine Reihe von Strafverhandlungen durchgeführt» wurden. Auch andernorts wird der Dienstbetrieb in teils noch brennenden Gebäuden aufrechterhalten, später selbst unter Artilleriebeschuss. Benjamin Lahusen hat sich die Akten zahlreicher Gerichte - darunter des Amtsgerichts Auschwitz - aus den Jahren vor und nach 1945 angesehen und beschreibt höchst anschaulich, wie weder «Endkampf» noch staatlicher Zusammenbruch den juristischen Dienstbetrieb unterbrechen konnten. Er erklärt, warum ein Stillstand der Rechtspflege unter allen Umständen vermieden werden sollte, und zeigt, wie nach dem Krieg altgediente Juristen pflichtbewusst das alltägliche Recht des Dritten Reichs so weiterführten, als wäre nichts passiert. Wenn es noch eines Beweises dafür bedarf, dass es 1945 keine «Stunde Null» gab, dann liegt er mit diesem glänzend geschriebenen Buch vor.
Überraschend: Neue Erkenntnisse zur deutschen Justiz vor und nach 1945 Fundiert: Auf der Grundlage bisher vernachlässigter Gerichtsakten - auch aus dem Amtsgericht Auschwitz Kurzweilig: Der Autor versteht es meisterhaft, die Quellen zum Sprechen zu bringen
Kaum beirrt von Bombenkrieg, Kapitulation und alliierter Besatzung liefen Gerichtsverfahren vor und nach 1945 einfach weiter, mit denselben Akteuren, nach den gleichen Regeln. Der Rechtshistoriker Benjamin Lahusen deckt in seiner fulminanten Studie unheimliche Kontinuitäten der deutschen Justiz auf und zeichnet so das eindringliche Bild einer Gesellschaft, die den großen Einschnitt so klein wie möglich hielt.
Stuttgart, im September 1944: Das Justizgebäude wird durch neun Sprengbomben und zahlreiche Brandbomben weitgehend zerstört, doch stolz meldet der Generalstaatsanwalt, dass bereits am nächsten Morgen «noch in den Rauchschwaden... eine Reihe von Strafverhandlungen durchgeführt» wurden. Auch andernorts wird der Dienstbetrieb in teils noch brennenden Gebäuden aufrechterhalten, später selbst unter Artilleriebeschuss. Benjamin Lahusen hat sich die Akten zahlreicher Gerichte - darunter des Amtsgerichts Auschwitz - aus den Jahren vor und nach 1945 angesehen und beschreibt höchst anschaulich, wie weder «Endkampf» noch staatlicher Zusammenbruch den juristischen Dienstbetrieb unterbrechen konnten. Er erklärt, warum ein Stillstand der Rechtspflege unter allen Umständen vermieden werden sollte, und zeigt, wie nach dem Krieg altgediente Juristen pflichtbewusst das alltägliche Recht des Dritten Reichs so weiterführten, als wäre nichts passiert. Wenn es noch eines Beweises dafür bedarf, dass es 1945 keine «Stunde Null» gab, dann liegt er mit diesem glänzend geschriebenen Buch vor.
Überraschend: Neue Erkenntnisse zur deutschen Justiz vor und nach 1945 Fundiert: Auf der Grundlage bisher vernachlässigter Gerichtsakten - auch aus dem Amtsgericht Auschwitz Kurzweilig: Der Autor versteht es meisterhaft, die Quellen zum Sprechen zu bringen
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Knud von Harbou feiert die Arbeit von Benjamin Lahusen als Rechercheleistung, die dem Leser einen nie gesehenen Einblick in den banalen Alltag der Gerichtsbarkeit in Deutschland zwischen 1943 und 1948 vermittelt. Plastisch wird das Weiterfunktionieren der Justiz an Beispielen dargestellt, meint Harbou. Manches, was der Autor collagenartig darstellt, Standgerichte, Gerichtsakten, die gegen Mäusefraß von den Zimmerdecken baumeln, Grundbucheinträge für Auschwitz etc., lässt dem Rezensenten die Haar zu Berge stehen. Ein starkes, wenig beachtetes Stück Zeitgeschichte, von Lahusen stilistisch eingängig dargebracht, freut sich Harbou.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.09.2022Ewiges Räderwerk
des Rechts
Benjamin Lahusens brillante Studie über die Justiz
beim Übergang vom NS-Staat zur Demokratie
VON KNUD VON HARBOU
Als ob es die zwölf Jahre Diktatur und den Zweiten Weltkrieg nicht gegeben hätte, entfaltete sich nach dem Zusammenbruch scheinbar unbeirrt das deutsche Recht. In der Lücke zwischen Altem und Neuem: ein Nichts. Man tat sich schwer mit einer Definition, schnell bürgerte sich der Begriff einer ominösen „Stunde null“ im Sprachwortschatz ein. Ein genaueres Fragen nach diesem rätselhaften Zustand unterblieb, so auch die Beschäftigung der Juristen mit dem Fachbegriff „Justitium“. Gemeint war der Stillstand der Rechtspflege, „ius stat“.
Mit der Kapitulation des Deutschen Reichs war auch die Justiz formal an ihr Ende gelangt. Der Begriff Justitium taucht bei Livius 366 vor Christus auf, später im Kirchenrecht des Corpus Iuris Canonici des 12. Jahrhunderts. Doch was passierte real mit dem Rechtsstillstand 1945? Die Alliierten lösten alle Gerichte auf, die Entnazifizierung sollte den Dienstbetrieb notdürftig gewährleisten, es gab kein Papier, man beschrieb die Rückseite alter Dokumente, löschte alle NS-Embleme, ein Zeitzeuge wähnte sich in der Fiktion des Fortbestehens geordneter Justiz. Doch was tun mit anhängigen Klagen, Fristen, Beweisaufnahmen, einem geordneten Rechtsweg, wenn die Akten vernichtet waren, Gerichte nicht mehr existierten, allein alte NS-Gesetze Grundlage waren, das pure Chaos herrschte? Der Nationalsozialismus, so der Rechtsgeschichtler Benjamin Lahusen, wurde einfach „ins Reich der allgemeinen Geschichte entlassen“.
Genau hier setzt die Studie an. Es geht nicht darum, was uns vom NS trennt, sondern um das, was wir mit ihm teilen. Klammer ist eine „geteilte Normalität“. Das führt Lahusen zu dem bislang unbeachteten Quellenkonvolut der Akten der ordentlichen Gerichtsbarkeit, deren Gegenstand etwa zivilrechtliche Streitigkeiten zwischen mehreren Privatpersonen sind. Sie geben überraschend plastisch Einsicht in das Funktionieren der Justiz zu Kriegsende und beim Wiederaufbau, mit der Folge, dass wir distanzlos Zeugen einer zeithistorischen Normalität werden. Zugleich rückt in dieser Betrachtungsweise der NS in allen Facetten nahe, schließlich wurden ja auch für Konzentrations- und Vernichtungslager wie Auschwitz Grundbücher angelegt (aber nie beachtet).
Gewissermaßen als Verstärker dieser exzeptionellen Situation zwischen Kriegsende und nahem Frieden erweist sich die Auswertung der papiergewordenen Normalität des Rechtsstillstands. Vollkommen unzensiert treten in den Gerichtsakten die Protagonisten dieser Zeit vor uns: fanatische Nationalsozialisten, blindgläubige Hoffnungsträger, Kleinkriminelle, Familienopfer, Juristen, die voller Stolz berichteten, dass nach Luftangriffen „noch in den Rauchschwaden . . . in den wenigen noch verfügbaren, erheblich beschädigten Räumen eine Reihe von Strafverhandlungen durchgeführt“ wurden. Für eine wissenschaftliche Arbeit ungewöhnlich ist das Verfahren der Montage. Lahusen lässt aus den erhaltenen Quellenbeständen verschiedener Gerichte ein prototypisches Städtchen mit kleinem Amtsgericht entstehen, eine gelungen Collage, bei der nichts verfälscht wurde, alle Fälle haben sich in der Realität so zugetragen.
Überdies erweist sich seine Auswertung der penibel angelegten Grundbuchakten der besetzten Ostterritorien mit dem besonderen Aspekt des KZ Auschwitz als ergiebig für das Verstehen der Abläufe des untersuchten Zeitraums. Doch genauso behält er den instabilen Zustand im Westen des Reichs im Auge, von einer organisierten Justizverwaltung kann keine Rede mehr sein. Alles ist ein Provisorium, mal werden zwei Zimmer als „Gerichtssitz“ requiriert, mal findet sich kein Personal mehr, mal ist alles ausgebombt. Gleichwohl werden in Scheingerichtsverfahren unvermindert drakonische Urteile gefällt, deren Ablage sofort wieder ein Problem ergibt. So pendelt eine Art Pseudojustiz zwischen alten Rechtsgrundlagen, alliierten Rechtsbestimmungen, eigenmächtigen Richtern, Zufällen, in total verwüsteten Städten hin und her. Die Verwaltungsabteilung des OLG Stettin etwa wurde zum Jahreswechsel 1943/44 auf sieben Ausweichorte in einem Umkreis von 200 Kilometer verteilt.
Die Tendenz, die Realität zu verdrängen, breitete sich als „toxisches Gebräu aus bürokratischem Größenwahn, ideologischem Übereifer und Angst“ aus. Ausdruck davon waren schier irrwitzige Einlassungen. Noch Anfang Februar 1945 gab das OLG Breslau bekannt, dass „die Lage im Bezirk als wesentlich entspannt“ angesehen werden könne. Um zu retten, was noch zu retten war, wurden ad hoc Sondergerichte gebildet, die direkt vor Ort aburteilen konnten. Über die Institutionen regierte, wie Lahusen schreibt, „nun der Zufall“. Nur ein halbes Jahr später räumte die Deutsche Rechts-Zeitschrift ein, „es gibt nichts, was einfach fortgesetzt werden könnte“. Doch den einen Moment, in dem alle Gerichte gleichzeitig stillgestanden hätten, gab es nicht. Stolz wurde berichtet, „der Dienstbetrieb ist keine Minute unterbrochen worden“. Irgendwo arbeitete immer ein Gericht, wenn auch unter unbeschreiblichen Umständen, „manchmal noch immer und manchmal schon wieder“.
Die neuen alliierten Gerichtsherren ließen schon in der ersten Anweisung für künftige Richter keine Zweifel an der Verpflichtung von Demokratie, Gerechtigkeit und Gesetzlichkeit. Sie selbst praktizierten „maximale Kontrolle bei minimaler Einmischung“. Eher am Rande taucht in der Studie die Besetzung der Planstellen auf. Anders als in der sowjetisch besetzten Zone sah die Justizverwaltung im Westen mehr als 80 Prozent ehemaliger NSDAP-Mitglieder als unverzichtbar für den Wiederaufbau an. Was Wunder, dass entsprechend der immensen Zahl der vom Dritten Reich hinterlassenen Rechtsakte keiner kraft Gesetzes erledigt wurde. Das passt zu dem Bild, dass Gerichtsakten zuweilen an die Decke gehängt wurden, um sie dort vor Mäusefraß in Sicherheit zu bringen. Ziel blieb ein stabiler Rechtsfrieden.
War vor dem 9. Mai 1945 der Krieg Bezugspunkt allen staatlichen Handelns gewesen, so war es jetzt der Frieden. Wie aus dem Nichts gekommen, bestimmte er überdies das Justitium. Keiner wusste, was tun war, es galt „das im Kriege geschaffenen Notrecht . . . durch Normalvorschriften zu ersetzen“. Viele Rechtsvorgänge stammten aus einer anderen Zeit, Akten waren verschollen, involvierte Parteien unauffindbar, auch fehlte ein Interesse an einer Weiterführung. Jedoch dokumentieren sie einen diachronen Rechtstransfer, mit dem die Normalität des Dritten Reichs in die Normalität der BRD überführt wurde. Der Raum des Justitiums „ist kein rechtsfreies Rudiment, sondern ganz im Gegenteil der Moment der größten normativen Verdichtung“, so der Autor.
Mit diesem Ansatz, ein bislang kaum beachtetes Stück Zeitgeschichte aufzuarbeiten, verdichtet Benjamin Lahusen die „Spuren der deutschen Seele“, ohne sie zu psychologisieren. Man liest diese Studie mit großem Gewinn, nicht nur dank ihrer hervorragenden Stilistik. Nur selten erhält man anhand rein faktischer Begebenheiten weitgehend unbeachteter Quellen eine bessere Innenansicht dieser unvorstellbar chaotischen Zeit zu Kriegsende. Insofern ist das Justitium alles andere als ein Stillstand, schon gar keine „Stunde null“.
Keine „Stunde null“,
aber ein Moment größter
normativer Verdichtung
Der Untergang der Diktatur
bewirkte keinen Stillstand
des Rechts – zu keinem Zeitpunkt
Benjamin Lahusen:
„Der Dienstbetrieb ist nicht gestört“. Die Deutschen und ihre Justiz 1943-1948. Verlag C.H. Beck, München 2022. 384 Seiten, 34 Euro.
Der Führer und „sein“ Recht: Reichsrechtsführer Hans Frank 1936 bei einer Gedenkrede für die beim Hitlerputsch gestorbenen NS-Anhänger vor dem Kammergericht am Berliner Kleistpark.
Foto: Scherl/SZ Photo
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
des Rechts
Benjamin Lahusens brillante Studie über die Justiz
beim Übergang vom NS-Staat zur Demokratie
VON KNUD VON HARBOU
Als ob es die zwölf Jahre Diktatur und den Zweiten Weltkrieg nicht gegeben hätte, entfaltete sich nach dem Zusammenbruch scheinbar unbeirrt das deutsche Recht. In der Lücke zwischen Altem und Neuem: ein Nichts. Man tat sich schwer mit einer Definition, schnell bürgerte sich der Begriff einer ominösen „Stunde null“ im Sprachwortschatz ein. Ein genaueres Fragen nach diesem rätselhaften Zustand unterblieb, so auch die Beschäftigung der Juristen mit dem Fachbegriff „Justitium“. Gemeint war der Stillstand der Rechtspflege, „ius stat“.
Mit der Kapitulation des Deutschen Reichs war auch die Justiz formal an ihr Ende gelangt. Der Begriff Justitium taucht bei Livius 366 vor Christus auf, später im Kirchenrecht des Corpus Iuris Canonici des 12. Jahrhunderts. Doch was passierte real mit dem Rechtsstillstand 1945? Die Alliierten lösten alle Gerichte auf, die Entnazifizierung sollte den Dienstbetrieb notdürftig gewährleisten, es gab kein Papier, man beschrieb die Rückseite alter Dokumente, löschte alle NS-Embleme, ein Zeitzeuge wähnte sich in der Fiktion des Fortbestehens geordneter Justiz. Doch was tun mit anhängigen Klagen, Fristen, Beweisaufnahmen, einem geordneten Rechtsweg, wenn die Akten vernichtet waren, Gerichte nicht mehr existierten, allein alte NS-Gesetze Grundlage waren, das pure Chaos herrschte? Der Nationalsozialismus, so der Rechtsgeschichtler Benjamin Lahusen, wurde einfach „ins Reich der allgemeinen Geschichte entlassen“.
Genau hier setzt die Studie an. Es geht nicht darum, was uns vom NS trennt, sondern um das, was wir mit ihm teilen. Klammer ist eine „geteilte Normalität“. Das führt Lahusen zu dem bislang unbeachteten Quellenkonvolut der Akten der ordentlichen Gerichtsbarkeit, deren Gegenstand etwa zivilrechtliche Streitigkeiten zwischen mehreren Privatpersonen sind. Sie geben überraschend plastisch Einsicht in das Funktionieren der Justiz zu Kriegsende und beim Wiederaufbau, mit der Folge, dass wir distanzlos Zeugen einer zeithistorischen Normalität werden. Zugleich rückt in dieser Betrachtungsweise der NS in allen Facetten nahe, schließlich wurden ja auch für Konzentrations- und Vernichtungslager wie Auschwitz Grundbücher angelegt (aber nie beachtet).
Gewissermaßen als Verstärker dieser exzeptionellen Situation zwischen Kriegsende und nahem Frieden erweist sich die Auswertung der papiergewordenen Normalität des Rechtsstillstands. Vollkommen unzensiert treten in den Gerichtsakten die Protagonisten dieser Zeit vor uns: fanatische Nationalsozialisten, blindgläubige Hoffnungsträger, Kleinkriminelle, Familienopfer, Juristen, die voller Stolz berichteten, dass nach Luftangriffen „noch in den Rauchschwaden . . . in den wenigen noch verfügbaren, erheblich beschädigten Räumen eine Reihe von Strafverhandlungen durchgeführt“ wurden. Für eine wissenschaftliche Arbeit ungewöhnlich ist das Verfahren der Montage. Lahusen lässt aus den erhaltenen Quellenbeständen verschiedener Gerichte ein prototypisches Städtchen mit kleinem Amtsgericht entstehen, eine gelungen Collage, bei der nichts verfälscht wurde, alle Fälle haben sich in der Realität so zugetragen.
Überdies erweist sich seine Auswertung der penibel angelegten Grundbuchakten der besetzten Ostterritorien mit dem besonderen Aspekt des KZ Auschwitz als ergiebig für das Verstehen der Abläufe des untersuchten Zeitraums. Doch genauso behält er den instabilen Zustand im Westen des Reichs im Auge, von einer organisierten Justizverwaltung kann keine Rede mehr sein. Alles ist ein Provisorium, mal werden zwei Zimmer als „Gerichtssitz“ requiriert, mal findet sich kein Personal mehr, mal ist alles ausgebombt. Gleichwohl werden in Scheingerichtsverfahren unvermindert drakonische Urteile gefällt, deren Ablage sofort wieder ein Problem ergibt. So pendelt eine Art Pseudojustiz zwischen alten Rechtsgrundlagen, alliierten Rechtsbestimmungen, eigenmächtigen Richtern, Zufällen, in total verwüsteten Städten hin und her. Die Verwaltungsabteilung des OLG Stettin etwa wurde zum Jahreswechsel 1943/44 auf sieben Ausweichorte in einem Umkreis von 200 Kilometer verteilt.
Die Tendenz, die Realität zu verdrängen, breitete sich als „toxisches Gebräu aus bürokratischem Größenwahn, ideologischem Übereifer und Angst“ aus. Ausdruck davon waren schier irrwitzige Einlassungen. Noch Anfang Februar 1945 gab das OLG Breslau bekannt, dass „die Lage im Bezirk als wesentlich entspannt“ angesehen werden könne. Um zu retten, was noch zu retten war, wurden ad hoc Sondergerichte gebildet, die direkt vor Ort aburteilen konnten. Über die Institutionen regierte, wie Lahusen schreibt, „nun der Zufall“. Nur ein halbes Jahr später räumte die Deutsche Rechts-Zeitschrift ein, „es gibt nichts, was einfach fortgesetzt werden könnte“. Doch den einen Moment, in dem alle Gerichte gleichzeitig stillgestanden hätten, gab es nicht. Stolz wurde berichtet, „der Dienstbetrieb ist keine Minute unterbrochen worden“. Irgendwo arbeitete immer ein Gericht, wenn auch unter unbeschreiblichen Umständen, „manchmal noch immer und manchmal schon wieder“.
Die neuen alliierten Gerichtsherren ließen schon in der ersten Anweisung für künftige Richter keine Zweifel an der Verpflichtung von Demokratie, Gerechtigkeit und Gesetzlichkeit. Sie selbst praktizierten „maximale Kontrolle bei minimaler Einmischung“. Eher am Rande taucht in der Studie die Besetzung der Planstellen auf. Anders als in der sowjetisch besetzten Zone sah die Justizverwaltung im Westen mehr als 80 Prozent ehemaliger NSDAP-Mitglieder als unverzichtbar für den Wiederaufbau an. Was Wunder, dass entsprechend der immensen Zahl der vom Dritten Reich hinterlassenen Rechtsakte keiner kraft Gesetzes erledigt wurde. Das passt zu dem Bild, dass Gerichtsakten zuweilen an die Decke gehängt wurden, um sie dort vor Mäusefraß in Sicherheit zu bringen. Ziel blieb ein stabiler Rechtsfrieden.
War vor dem 9. Mai 1945 der Krieg Bezugspunkt allen staatlichen Handelns gewesen, so war es jetzt der Frieden. Wie aus dem Nichts gekommen, bestimmte er überdies das Justitium. Keiner wusste, was tun war, es galt „das im Kriege geschaffenen Notrecht . . . durch Normalvorschriften zu ersetzen“. Viele Rechtsvorgänge stammten aus einer anderen Zeit, Akten waren verschollen, involvierte Parteien unauffindbar, auch fehlte ein Interesse an einer Weiterführung. Jedoch dokumentieren sie einen diachronen Rechtstransfer, mit dem die Normalität des Dritten Reichs in die Normalität der BRD überführt wurde. Der Raum des Justitiums „ist kein rechtsfreies Rudiment, sondern ganz im Gegenteil der Moment der größten normativen Verdichtung“, so der Autor.
Mit diesem Ansatz, ein bislang kaum beachtetes Stück Zeitgeschichte aufzuarbeiten, verdichtet Benjamin Lahusen die „Spuren der deutschen Seele“, ohne sie zu psychologisieren. Man liest diese Studie mit großem Gewinn, nicht nur dank ihrer hervorragenden Stilistik. Nur selten erhält man anhand rein faktischer Begebenheiten weitgehend unbeachteter Quellen eine bessere Innenansicht dieser unvorstellbar chaotischen Zeit zu Kriegsende. Insofern ist das Justitium alles andere als ein Stillstand, schon gar keine „Stunde null“.
Keine „Stunde null“,
aber ein Moment größter
normativer Verdichtung
Der Untergang der Diktatur
bewirkte keinen Stillstand
des Rechts – zu keinem Zeitpunkt
Benjamin Lahusen:
„Der Dienstbetrieb ist nicht gestört“. Die Deutschen und ihre Justiz 1943-1948. Verlag C.H. Beck, München 2022. 384 Seiten, 34 Euro.
Der Führer und „sein“ Recht: Reichsrechtsführer Hans Frank 1936 bei einer Gedenkrede für die beim Hitlerputsch gestorbenen NS-Anhänger vor dem Kammergericht am Berliner Kleistpark.
Foto: Scherl/SZ Photo
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Die stilistisch brillante Arbeit zeigt einmal mehr überdeutlich: Es gab keine 'Stunde null'." Süddeutsche Zeitung, Bücher des Monats
"Deutsche Gerichtsverfahren vor und nach 1945 einfach weiter, mit denselben Akteuren, nach den gleichen Regeln. Der Rechtshistoriker Benjamin Lahusen erklärt, warum und wie."
WELT WDR 5 NZZ ORF-Bestenliste September 2022, Platz 1
"Ein furioses Meisterwerk, inhaltlich beeindruckend und sprachlich brillant."
Heribert Prantl
"Lahusens Exkursionen durch das vermeintliche Nirwana der Rechtspflege sind ertragreich, kurzweilig, anregend, in einem Wort: sehr lesenswert."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Daniel Damler
"Nützlicher Spielverderber des Rechtssystems."
Süddeutsche Zeitung
"Spannend und elegant geschrieben"
Der Freitag, Erhard Schütz
"Brillante Studie ... Lahusen lässt aus den erhaltenen Quellenbeständen verschiedener Gerichte ein prototypisches Städtchen mit kleinem Amtsgericht entstehen, eine gelungen Collage, bei der nichts verfälscht wurde"
Süddeutsche Zeitung, Knud von Harbou
"Bietet den Leser:innen eine Fülle von Fakten, anhand derer sie sich anschaulich ein Bild über den Rechtsalltag jener Zeit machen können ... eine spannende, kurzweilige Lektüre, die Juristen anregen kann, auch über das eigene Berufsbild nachzudenken"
Legal Tribune
"Benjamin Lahusen ist schon länger für seine spitze Feder bekannt. Ein detailreiches Mosaik, das Buch zeigt wie sehr die 'Normalität' aus Illusionen bestand."
General Anzeiger, Hermann Horstkotte
"Eine unbedingte Leseempfehlung" Juristische Arbeitsblätter, Christian Wolf
"Zeigt anhand bislang unausgewerteter Quellen, wie sich die deutsche Justiz vor und nach dem Ende des NS-Staats verhielt. ... Die stilistisch brillante Arbeit zeigt einmal mehr überdeutlich: Es gab keine 'Stunde null'."
Süddeutsche Zeitung Die wichtigsten Bücher des Jahres, Robert Probst
"Deutsche Gerichtsverfahren vor und nach 1945 einfach weiter, mit denselben Akteuren, nach den gleichen Regeln. Der Rechtshistoriker Benjamin Lahusen erklärt, warum und wie."
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"Ein furioses Meisterwerk, inhaltlich beeindruckend und sprachlich brillant."
Heribert Prantl
"Lahusens Exkursionen durch das vermeintliche Nirwana der Rechtspflege sind ertragreich, kurzweilig, anregend, in einem Wort: sehr lesenswert."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Daniel Damler
"Nützlicher Spielverderber des Rechtssystems."
Süddeutsche Zeitung
"Spannend und elegant geschrieben"
Der Freitag, Erhard Schütz
"Brillante Studie ... Lahusen lässt aus den erhaltenen Quellenbeständen verschiedener Gerichte ein prototypisches Städtchen mit kleinem Amtsgericht entstehen, eine gelungen Collage, bei der nichts verfälscht wurde"
Süddeutsche Zeitung, Knud von Harbou
"Bietet den Leser:innen eine Fülle von Fakten, anhand derer sie sich anschaulich ein Bild über den Rechtsalltag jener Zeit machen können ... eine spannende, kurzweilige Lektüre, die Juristen anregen kann, auch über das eigene Berufsbild nachzudenken"
Legal Tribune
"Benjamin Lahusen ist schon länger für seine spitze Feder bekannt. Ein detailreiches Mosaik, das Buch zeigt wie sehr die 'Normalität' aus Illusionen bestand."
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"Eine unbedingte Leseempfehlung" Juristische Arbeitsblätter, Christian Wolf
"Zeigt anhand bislang unausgewerteter Quellen, wie sich die deutsche Justiz vor und nach dem Ende des NS-Staats verhielt. ... Die stilistisch brillante Arbeit zeigt einmal mehr überdeutlich: Es gab keine 'Stunde null'."
Süddeutsche Zeitung Die wichtigsten Bücher des Jahres, Robert Probst